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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Nordische Novellen

des Touristen; man muß unter den Leuten gelebt haben. Björnsons Er¬
zählungen haben alle gar nicht übermäßig viel äußere Schilderung, der Schau-
Platz fügt sich aus kleinen Zügen allmählich zum Naturbilde zusammen, wir
werden immer sofort in die menschlichen Interessen hineingeführt, die den
Gegenstand einer solchen Geschichte ausmachen. Im ganzen sind es sieben
kleinere und sechs große, vollständig ausgeführte. Welche siud wohl die
schönsten? Ich denke, zuerst "Arne," der Sohn seiner Mutter, der stille,
grübelnde, geheimnisvolle, der ganz zuletzt erst Bräutigam wird. Dann
"Synnöve Solbakken," die Erbtochter vom Sonnenhof, wo alle Frucht eher
reift und besser wird, als bei andern Leuten. Bis sie ihres Jugendgespielen
Frau wird, dauert es lange, und wie es dazu kommen muß, ist recht eigent¬
lich das Thema dieser Erzählung, es hat aber seine Schwierigkeiten, denn die
gesellschaftlichen Verhältnisse stehen nicht ganz gleich. Außerdem regiert auf
dem Sonnenhof die Mutter, im Hause des jungen Mannes hat der Vater das
Heft in der Hand, und dieser Gegensatz giebt dem Spiele Reiz. Endlich "Ein
fröhlicher Bursch," der ebenfalls zu einer höher gestellten Kameradin seiner
Kinderzeit hinaufsieht und in seinem Ringen um den Preis von dem alten
Schulmeister unterstützt wird. Hier ist die Charakterbildung des jungen
Mannes einzig schön geschildert; er sollte lernen, "den Maßstab für seine
Zukunft von bessern Dingen als von Ehre und Trotz abzuleiten." Hie und
da künden sich schon die sozialen Veränderungen der neuen Zeit an, eine Er¬
zählung: "Die Eisenbahn und der Kirchhof" handelt ganz davon. Einmal
-- "Das Fischermädchen" -- spielt auch etwas Frauenfrage mit herein. Aber
im ganzen ist die Welt noch friedlich, und wer seine Last empfindet, weiß eben,
daß er sie zu tragen hat. Mit welchen Empfindungen mag Björnson an diese
schönen Unterhaltungen zurückdenken, die die Leute hier mit ihren Pfarrern
führen, z. B. Armes Mutter, die, weil sie ihren Sohn in der Heimat zurück¬
halten möchte, einige Täuschungen begangen hat und nun den Fall mit ihrem
Seelsorger bespricht, der sie zum Geständnis der Wahrheit bewegen möchte,
während es ihr immer noch mehr um den Erfolg ihrer Unwahrheit zu thun
ist. Beim Propst im "Fischermädchen" tritt nach der Sonntagspredigt eine
ganze Familiengenossenschaft an; ihr ist der alte Herr nicht strenggläubig genug,
er soll versprechen, sein Klavier abschaffen zu wollen; nun spricht er mit ihnen
über den Nutzen weltlicher Litteratur und den Wert "erdichteter" Geschichten
für das menschliche Gemüt. Das macht dann Eindruck. Eine Frau sagt:
.^es habe einmal eine Geschichte gelesen, die mir über einen schweren Kummer
soweit hinweg half, daß das, was mir lange so schwer gewesen war, mir
fortan zur Frende gereichte." Ein Mann entgegnet, daß aber doch das Märchen
vom Aschenbrödel keinem zu Troste gereichen könne, und der Propst muß nun
von der "Macht des Ergötzlichen" sprechen. Es dauert noch lauge, bis er
alle ihre Bedenken beschwichtigt hat und sie entlassen kann. -- Anders spricht


