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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Nordische Novellen

lung bei etlichen Anlässen darzustellen sür gut gefunden hat. -- In eine andre
Umgebung führen uns Die Leute vom Felsenmoor. Arme Fischersleute
in der Nähe der Stadt Bergen kämpfen vergeblich gegen die Not eines kümmer¬
lichen, halbtierischen Lebens, kosten alles Elend ihres jammervollen Daseins
aus, bis Mann und Frau im Alter als Trunkenbolde in die Stadt übersiedeln,
sich dem Gassenpöbel zum Gespött und ihren eignen, inzwischen herangewachsenen
Kindern zur Schande herumtreiben, während sich diese nunmehr verheirateten
Kinder unter einander zanken und ärgern. Wenn so etwas vorkommen kann,
hat jemand Freude daran, das als Dichtung vorgeführt zu bekommen? Ein
gesunder, recht sympathischer Enkel rettet die Ehre der Familie, er geht zu
Schiff, verrichtet Wunder der Entschlossenheit, bewährt sich auf einer Reise in
die Tropen in Sturm und Schiffbruch und giebt der Verfasserin Gelegenheit
zu geradezu brillanten Schilderungen des Seelebens. Aber als sich das Schiff,
auf der Heimreise begriffen, gerade der Heimat nähert, und man begierig
ist zu erfahren, wie nun dieses kräftige junge Leben eingreifen wird in das
Schicksal der zu Hause gebliebner Familie, wie es vielleicht die versumpfte
Gesellschaft vom Felsenmoor verjüngen und läutern mag (was für ein glück¬
liches Motiv wäre das gewesen!), gerade da bricht die Geschichte ab, unbe¬
friedigend und ergebnislos. Zu einer wirklichen Komposition fehlte der Er¬
zählerin aller dieser einzelnen Szenen also doch die Kraft! Dafür unterhält
sie uns in diesem ganzen zweiten Teil, den Erlebnissen des Schiffsjungen, mit
den allerbedenklichsten Dingen in einer so cynischen Ausführlichkeit, wie ich
kaum je ähnliches gelesen habe; Zola ist dagegen ein Waisenknabe.

In demselben Verlage ist erschienen Guuvor auf Harrö von Atonde
Prhdz, übersetzt von E. Brausewetter. Die Verfasserin hat schon viel ver¬
öffentlicht, diese Erzählung bedeutet, wie eine beigegebne Mitteilung sagt, "den
größten äußern wie litterarischen Erfolg des letzten Jahres in Norwegen."
Die Titelheldin ist die Erbin eines halbbäuerlicheu Schloßgutes, ihr Liebes¬
leben und ihre Verheiratung bilden den Grundstock der Geschichte, die sich von
den sonst bei den Norwegern üblichen Anzüglichkeiten freigehalten hat. Ein
halbrvmantisches, nicht sehr konkret geschildertes Seelenleben, alltägliche Vor¬
gänge einer kleinbürgerlichen Gesellschaft und allerlei Eindrücke von Litteratur
und Kunst, auch italienischer (die Norweger reisen ja viel nach Italien), sind
durch einander gewoben, die Erzählung ist gedehnt, ohne Spannung, ohne den
Kern eines treibenden Interesses. Es läßt sich denken, daß mancher das Buch
nicht zu Ende lesen wird, etwas irgendwie bedeutendes habe ich nicht darin
zu entdecken vermocht. Vor allem ist die Heldin selbst zu schatten- und schemen¬
haft. Man will mehr festen Boden unter sich fühlen, wenn man an die Wirk¬
lichkeit des Erzählten glauben soll.

Dieses Gefühl der Sicherheit geben ohne Frage die Ehestandsgeschichten
von August Strindberg. Die Realistik seiner Schilderungen ist sogar so groß,


Nordische Novellen

lung bei etlichen Anlässen darzustellen sür gut gefunden hat. — In eine andre
Umgebung führen uns Die Leute vom Felsenmoor. Arme Fischersleute
in der Nähe der Stadt Bergen kämpfen vergeblich gegen die Not eines kümmer¬
lichen, halbtierischen Lebens, kosten alles Elend ihres jammervollen Daseins
aus, bis Mann und Frau im Alter als Trunkenbolde in die Stadt übersiedeln,
sich dem Gassenpöbel zum Gespött und ihren eignen, inzwischen herangewachsenen
Kindern zur Schande herumtreiben, während sich diese nunmehr verheirateten
Kinder unter einander zanken und ärgern. Wenn so etwas vorkommen kann,
hat jemand Freude daran, das als Dichtung vorgeführt zu bekommen? Ein
gesunder, recht sympathischer Enkel rettet die Ehre der Familie, er geht zu
Schiff, verrichtet Wunder der Entschlossenheit, bewährt sich auf einer Reise in
die Tropen in Sturm und Schiffbruch und giebt der Verfasserin Gelegenheit
zu geradezu brillanten Schilderungen des Seelebens. Aber als sich das Schiff,
auf der Heimreise begriffen, gerade der Heimat nähert, und man begierig
ist zu erfahren, wie nun dieses kräftige junge Leben eingreifen wird in das
Schicksal der zu Hause gebliebner Familie, wie es vielleicht die versumpfte
Gesellschaft vom Felsenmoor verjüngen und läutern mag (was für ein glück¬
liches Motiv wäre das gewesen!), gerade da bricht die Geschichte ab, unbe¬
friedigend und ergebnislos. Zu einer wirklichen Komposition fehlte der Er¬
zählerin aller dieser einzelnen Szenen also doch die Kraft! Dafür unterhält
sie uns in diesem ganzen zweiten Teil, den Erlebnissen des Schiffsjungen, mit
den allerbedenklichsten Dingen in einer so cynischen Ausführlichkeit, wie ich
kaum je ähnliches gelesen habe; Zola ist dagegen ein Waisenknabe.

