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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die Deportationsfrage vor dem deutschen Juristentage in Posen

wirklich einmal unser Kolonialgebiet für diese Zwecke nicht mehr ausreichen,
so können wir ja diesen Zeitpunkt ohne Beunruhigung abwarten. Von vorn¬
herein aber auf Grund dieser entfernten Möglichkeit überhaupt auf die Seg¬
nungen Verzicht zu leisten, die ohne Zweifel aus der Deportation für Ver¬
brecher und Vaterland erwachsen, wäre nicht ein Zeichen politischer Weisheit.
Bei der Kolonisirung von Neusüdwales durch Verbrecher beging die englische
Negierung den großen Fehler, die Niederlassung freier Ansiedler im Bezirk der
Strafkolonien nicht nur zuzulassen, sondern sogar in jeder Weise zu begünstigen.
Dadurch wurde der Keim für die spätere Unzufriedenheit dieses neu hinzu¬
tretender Elements mit der gleichzeitigen Verwendung dieses Gebiets als
Strafkolonie gelegt. Der Gouverneur Macquarie hatte dies richtig erkannt,
aber leider drang seine Ansicht bei der englischen Negierung nicht durch, und
der seit dem Jahre 1822 sich ergießende Strom freier Einwanderer ver¬
nichtete den ursprünglichen Charakter der Kolonie."

Thatsache aber bleibt, daß sich die Deportation nach Australien als Straf¬
mittel vorzüglich bewährt, und daß England aus diesem Strafmittel den gro߬
artigsten Nutzen gezogen hat. Nicht Mißerfolge, wie die Geguer dieses Straf¬
mittels die Leute überreden wollen, die die thatsächlichen Verhältnisse nicht
kennen, haben England bestimmt, Australien als Strafkolonie aufzugeben,
sondern einzig und allein der Widerstand der freien Einwandrer gegen die
Zufuhr von Verbrechern.

In Beziehung auf die französischen Strafkolonien erklärte Leueille auf
dem fünften Internationalen Gefängniskougreß im Jahre 1895, daß man sich
in der Wahl der Verwaltungsmaßregeln allerdings oft vergriffen habe. So
sei die Deportation politischer Verbrecher, die zur Arbeit nicht verpflichtet
wären, unhaltbar gewesen; denn mit Müßiggängern könne man nicht kolonisiren.
Dasselbe gelte von einer großen Zahl der nach dem Nezidivistengesetz vom
Jahre 1885 nach den Kolonien verschickten Sträflinge, die schon durch die
lange Haft zur Arbeit in der Kolonie unbrauchbar geworden wären. Man sei
oft in der Disziplin zu lässig verfahren und habe dadurch der Deportation
ihren Charakter als Strafe genommen usw. Alle diese Fehler seien anerkannt
und durch eine Reihe von Reglements der Verwaltung abgestellt worden.

Endlich wies der damalige Chef der russischen Gefängnisvcrwaltung,
Gattin Wrasfky, darauf hin, "daß die Heranziehung der Mißerfolge in Sibirien
für den Wert oder Unwert der Deportation nicht die geringste Bedeutung
habe, da es sich hier nur um planloses Abschieben einer ungemessenen Zahl
von Verbrechern der verschiedensten Art handle; ans Mangel an jeder Orga¬
nisation der Arbeit könne von einer erfolgreichen Kolonisation nicht die Rede
sein, und es sei ganz erklärlich, daß, in der Folge diese Überschwemmung
Sibiriens mit dem Abschaum der Verbrecherbevölkerung des europäischen Nut>
lands zu einer Plage des Landes geworden sei. Dagegen sei der in Rußland


Die Deportationsfrage vor dem deutschen Juristentage in Posen

wirklich einmal unser Kolonialgebiet für diese Zwecke nicht mehr ausreichen,
so können wir ja diesen Zeitpunkt ohne Beunruhigung abwarten. Von vorn¬
herein aber auf Grund dieser entfernten Möglichkeit überhaupt auf die Seg¬
nungen Verzicht zu leisten, die ohne Zweifel aus der Deportation für Ver¬
brecher und Vaterland erwachsen, wäre nicht ein Zeichen politischer Weisheit.
Bei der Kolonisirung von Neusüdwales durch Verbrecher beging die englische
Negierung den großen Fehler, die Niederlassung freier Ansiedler im Bezirk der
Strafkolonien nicht nur zuzulassen, sondern sogar in jeder Weise zu begünstigen.
Dadurch wurde der Keim für die spätere Unzufriedenheit dieses neu hinzu¬
tretender Elements mit der gleichzeitigen Verwendung dieses Gebiets als
Strafkolonie gelegt. Der Gouverneur Macquarie hatte dies richtig erkannt,
aber leider drang seine Ansicht bei der englischen Negierung nicht durch, und
der seit dem Jahre 1822 sich ergießende Strom freier Einwanderer ver¬
nichtete den ursprünglichen Charakter der Kolonie."

Thatsache aber bleibt, daß sich die Deportation nach Australien als Straf¬
mittel vorzüglich bewährt, und daß England aus diesem Strafmittel den gro߬
artigsten Nutzen gezogen hat. Nicht Mißerfolge, wie die Geguer dieses Straf¬
mittels die Leute überreden wollen, die die thatsächlichen Verhältnisse nicht
kennen, haben England bestimmt, Australien als Strafkolonie aufzugeben,
sondern einzig und allein der Widerstand der freien Einwandrer gegen die
Zufuhr von Verbrechern.

