Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Judentum und Revolution

Art so großen Anklang gefunden hatte, bosselte er in dem Genre weiter, bis
er richtig die "Judenflinten" heraus hatte, die endlich zu der Gerichtsverhand¬
lung führten, die von allen anständigen und vernünftig denkenden Anhängern
der antisemitischen Richtung längst herbeigesehnt war. Mehr noch als die
Straflosigkeit seiner ersten Verdächtigungen trug übrigens zu Ahlwardts Erfolg
die Stimmung bei, die sich in den untern Schichten der hauptstädtischen Be¬
völkerung verbreitet hatte, als ihr der rasche Umbau Berlins zur Weltstadt
und die Umwälzung in allen wirtschaftlichen Verhältnissen den sichern Boden
und manchem auch das Dach über dem Kopfe wegzunehmen schien. Wirtschaft¬
liche Kräfte waren entfesselt worden, die unter der Oberfläche der Dinge in
einer für den Uneingeweihten unbegreiflichen, unheimlichen Weise ihr Spiel
trieben, aber bald da, bald dort mit Verderben dringender Gewaltsamkeit her¬
vorbrachen und in das Leben des Einzelnen eingriffen. Man muß es der
Mehrzahl der antisemitischen Versammlungsredner zum Ruhme nachsagen, daß
sie, bei aller Animosität gegen die Jsraeliten, sich doch redlich bemühten, ihren
Zuhörern auch einen Begriff beizubringen von den wirtschaftlichen Entwick¬
lungen, die eine für die jüdische Ausbeutungssucht so günstige Lage herbei¬
geführt hatten. Ahlwardt erließ sich die Mühe solcher Belehrung -- ans
gutem Grunde, aber mnuclus vult äsoixi, die Welt, sagt man, will betrogen
sein. Genau betrachtet ist so viel wahr: die Menge wird immer da hin¬
horchen, wo zur Phantasie und zum Gemüt gesprocheu wird, weit mehr als
dahin, wo man dem Verstände die Zumutung macht, sich anzustrengen. Bei der
Menge also, der das Denken beschwerlich fällt, stach Ahlwardt eine Zeit lang
alle übrigen Redner aus mit seinem Märchen von der großen Judenverschwörung.
Mit der Beharrlichkeit des Monomanen blieb er dabei, alles, was seine Zu¬
hörer bedrücke", quälen, ängstigen mochte, auf das Treiben eines jüdischen
Geheimbundes zurückzuführen, dessen Mittelpunkt, ihm zufolge, Bleichröder war,
der wie eine Kreuzspinne in seinem Gewebe sitzend das gesamte Deutsche Reich
wie dem Netz des Verderbens überzogen hatte. Die Geschichte weist zahlreiche
Beispiele auf von solchen Märchenerzählungen, die auf den Gang der geschicht¬
lichen Ereignisse eine Wirkung ausübten; aber wo die innere Wahrheit fehlte,
ist diese Wirkung nie von langer Dauer gewesen.


Der Antisemitismus und das Großkapital

Eine Agitation kann immer nur dann propagandistische Wirkung üben
und weitere Kreise der Bevölkerung dauernd erfassen, wenn sie für diese Be-
vvlkerungskreise Befreiung ankündigt von einem als schwerlastend empfundnen
Druck und zugleich, wenn auch nur ganz allgemein, die Mittel und Wege an¬
mutet, die zu dieser Befreiung führen können. Als der wirtschaftliche Anti¬
semitismus sich anschickte, den Kampf gegen die Großbcizare und die Macht
des Großkapitals aufzunehmen, zerbrachen ihm alle Waffen, die er bisher geführt


