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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Spuren im Schnee

rischcn Art die Welt zu sehen war ein Schönheitssinn, dessen überwältigende
Macht sich nicht bloß gegen den Beschauer richtet, vor ihr löst sich das Reich
des Häßlichen in wesenlosen Schein auf. Das Eros- und Aphrvditethema
war oaher sein fideilommissarischer Besitz, und seine beispiellose Popularität
dankt er fast ausschließlich seinen Eros- und Aphroditegcstalten. Wie sehr er
darob in alten und in neuen Tagen gepriesen und verlästert ward, es ist ihm
von beiden Seiten gleich schweres Unrecht geschehen. Ein Künstler ohne sinn¬
liche Begabung ist undenkbar, ein solcher mit ausschließlicher kein Künstler.
Unser Meister hat sie in hohem Grade besessen und war Heitere genug, um
darüber hellenisch zu denken. . . . Man hat sich allmählich gewöhnt, Praxiteles
kurzweg als den Entdecker des Rechts der Sinnlichkeit in der Kunst zu be¬
trachten und darnach sein Verhältnis zu ihm zu gestalten. Richtig ist der
gerade Gegensatz, er war der Entdecker des geistigen Elements in der helle¬
nischen Kunst. Man braucht sich nur an das allgebräuchliche Schlagwort
"praxitelische Stirnbildung" zu erinnern, um ihm gerecht zu werden. Unab¬
lässig hat er dem geistigen Prinzip seine Huldigung dargebracht; daß es nur
vom sinnlichen Boden erreicht werden konnte, war nicht seine Schuld. Aber
seine persönliche That war die Offenbarung dieses Zusammenhangs wie dessen
unentwegte Betonung. Der Traumzauber, in Hypnos und Melde von ihm
verkörpert, der alle praxitelischcn Gestalten umfließt, erweckt wohl in Aphrodite,
in Eros, im Satyr die Liebessehnsucht, reift aber im dichtenden Apoll, der
sinnenden Athene, dem sorgenschweren Asklepios seine geistigen Früchte. . . .
Im Reich der Ideale, in dem seine Gedanken weilten, herrschten damals die
Götter. Und doch, welch eigentümlicher Götterbildner! Seine Götter sind
ebenso menschlich, als seine Menschen göttlich waren. Auch im Verhältnis zum
Glauben blieb er vor allem Künstler, sein Sauroktouos und seine Diana von
Gabii verraten uns sogar einen recht heidnischen Künstler. Und doch fand
sein Aphroditekopf Eintritt in das Madonneuideal der christlichen Kunst (durch
Guido Reni), und sein Asklepios erinnert uns an das Haupt, das uns das
H A, R, eil gebracht hat."




Spuren im Schnee
Sophus Bauditz Sine Miuternovelle von Mathilde Mann Autorisirte Übersetzung von (Fortsetzung"
3

in Vormittag sollte er fahrplanmäßig bei der ländlichen Station an¬
langen, die Midskov zunächst gelegen war, aber das war nicht der
Fall, jede halbe Stunde blieb der Zug stecken, sodaß er ausgeschaufelt
werden mußte, und es dauerte bis zum Nachmittag, ehe er an seinein
Bestimmungsort angelangt war.

Er bestellte sogleich einen Wagen nach Midskov -- es war noch
eine gute Meile bis dahin --, aber ein Wagen könne nicht durchkommen, wurde


Spuren im Schnee

rischcn Art die Welt zu sehen war ein Schönheitssinn, dessen überwältigende
Macht sich nicht bloß gegen den Beschauer richtet, vor ihr löst sich das Reich
des Häßlichen in wesenlosen Schein auf. Das Eros- und Aphrvditethema
war oaher sein fideilommissarischer Besitz, und seine beispiellose Popularität
dankt er fast ausschließlich seinen Eros- und Aphroditegcstalten. Wie sehr er
darob in alten und in neuen Tagen gepriesen und verlästert ward, es ist ihm
von beiden Seiten gleich schweres Unrecht geschehen. Ein Künstler ohne sinn¬
liche Begabung ist undenkbar, ein solcher mit ausschließlicher kein Künstler.
Unser Meister hat sie in hohem Grade besessen und war Heitere genug, um
darüber hellenisch zu denken. . . . Man hat sich allmählich gewöhnt, Praxiteles
kurzweg als den Entdecker des Rechts der Sinnlichkeit in der Kunst zu be¬
trachten und darnach sein Verhältnis zu ihm zu gestalten. Richtig ist der
gerade Gegensatz, er war der Entdecker des geistigen Elements in der helle¬
nischen Kunst. Man braucht sich nur an das allgebräuchliche Schlagwort
»praxitelische Stirnbildung« zu erinnern, um ihm gerecht zu werden. Unab¬
lässig hat er dem geistigen Prinzip seine Huldigung dargebracht; daß es nur
vom sinnlichen Boden erreicht werden konnte, war nicht seine Schuld. Aber
seine persönliche That war die Offenbarung dieses Zusammenhangs wie dessen
unentwegte Betonung. Der Traumzauber, in Hypnos und Melde von ihm
verkörpert, der alle praxitelischcn Gestalten umfließt, erweckt wohl in Aphrodite,
in Eros, im Satyr die Liebessehnsucht, reift aber im dichtenden Apoll, der
sinnenden Athene, dem sorgenschweren Asklepios seine geistigen Früchte. . . .
Im Reich der Ideale, in dem seine Gedanken weilten, herrschten damals die
Götter. Und doch, welch eigentümlicher Götterbildner! Seine Götter sind
ebenso menschlich, als seine Menschen göttlich waren. Auch im Verhältnis zum
Glauben blieb er vor allem Künstler, sein Sauroktouos und seine Diana von
Gabii verraten uns sogar einen recht heidnischen Künstler. Und doch fand
sein Aphroditekopf Eintritt in das Madonneuideal der christlichen Kunst (durch
Guido Reni), und sein Asklepios erinnert uns an das Haupt, das uns das
H A, R, eil gebracht hat."




Spuren im Schnee
Sophus Bauditz Sine Miuternovelle von Mathilde Mann Autorisirte Übersetzung von (Fortsetzung»
3

in Vormittag sollte er fahrplanmäßig bei der ländlichen Station an¬
langen, die Midskov zunächst gelegen war, aber das war nicht der
Fall, jede halbe Stunde blieb der Zug stecken, sodaß er ausgeschaufelt
werden mußte, und es dauerte bis zum Nachmittag, ehe er an seinein
Bestimmungsort angelangt war.

Er bestellte sogleich einen Wagen nach Midskov — es war noch
eine gute Meile bis dahin —, aber ein Wagen könne nicht durchkommen, wurde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/497>, abgerufen am 12.12.2024.