In Beziehung auf die französischen Strafkolonien erklärte Leueille auf
dem fünften Internationalen Gefängniskougreß im Jahre 1895, daß man sich
in der Wahl der Verwaltungsmaßregeln allerdings oft vergriffen habe. So
sei die Deportation politischer Verbrecher, die zur Arbeit nicht verpflichtet
wären, unhaltbar gewesen; denn mit Müßiggängern könne man nicht kolonisiren.
Dasselbe gelte von einer großen Zahl der nach dem Nezidivistengesetz vom
Jahre 1885 nach den Kolonien verschickten Sträflinge, die schon durch die
lange Haft zur Arbeit in der Kolonie unbrauchbar geworden wären. Man sei
oft in der Disziplin zu lässig verfahren und habe dadurch der Deportation
ihren Charakter als Strafe genommen usw. Alle diese Fehler seien anerkannt
und durch eine Reihe von Reglements der Verwaltung abgestellt worden.

Endlich wies der damalige Chef der russischen Gefängnisvcrwaltung,
Gattin Wrasfky, darauf hin, „daß die Heranziehung der Mißerfolge in Sibirien
für den Wert oder Unwert der Deportation nicht die geringste Bedeutung
habe, da es sich hier nur um planloses Abschieben einer ungemessenen Zahl
von Verbrechern der verschiedensten Art handle; ans Mangel an jeder Orga¬
nisation der Arbeit könne von einer erfolgreichen Kolonisation nicht die Rede
sein, und es sei ganz erklärlich, daß, in der Folge diese Überschwemmung
Sibiriens mit dem Abschaum der Verbrecherbevölkerung des europäischen Nut>
lands zu einer Plage des Landes geworden sei. Dagegen sei der in Rußland


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[0515] Die Deportationsfrage vor dem deutschen Juristentage in Posen wirklich einmal unser Kolonialgebiet für diese Zwecke nicht mehr ausreichen, so können wir ja diesen Zeitpunkt ohne Beunruhigung abwarten. Von vorn¬ herein aber auf Grund dieser entfernten Möglichkeit überhaupt auf die Seg¬ nungen Verzicht zu leisten, die ohne Zweifel aus der Deportation für Ver¬ brecher und Vaterland erwachsen, wäre nicht ein Zeichen politischer Weisheit. Bei der Kolonisirung von Neusüdwales durch Verbrecher beging die englische Negierung den großen Fehler, die Niederlassung freier Ansiedler im Bezirk der Strafkolonien nicht nur zuzulassen, sondern sogar in jeder Weise zu begünstigen. Dadurch wurde der Keim für die spätere Unzufriedenheit dieses neu hinzu¬ tretender Elements mit der gleichzeitigen Verwendung dieses Gebiets als Strafkolonie gelegt. Der Gouverneur Macquarie hatte dies richtig erkannt, aber leider drang seine Ansicht bei der englischen Negierung nicht durch, und der seit dem Jahre 1822 sich ergießende Strom freier Einwanderer ver¬ nichtete den ursprünglichen Charakter der Kolonie." Thatsache aber bleibt, daß sich die Deportation nach Australien als Straf¬ mittel vorzüglich bewährt, und daß England aus diesem Strafmittel den gro߬ artigsten Nutzen gezogen hat. Nicht Mißerfolge, wie die Geguer dieses Straf¬ mittels die Leute überreden wollen, die die thatsächlichen Verhältnisse nicht kennen, haben England bestimmt, Australien als Strafkolonie aufzugeben, sondern einzig und allein der Widerstand der freien Einwandrer gegen die Zufuhr von Verbrechern. In Beziehung auf die französischen Strafkolonien erklärte Leueille auf dem fünften Internationalen Gefängniskougreß im Jahre 1895, daß man sich in der Wahl der Verwaltungsmaßregeln allerdings oft vergriffen habe. So sei die Deportation politischer Verbrecher, die zur Arbeit nicht verpflichtet wären, unhaltbar gewesen; denn mit Müßiggängern könne man nicht kolonisiren. Dasselbe gelte von einer großen Zahl der nach dem Nezidivistengesetz vom Jahre 1885 nach den Kolonien verschickten Sträflinge, die schon durch die lange Haft zur Arbeit in der Kolonie unbrauchbar geworden wären. Man sei oft in der Disziplin zu lässig verfahren und habe dadurch der Deportation ihren Charakter als Strafe genommen usw. Alle diese Fehler seien anerkannt und durch eine Reihe von Reglements der Verwaltung abgestellt worden. Endlich wies der damalige Chef der russischen Gefängnisvcrwaltung, Gattin Wrasfky, darauf hin, „daß die Heranziehung der Mißerfolge in Sibirien für den Wert oder Unwert der Deportation nicht die geringste Bedeutung habe, da es sich hier nur um planloses Abschieben einer ungemessenen Zahl von Verbrechern der verschiedensten Art handle; ans Mangel an jeder Orga¬ nisation der Arbeit könne von einer erfolgreichen Kolonisation nicht die Rede sein, und es sei ganz erklärlich, daß, in der Folge diese Überschwemmung Sibiriens mit dem Abschaum der Verbrecherbevölkerung des europäischen Nut> lands zu einer Plage des Landes geworden sei. Dagegen sei der in Rußland

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/515>, abgerufen am 24.07.2024.