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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Nordische Novellen

dem Nils se Lüi obzuliegen Pflegt, ihr könnt das hier draußen ebenso haben,
das Problem bleibt dasselbe, es verliert nicht an Reiz durch die gesündere
Behandlung, und in dieser klaren Luft werden manche vielleicht über ihre bis¬
herigen Vergnügungen etwas anders denken lernen.

Eine ganze Anzahl Dänischer Novellen verschiedner Verfasser, übersetzt
von Marie Kurella, enthält ein Band der "Kollektion Wigand" (Leipzig), Sie
sind andrer Art, zunächst nicht so gemütvoll. Wer über die Verlegenheit einer
Lehrersfrau mit neun Kindern, der durch ein Mißverständnis ihres tölpelhaften
musikalischen Mannes ein Souper mit einer protzigen fremden Primadonna
als Hauptgast aufgeladen wird, noch lachen kann und nur lacht, der hat eigent¬
lich schon gar kein Gemüt mehr, wenn er auch noch so hübsch und lebhaft
erzählt ("Ein schöner Tag"). Tiefere Empfindung hat nur die letzte Geschichte:
ein Rekrut bringt vom Urlaub in die Garnison ein neugebornes Kind mit
zurück, läßt es bei seiner Waschfrau verpflegen und freut sich, wenn er dienst¬
frei ist und bei ihm sein kann, bis es gar bald stirbt. Natürlich, eine andre
Lösung gab es nicht. Daß nun nebenher eifrig erörtert wird, wem das Kind
gehört, denn seines ist es wahrscheinlich (!) nicht, macht etwas Gegenwirkung,
und gespendet bekommen wir diesen Hautgout, wie oft in den nordischen No¬
vellen, von einer Verfasserin. Die andern Stücke der Sammlung sind meistens
noch pikanter, man atmet Überkultur und eingeschlossene Stadtluft, manche
sind außerdem noch recht derb ("Madame Larsen und ihr Mittelkind"), eine
("Johannisnacht") ist geradezu gefährlich raffinirt. Eine entbehrt dieses Reiz¬
mittels, ist aber auch dafür an sich ziemlich langweilig ("Metje Kajsa"), sonst
sind alle in ihrer Art unterhaltend, es gehört nur der entsprechende Geschmack
des Lesers dazu.

Der Wigandsche Verlag in Leipzig pflegt diese Gattung. Verlockend aus¬
sehende kleine Bände mit grüner Epheuguirlcmde auf dem filbergrauen Umschlag.
I^tst g.n^tu8 in Ka'bg,, aber es giebt ja Schlangenliebhaber genng heute. Nehmen
wir zwei längere norwegische Erzählungen von Amalie stram in die Hand.
Die Verfasserin hat ohne alle Frage viel Talent, sie versteht zu schildern.
Lucie ist die Geliebte eines Nechtscmwalts in Christiania. Solange sie "eine
solche" war, ging die Sache gut, wenn es auch nicht fein war. Als er aber
den Vorurteilen zum Trotz Lucie heiratet, und sie von seinen Verwandten
ohne Bedenken Wohl aufgenommen wird, paßt sie doch nicht in den neuen
Kreis, sie genügt ihm in ihrer neuen Stellung uicht, er behandelt sie schlecht,
sie wird ungezogen und trotzig, endlich stirbt sie im Wochenbett. Wie grausig
sich das aber zugetragen hat, läßt sich nicht wiedergeben, wenn man nicht über
Amalie Straus unverfrorne Offenherzigkeit verfügt. Der Kritiker könnte nur
gegen die Wahrheit der Erzählung geltend machen, daß ein so in allen Wassern
gebadetes Frauenzimmer -- wir meinen die Lucie -- unmöglich in verschiednen
Punkten so naiv sein kann, wie sie Amalie stram zum Zweck ihrer Entwicl-


Nordische Novellen

dem Nils se Lüi obzuliegen Pflegt, ihr könnt das hier draußen ebenso haben,
das Problem bleibt dasselbe, es verliert nicht an Reiz durch die gesündere
Behandlung, und in dieser klaren Luft werden manche vielleicht über ihre bis¬
herigen Vergnügungen etwas anders denken lernen.

Eine ganze Anzahl Dänischer Novellen verschiedner Verfasser, übersetzt
von Marie Kurella, enthält ein Band der „Kollektion Wigand" (Leipzig), Sie
sind andrer Art, zunächst nicht so gemütvoll. Wer über die Verlegenheit einer
Lehrersfrau mit neun Kindern, der durch ein Mißverständnis ihres tölpelhaften
musikalischen Mannes ein Souper mit einer protzigen fremden Primadonna
als Hauptgast aufgeladen wird, noch lachen kann und nur lacht, der hat eigent¬
lich schon gar kein Gemüt mehr, wenn er auch noch so hübsch und lebhaft
erzählt („Ein schöner Tag"). Tiefere Empfindung hat nur die letzte Geschichte:
ein Rekrut bringt vom Urlaub in die Garnison ein neugebornes Kind mit
zurück, läßt es bei seiner Waschfrau verpflegen und freut sich, wenn er dienst¬
frei ist und bei ihm sein kann, bis es gar bald stirbt. Natürlich, eine andre
Lösung gab es nicht. Daß nun nebenher eifrig erörtert wird, wem das Kind
gehört, denn seines ist es wahrscheinlich (!) nicht, macht etwas Gegenwirkung,
und gespendet bekommen wir diesen Hautgout, wie oft in den nordischen No¬
vellen, von einer Verfasserin. Die andern Stücke der Sammlung sind meistens
noch pikanter, man atmet Überkultur und eingeschlossene Stadtluft, manche
sind außerdem noch recht derb („Madame Larsen und ihr Mittelkind"), eine
(„Johannisnacht") ist geradezu gefährlich raffinirt. Eine entbehrt dieses Reiz¬
mittels, ist aber auch dafür an sich ziemlich langweilig („Metje Kajsa"), sonst
sind alle in ihrer Art unterhaltend, es gehört nur der entsprechende Geschmack
des Lesers dazu.