Judentum und Revolution

Art so großen Anklang gefunden hatte, bosselte er in dem Genre weiter, bis
er richtig die „Judenflinten" heraus hatte, die endlich zu der Gerichtsverhand¬
lung führten, die von allen anständigen und vernünftig denkenden Anhängern
der antisemitischen Richtung längst herbeigesehnt war. Mehr noch als die
Straflosigkeit seiner ersten Verdächtigungen trug übrigens zu Ahlwardts Erfolg
die Stimmung bei, die sich in den untern Schichten der hauptstädtischen Be¬
völkerung verbreitet hatte, als ihr der rasche Umbau Berlins zur Weltstadt
und die Umwälzung in allen wirtschaftlichen Verhältnissen den sichern Boden
und manchem auch das Dach über dem Kopfe wegzunehmen schien. Wirtschaft¬
liche Kräfte waren entfesselt worden, die unter der Oberfläche der Dinge in
einer für den Uneingeweihten unbegreiflichen, unheimlichen Weise ihr Spiel
trieben, aber bald da, bald dort mit Verderben dringender Gewaltsamkeit her¬
vorbrachen und in das Leben des Einzelnen eingriffen. Man muß es der
Mehrzahl der antisemitischen Versammlungsredner zum Ruhme nachsagen, daß
sie, bei aller Animosität gegen die Jsraeliten, sich doch redlich bemühten, ihren
Zuhörern auch einen Begriff beizubringen von den wirtschaftlichen Entwick¬
lungen, die eine für die jüdische Ausbeutungssucht so günstige Lage herbei¬
geführt hatten. Ahlwardt erließ sich die Mühe solcher Belehrung — ans
gutem Grunde, aber mnuclus vult äsoixi, die Welt, sagt man, will betrogen
sein. Genau betrachtet ist so viel wahr: die Menge wird immer da hin¬
horchen, wo zur Phantasie und zum Gemüt gesprocheu wird, weit mehr als
dahin, wo man dem Verstände die Zumutung macht, sich anzustrengen. Bei der
Menge also, der das Denken beschwerlich fällt, stach Ahlwardt eine Zeit lang
alle übrigen Redner aus mit seinem Märchen von der großen Judenverschwörung.
Mit der Beharrlichkeit des Monomanen blieb er dabei, alles, was seine Zu¬
hörer bedrücke», quälen, ängstigen mochte, auf das Treiben eines jüdischen
Geheimbundes zurückzuführen, dessen Mittelpunkt, ihm zufolge, Bleichröder war,
der wie eine Kreuzspinne in seinem Gewebe sitzend das gesamte Deutsche Reich
wie dem Netz des Verderbens überzogen hatte. Die Geschichte weist zahlreiche
Beispiele auf von solchen Märchenerzählungen, die auf den Gang der geschicht¬
lichen Ereignisse eine Wirkung ausübten; aber wo die innere Wahrheit fehlte,
ist diese Wirkung nie von langer Dauer gewesen.