In demselben Verlage ist erschienen Guuvor auf Harrö von Atonde
Prhdz, übersetzt von E. Brausewetter. Die Verfasserin hat schon viel ver¬
öffentlicht, diese Erzählung bedeutet, wie eine beigegebne Mitteilung sagt, „den
größten äußern wie litterarischen Erfolg des letzten Jahres in Norwegen."
Die Titelheldin ist die Erbin eines halbbäuerlicheu Schloßgutes, ihr Liebes¬
leben und ihre Verheiratung bilden den Grundstock der Geschichte, die sich von
den sonst bei den Norwegern üblichen Anzüglichkeiten freigehalten hat. Ein
halbrvmantisches, nicht sehr konkret geschildertes Seelenleben, alltägliche Vor¬
gänge einer kleinbürgerlichen Gesellschaft und allerlei Eindrücke von Litteratur
und Kunst, auch italienischer (die Norweger reisen ja viel nach Italien), sind
durch einander gewoben, die Erzählung ist gedehnt, ohne Spannung, ohne den
Kern eines treibenden Interesses. Es läßt sich denken, daß mancher das Buch
nicht zu Ende lesen wird, etwas irgendwie bedeutendes habe ich nicht darin
zu entdecken vermocht. Vor allem ist die Heldin selbst zu schatten- und schemen¬
haft. Man will mehr festen Boden unter sich fühlen, wenn man an die Wirk¬
lichkeit des Erzählten glauben soll.

Dieses Gefühl der Sicherheit geben ohne Frage die Ehestandsgeschichten
von August Strindberg. Die Realistik seiner Schilderungen ist sogar so groß,


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[0487] Nordische Novellen lung bei etlichen Anlässen darzustellen sür gut gefunden hat. — In eine andre Umgebung führen uns Die Leute vom Felsenmoor. Arme Fischersleute in der Nähe der Stadt Bergen kämpfen vergeblich gegen die Not eines kümmer¬ lichen, halbtierischen Lebens, kosten alles Elend ihres jammervollen Daseins aus, bis Mann und Frau im Alter als Trunkenbolde in die Stadt übersiedeln, sich dem Gassenpöbel zum Gespött und ihren eignen, inzwischen herangewachsenen Kindern zur Schande herumtreiben, während sich diese nunmehr verheirateten Kinder unter einander zanken und ärgern. Wenn so etwas vorkommen kann, hat jemand Freude daran, das als Dichtung vorgeführt zu bekommen? Ein gesunder, recht sympathischer Enkel rettet die Ehre der Familie, er geht zu Schiff, verrichtet Wunder der Entschlossenheit, bewährt sich auf einer Reise in die Tropen in Sturm und Schiffbruch und giebt der Verfasserin Gelegenheit zu geradezu brillanten Schilderungen des Seelebens. Aber als sich das Schiff, auf der Heimreise begriffen, gerade der Heimat nähert, und man begierig ist zu erfahren, wie nun dieses kräftige junge Leben eingreifen wird in das Schicksal der zu Hause gebliebner Familie, wie es vielleicht die versumpfte Gesellschaft vom Felsenmoor verjüngen und läutern mag (was für ein glück¬ liches Motiv wäre das gewesen!), gerade da bricht die Geschichte ab, unbe¬ friedigend und ergebnislos. Zu einer wirklichen Komposition fehlte der Er¬ zählerin aller dieser einzelnen Szenen also doch die Kraft! Dafür unterhält sie uns in diesem ganzen zweiten Teil, den Erlebnissen des Schiffsjungen, mit den allerbedenklichsten Dingen in einer so cynischen Ausführlichkeit, wie ich kaum je ähnliches gelesen habe; Zola ist dagegen ein Waisenknabe. In demselben Verlage ist erschienen Guuvor auf Harrö von Atonde Prhdz, übersetzt von E. Brausewetter. Die Verfasserin hat schon viel ver¬ öffentlicht, diese Erzählung bedeutet, wie eine beigegebne Mitteilung sagt, „den größten äußern wie litterarischen Erfolg des letzten Jahres in Norwegen." Die Titelheldin ist die Erbin eines halbbäuerlicheu Schloßgutes, ihr Liebes¬ leben und ihre Verheiratung bilden den Grundstock der Geschichte, die sich von den sonst bei den Norwegern üblichen Anzüglichkeiten freigehalten hat. Ein halbrvmantisches, nicht sehr konkret geschildertes Seelenleben, alltägliche Vor¬ gänge einer kleinbürgerlichen Gesellschaft und allerlei Eindrücke von Litteratur und Kunst, auch italienischer (die Norweger reisen ja viel nach Italien), sind durch einander gewoben, die Erzählung ist gedehnt, ohne Spannung, ohne den Kern eines treibenden Interesses. Es läßt sich denken, daß mancher das Buch nicht zu Ende lesen wird, etwas irgendwie bedeutendes habe ich nicht darin zu entdecken vermocht. Vor allem ist die Heldin selbst zu schatten- und schemen¬ haft. Man will mehr festen Boden unter sich fühlen, wenn man an die Wirk¬ lichkeit des Erzählten glauben soll. Dieses Gefühl der Sicherheit geben ohne Frage die Ehestandsgeschichten von August Strindberg. Die Realistik seiner Schilderungen ist sogar so groß,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/487>, abgerufen am 12.12.2024.