Der Wigandsche Verlag in Leipzig pflegt diese Gattung. Verlockend aus¬
sehende kleine Bände mit grüner Epheuguirlcmde auf dem filbergrauen Umschlag.
I^tst g.n^tu8 in Ka'bg,, aber es giebt ja Schlangenliebhaber genng heute. Nehmen
wir zwei längere norwegische Erzählungen von Amalie stram in die Hand.
Die Verfasserin hat ohne alle Frage viel Talent, sie versteht zu schildern.
Lucie ist die Geliebte eines Nechtscmwalts in Christiania. Solange sie „eine
solche" war, ging die Sache gut, wenn es auch nicht fein war. Als er aber
den Vorurteilen zum Trotz Lucie heiratet, und sie von seinen Verwandten
ohne Bedenken Wohl aufgenommen wird, paßt sie doch nicht in den neuen
Kreis, sie genügt ihm in ihrer neuen Stellung uicht, er behandelt sie schlecht,
sie wird ungezogen und trotzig, endlich stirbt sie im Wochenbett. Wie grausig
sich das aber zugetragen hat, läßt sich nicht wiedergeben, wenn man nicht über
Amalie Straus unverfrorne Offenherzigkeit verfügt. Der Kritiker könnte nur
gegen die Wahrheit der Erzählung geltend machen, daß ein so in allen Wassern
gebadetes Frauenzimmer — wir meinen die Lucie — unmöglich in verschiednen
Punkten so naiv sein kann, wie sie Amalie stram zum Zweck ihrer Entwicl-


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[0486] Nordische Novellen dem Nils se Lüi obzuliegen Pflegt, ihr könnt das hier draußen ebenso haben, das Problem bleibt dasselbe, es verliert nicht an Reiz durch die gesündere Behandlung, und in dieser klaren Luft werden manche vielleicht über ihre bis¬ herigen Vergnügungen etwas anders denken lernen. Eine ganze Anzahl Dänischer Novellen verschiedner Verfasser, übersetzt von Marie Kurella, enthält ein Band der „Kollektion Wigand" (Leipzig), Sie sind andrer Art, zunächst nicht so gemütvoll. Wer über die Verlegenheit einer Lehrersfrau mit neun Kindern, der durch ein Mißverständnis ihres tölpelhaften musikalischen Mannes ein Souper mit einer protzigen fremden Primadonna als Hauptgast aufgeladen wird, noch lachen kann und nur lacht, der hat eigent¬ lich schon gar kein Gemüt mehr, wenn er auch noch so hübsch und lebhaft erzählt („Ein schöner Tag"). Tiefere Empfindung hat nur die letzte Geschichte: ein Rekrut bringt vom Urlaub in die Garnison ein neugebornes Kind mit zurück, läßt es bei seiner Waschfrau verpflegen und freut sich, wenn er dienst¬ frei ist und bei ihm sein kann, bis es gar bald stirbt. Natürlich, eine andre Lösung gab es nicht. Daß nun nebenher eifrig erörtert wird, wem das Kind gehört, denn seines ist es wahrscheinlich (!) nicht, macht etwas Gegenwirkung, und gespendet bekommen wir diesen Hautgout, wie oft in den nordischen No¬ vellen, von einer Verfasserin. Die andern Stücke der Sammlung sind meistens noch pikanter, man atmet Überkultur und eingeschlossene Stadtluft, manche sind außerdem noch recht derb („Madame Larsen und ihr Mittelkind"), eine („Johannisnacht") ist geradezu gefährlich raffinirt. Eine entbehrt dieses Reiz¬ mittels, ist aber auch dafür an sich ziemlich langweilig („Metje Kajsa"), sonst sind alle in ihrer Art unterhaltend, es gehört nur der entsprechende Geschmack des Lesers dazu. Der Wigandsche Verlag in Leipzig pflegt diese Gattung. Verlockend aus¬ sehende kleine Bände mit grüner Epheuguirlcmde auf dem filbergrauen Umschlag. I^tst g.n^tu8 in Ka'bg,, aber es giebt ja Schlangenliebhaber genng heute. Nehmen wir zwei längere norwegische Erzählungen von Amalie stram in die Hand. Die Verfasserin hat ohne alle Frage viel Talent, sie versteht zu schildern. Lucie ist die Geliebte eines Nechtscmwalts in Christiania. Solange sie „eine solche" war, ging die Sache gut, wenn es auch nicht fein war. Als er aber den Vorurteilen zum Trotz Lucie heiratet, und sie von seinen Verwandten ohne Bedenken Wohl aufgenommen wird, paßt sie doch nicht in den neuen Kreis, sie genügt ihm in ihrer neuen Stellung uicht, er behandelt sie schlecht, sie wird ungezogen und trotzig, endlich stirbt sie im Wochenbett. Wie grausig sich das aber zugetragen hat, läßt sich nicht wiedergeben, wenn man nicht über Amalie Straus unverfrorne Offenherzigkeit verfügt. Der Kritiker könnte nur gegen die Wahrheit der Erzählung geltend machen, daß ein so in allen Wassern gebadetes Frauenzimmer — wir meinen die Lucie — unmöglich in verschiednen Punkten so naiv sein kann, wie sie Amalie stram zum Zweck ihrer Entwicl-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/486>, abgerufen am 12.12.2024.