Nordische Novellen

des Touristen; man muß unter den Leuten gelebt haben. Björnsons Er¬
zählungen haben alle gar nicht übermäßig viel äußere Schilderung, der Schau-
Platz fügt sich aus kleinen Zügen allmählich zum Naturbilde zusammen, wir
werden immer sofort in die menschlichen Interessen hineingeführt, die den
Gegenstand einer solchen Geschichte ausmachen. Im ganzen sind es sieben
kleinere und sechs große, vollständig ausgeführte. Welche siud wohl die
schönsten? Ich denke, zuerst „Arne," der Sohn seiner Mutter, der stille,
grübelnde, geheimnisvolle, der ganz zuletzt erst Bräutigam wird. Dann
„Synnöve Solbakken," die Erbtochter vom Sonnenhof, wo alle Frucht eher
reift und besser wird, als bei andern Leuten. Bis sie ihres Jugendgespielen
Frau wird, dauert es lange, und wie es dazu kommen muß, ist recht eigent¬
lich das Thema dieser Erzählung, es hat aber seine Schwierigkeiten, denn die
gesellschaftlichen Verhältnisse stehen nicht ganz gleich. Außerdem regiert auf
dem Sonnenhof die Mutter, im Hause des jungen Mannes hat der Vater das
Heft in der Hand, und dieser Gegensatz giebt dem Spiele Reiz. Endlich „Ein
fröhlicher Bursch," der ebenfalls zu einer höher gestellten Kameradin seiner
Kinderzeit hinaufsieht und in seinem Ringen um den Preis von dem alten
Schulmeister unterstützt wird. Hier ist die Charakterbildung des jungen
Mannes einzig schön geschildert; er sollte lernen, „den Maßstab für seine
Zukunft von bessern Dingen als von Ehre und Trotz abzuleiten." Hie und
da künden sich schon die sozialen Veränderungen der neuen Zeit an, eine Er¬
zählung: „Die Eisenbahn und der Kirchhof" handelt ganz davon. Einmal
— „Das Fischermädchen" — spielt auch etwas Frauenfrage mit herein. Aber
im ganzen ist die Welt noch friedlich, und wer seine Last empfindet, weiß eben,
daß er sie zu tragen hat. Mit welchen Empfindungen mag Björnson an diese
schönen Unterhaltungen zurückdenken, die die Leute hier mit ihren Pfarrern
führen, z. B. Armes Mutter, die, weil sie ihren Sohn in der Heimat zurück¬
halten möchte, einige Täuschungen begangen hat und nun den Fall mit ihrem
Seelsorger bespricht, der sie zum Geständnis der Wahrheit bewegen möchte,
während es ihr immer noch mehr um den Erfolg ihrer Unwahrheit zu thun
ist. Beim Propst im „Fischermädchen" tritt nach der Sonntagspredigt eine
ganze Familiengenossenschaft an; ihr ist der alte Herr nicht strenggläubig genug,
er soll versprechen, sein Klavier abschaffen zu wollen; nun spricht er mit ihnen
über den Nutzen weltlicher Litteratur und den Wert „erdichteter" Geschichten
für das menschliche Gemüt. Das macht dann Eindruck. Eine Frau sagt:
.^es habe einmal eine Geschichte gelesen, die mir über einen schweren Kummer
soweit hinweg half, daß das, was mir lange so schwer gewesen war, mir
fortan zur Frende gereichte." Ein Mann entgegnet, daß aber doch das Märchen
vom Aschenbrödel keinem zu Troste gereichen könne, und der Propst muß nun
von der „Macht des Ergötzlichen" sprechen. Es dauert noch lauge, bis er
alle ihre Bedenken beschwichtigt hat und sie entlassen kann. — Anders spricht


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[0490] Nordische Novellen des Touristen; man muß unter den Leuten gelebt haben. Björnsons Er¬ zählungen haben alle gar nicht übermäßig viel äußere Schilderung, der Schau- Platz fügt sich aus kleinen Zügen allmählich zum Naturbilde zusammen, wir werden immer sofort in die menschlichen Interessen hineingeführt, die den Gegenstand einer solchen Geschichte ausmachen. Im ganzen sind es sieben kleinere und sechs große, vollständig ausgeführte. Welche siud wohl die schönsten? Ich denke, zuerst „Arne," der Sohn seiner Mutter, der stille, grübelnde, geheimnisvolle, der ganz zuletzt erst Bräutigam wird. Dann „Synnöve Solbakken," die Erbtochter vom Sonnenhof, wo alle Frucht eher reift und besser wird, als bei andern Leuten. Bis sie ihres Jugendgespielen Frau wird, dauert es lange, und wie es dazu kommen muß, ist recht eigent¬ lich das Thema dieser Erzählung, es hat aber seine Schwierigkeiten, denn die gesellschaftlichen Verhältnisse stehen nicht ganz gleich. Außerdem regiert auf dem Sonnenhof die Mutter, im Hause des jungen Mannes hat der Vater das Heft in der Hand, und dieser Gegensatz giebt dem Spiele Reiz. Endlich „Ein fröhlicher Bursch," der ebenfalls zu einer höher gestellten Kameradin seiner Kinderzeit hinaufsieht und in seinem Ringen um den Preis von dem alten Schulmeister unterstützt wird. Hier ist die Charakterbildung des jungen Mannes einzig schön geschildert; er sollte lernen, „den Maßstab für seine Zukunft von bessern Dingen als von Ehre und Trotz abzuleiten." Hie und da künden sich schon die sozialen Veränderungen der neuen Zeit an, eine Er¬ zählung: „Die Eisenbahn und der Kirchhof" handelt ganz davon. Einmal — „Das Fischermädchen" — spielt auch etwas Frauenfrage mit herein. Aber im ganzen ist die Welt noch friedlich, und wer seine Last empfindet, weiß eben, daß er sie zu tragen hat. Mit welchen Empfindungen mag Björnson an diese schönen Unterhaltungen zurückdenken, die die Leute hier mit ihren Pfarrern führen, z. B. Armes Mutter, die, weil sie ihren Sohn in der Heimat zurück¬ halten möchte, einige Täuschungen begangen hat und nun den Fall mit ihrem Seelsorger bespricht, der sie zum Geständnis der Wahrheit bewegen möchte, während es ihr immer noch mehr um den Erfolg ihrer Unwahrheit zu thun ist. Beim Propst im „Fischermädchen" tritt nach der Sonntagspredigt eine ganze Familiengenossenschaft an; ihr ist der alte Herr nicht strenggläubig genug, er soll versprechen, sein Klavier abschaffen zu wollen; nun spricht er mit ihnen über den Nutzen weltlicher Litteratur und den Wert „erdichteter" Geschichten für das menschliche Gemüt. Das macht dann Eindruck. Eine Frau sagt: .^es habe einmal eine Geschichte gelesen, die mir über einen schweren Kummer soweit hinweg half, daß das, was mir lange so schwer gewesen war, mir fortan zur Frende gereichte." Ein Mann entgegnet, daß aber doch das Märchen vom Aschenbrödel keinem zu Troste gereichen könne, und der Propst muß nun von der „Macht des Ergötzlichen" sprechen. Es dauert noch lauge, bis er alle ihre Bedenken beschwichtigt hat und sie entlassen kann. — Anders spricht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/490>, abgerufen am 24.07.2024.