Der Antisemitismus und das Großkapital

Eine Agitation kann immer nur dann propagandistische Wirkung üben
und weitere Kreise der Bevölkerung dauernd erfassen, wenn sie für diese Be-
vvlkerungskreise Befreiung ankündigt von einem als schwerlastend empfundnen
Druck und zugleich, wenn auch nur ganz allgemein, die Mittel und Wege an¬
mutet, die zu dieser Befreiung führen können. Als der wirtschaftliche Anti¬
semitismus sich anschickte, den Kampf gegen die Großbcizare und die Macht
des Großkapitals aufzunehmen, zerbrachen ihm alle Waffen, die er bisher geführt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0470" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229419"/>
            <fw type="header" place="top"> Judentum und Revolution</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1345" prev="#ID_1344"> Art so großen Anklang gefunden hatte, bosselte er in dem Genre weiter, bis<lb/>
er richtig die &#x201E;Judenflinten" heraus hatte, die endlich zu der Gerichtsverhand¬<lb/>
lung führten, die von allen anständigen und vernünftig denkenden Anhängern<lb/>
der antisemitischen Richtung längst herbeigesehnt war. Mehr noch als die<lb/>
Straflosigkeit seiner ersten Verdächtigungen trug übrigens zu Ahlwardts Erfolg<lb/>
die Stimmung bei, die sich in den untern Schichten der hauptstädtischen Be¬<lb/>
völkerung verbreitet hatte, als ihr der rasche Umbau Berlins zur Weltstadt<lb/>
und die Umwälzung in allen wirtschaftlichen Verhältnissen den sichern Boden<lb/>
und manchem auch das Dach über dem Kopfe wegzunehmen schien. Wirtschaft¬<lb/>
liche Kräfte waren entfesselt worden, die unter der Oberfläche der Dinge in<lb/>
einer für den Uneingeweihten unbegreiflichen, unheimlichen Weise ihr Spiel<lb/>
trieben, aber bald da, bald dort mit Verderben dringender Gewaltsamkeit her¬<lb/>
vorbrachen und in das Leben des Einzelnen eingriffen. Man muß es der<lb/>
Mehrzahl der antisemitischen Versammlungsredner zum Ruhme nachsagen, daß<lb/>
sie, bei aller Animosität gegen die Jsraeliten, sich doch redlich bemühten, ihren<lb/>
Zuhörern auch einen Begriff beizubringen von den wirtschaftlichen Entwick¬<lb/>
lungen, die eine für die jüdische Ausbeutungssucht so günstige Lage herbei¬<lb/>
geführt hatten. Ahlwardt erließ sich die Mühe solcher Belehrung &#x2014; ans<lb/>
gutem Grunde, aber mnuclus vult äsoixi, die Welt, sagt man, will betrogen<lb/>
sein. Genau betrachtet ist so viel wahr: die Menge wird immer da hin¬<lb/>
horchen, wo zur Phantasie und zum Gemüt gesprocheu wird, weit mehr als<lb/>
dahin, wo man dem Verstände die Zumutung macht, sich anzustrengen. Bei der<lb/>
Menge also, der das Denken beschwerlich fällt, stach Ahlwardt eine Zeit lang<lb/>
alle übrigen Redner aus mit seinem Märchen von der großen Judenverschwörung.<lb/>
Mit der Beharrlichkeit des Monomanen blieb er dabei, alles, was seine Zu¬<lb/>
hörer bedrücke», quälen, ängstigen mochte, auf das Treiben eines jüdischen<lb/>
Geheimbundes zurückzuführen, dessen Mittelpunkt, ihm zufolge, Bleichröder war,<lb/>
der wie eine Kreuzspinne in seinem Gewebe sitzend das gesamte Deutsche Reich<lb/>
wie dem Netz des Verderbens überzogen hatte. Die Geschichte weist zahlreiche<lb/>
Beispiele auf von solchen Märchenerzählungen, die auf den Gang der geschicht¬<lb/>
lichen Ereignisse eine Wirkung ausübten; aber wo die innere Wahrheit fehlte,<lb/>
ist diese Wirkung nie von langer Dauer gewesen.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Der Antisemitismus und das Großkapital</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1346" next="#ID_1347"> Eine Agitation kann immer nur dann propagandistische Wirkung üben<lb/>
und weitere Kreise der Bevölkerung dauernd erfassen, wenn sie für diese Be-<lb/>
vvlkerungskreise Befreiung ankündigt von einem als schwerlastend empfundnen<lb/>
Druck und zugleich, wenn auch nur ganz allgemein, die Mittel und Wege an¬<lb/>
mutet, die zu dieser Befreiung führen können. Als der wirtschaftliche Anti¬<lb/>
semitismus sich anschickte, den Kampf gegen die Großbcizare und die Macht<lb/>
des Großkapitals aufzunehmen, zerbrachen ihm alle Waffen, die er bisher geführt</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0470] Judentum und Revolution Art so großen Anklang gefunden hatte, bosselte er in dem Genre weiter, bis er richtig die „Judenflinten" heraus hatte, die endlich zu der Gerichtsverhand¬ lung führten, die von allen anständigen und vernünftig denkenden Anhängern der antisemitischen Richtung längst herbeigesehnt war. Mehr noch als die Straflosigkeit seiner ersten Verdächtigungen trug übrigens zu Ahlwardts Erfolg die Stimmung bei, die sich in den untern Schichten der hauptstädtischen Be¬ völkerung verbreitet hatte, als ihr der rasche Umbau Berlins zur Weltstadt und die Umwälzung in allen wirtschaftlichen Verhältnissen den sichern Boden und manchem auch das Dach über dem Kopfe wegzunehmen schien. Wirtschaft¬ liche Kräfte waren entfesselt worden, die unter der Oberfläche der Dinge in einer für den Uneingeweihten unbegreiflichen, unheimlichen Weise ihr Spiel trieben, aber bald da, bald dort mit Verderben dringender Gewaltsamkeit her¬ vorbrachen und in das Leben des Einzelnen eingriffen. Man muß es der Mehrzahl der antisemitischen Versammlungsredner zum Ruhme nachsagen, daß sie, bei aller Animosität gegen die Jsraeliten, sich doch redlich bemühten, ihren Zuhörern auch einen Begriff beizubringen von den wirtschaftlichen Entwick¬ lungen, die eine für die jüdische Ausbeutungssucht so günstige Lage herbei¬ geführt hatten. Ahlwardt erließ sich die Mühe solcher Belehrung — ans gutem Grunde, aber mnuclus vult äsoixi, die Welt, sagt man, will betrogen sein. Genau betrachtet ist so viel wahr: die Menge wird immer da hin¬ horchen, wo zur Phantasie und zum Gemüt gesprocheu wird, weit mehr als dahin, wo man dem Verstände die Zumutung macht, sich anzustrengen. Bei der Menge also, der das Denken beschwerlich fällt, stach Ahlwardt eine Zeit lang alle übrigen Redner aus mit seinem Märchen von der großen Judenverschwörung. Mit der Beharrlichkeit des Monomanen blieb er dabei, alles, was seine Zu¬ hörer bedrücke», quälen, ängstigen mochte, auf das Treiben eines jüdischen Geheimbundes zurückzuführen, dessen Mittelpunkt, ihm zufolge, Bleichröder war, der wie eine Kreuzspinne in seinem Gewebe sitzend das gesamte Deutsche Reich wie dem Netz des Verderbens überzogen hatte. Die Geschichte weist zahlreiche Beispiele auf von solchen Märchenerzählungen, die auf den Gang der geschicht¬ lichen Ereignisse eine Wirkung ausübten; aber wo die innere Wahrheit fehlte, ist diese Wirkung nie von langer Dauer gewesen. Der Antisemitismus und das Großkapital Eine Agitation kann immer nur dann propagandistische Wirkung üben und weitere Kreise der Bevölkerung dauernd erfassen, wenn sie für diese Be- vvlkerungskreise Befreiung ankündigt von einem als schwerlastend empfundnen Druck und zugleich, wenn auch nur ganz allgemein, die Mittel und Wege an¬ mutet, die zu dieser Befreiung führen können. Als der wirtschaftliche Anti¬ semitismus sich anschickte, den Kampf gegen die Großbcizare und die Macht des Großkapitals aufzunehmen, zerbrachen ihm alle Waffen, die er bisher geführt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/470
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/470>, abgerufen am 12.12.2024.