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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Judentum und Revolution

-- die Art von Leuten, die Jesus mit der Peitsche aus dem Tempel trieb --
in den mittlern Schichten der Gesellschaft die Juden allmählich gezwungen hat,
die Moral des deutschen Bürgertums im Geschäftsverkehr als die auf deutschem
Boden zur Herrschaft berechtigte anzuerkennen und ihr Verhalten demgemäß
einzurichten; wie sodann unter wirksamer Mithilfe der Staatsregierung für
die stofflich produzirende Arbeit des Kleingewerbes Bedingungen geschaffen
wurden, die deren Chancen im Kampf mit dem Handelskapital günstiger ge¬
stalteten und damit auch den ökonomisch-sozialen Antisemitismus in ein ruhigeres
Fahrwasser leiteten.


Der Antisemitismus unmoralisch?

Die Judenschaft glaubt gegen den Antisemitismus einen besondern Trumpf
ausspielen zu können, wenn sie, um an der Moralität der Judenbekämpfung
Zweifel zu erregen, den Rektor Ahlwardt als den klassischen Typus eines Juden¬
gegners hinstellt und höhnisch fragt, ob es vielleicht nicht wahr sei, daß alle
anständigen Menschen in der Verurteilung dieses Mannes übereinstimmen. Ahl¬
wardt, der in der That in unserm öffentlichen Leben eine sehr merkwürdige
Rolle gespielt hat, verdient daher eine nähere Beleuchtung. Für den Unbe¬
fangnen ist von vornherein klar, daß der Rektor, wenn er bei der Reichstags¬
wahl wiederholt über die respektabelsten Gegner den Sieg davontrug, unmöglich
dem Karikaturbild gleichen konnte, das seine Feinde von ihm entworfen haben.
Wäre er aber wirklich ein Mensch, dem bedeutende sittliche Defekte nachgewiesen
werden könnten, so wäre damit nicht im geringsten ein Maßstab gegeben für
die sittliche Beurteilung des Antisemitismus. Der schlechteste Mensch kann mit
seinem Zeugnis ins Gewicht fallen und eine Bedeutung im öffentlichen Leben
erhalten, wenn er über Dinge berichtet, die infolge besondrer Umstünde eben
nur ihm bekannt geworden sind, oder die nur er auszusprechen den Mut hat.
Ahlwardts Ansehn in der antisemitischen Bewegung ist zunächst begründet
worden durch die mit Geschick agitatorisch verwertete Thatsache, daß die von
ihm öffentlich verbrecherischer Handlungen bezichtigten Herren Bleichröder und
Madai es vermieden, gerichtliche Aufklärung über diese Beschuldigungen herbei¬
zuführen. Man muß jedes Verständnisses für die Psychologie des Volksgemüth
bar sein, um nicht zu begreifen, daß damit im Urteil der Tausende die Glaub¬
würdigkeit des Anklägers festgestellt war. Zugleich mußten der Mut und die
scheinbare Uneigennützigkeit, womit Ahlwardt gegen so mächtige und einflu߬
reiche Personen aufgetreten war, in weiten Kreisen Sympathien erwerben und
Bewunderung wecken. Von der Beschränktheit des Ahlwardtschen Kopfes und
der Dürftigkeit seines Gedankenvorrats kann sich ein gebildeter Mann kaum eine
ausreichende Vorstellung machen. Das Material zu den Anklagen gegen Bleich¬
röder und Madai war dem Rektor natürlich in vollem Umfange von andern
zugestellt worden. Nachdem er aber mit dem Vortrag von Geschichten dieser


Judentum und Revolution

— die Art von Leuten, die Jesus mit der Peitsche aus dem Tempel trieb —
in den mittlern Schichten der Gesellschaft die Juden allmählich gezwungen hat,
die Moral des deutschen Bürgertums im Geschäftsverkehr als die auf deutschem
Boden zur Herrschaft berechtigte anzuerkennen und ihr Verhalten demgemäß
einzurichten; wie sodann unter wirksamer Mithilfe der Staatsregierung für
die stofflich produzirende Arbeit des Kleingewerbes Bedingungen geschaffen
wurden, die deren Chancen im Kampf mit dem Handelskapital günstiger ge¬
stalteten und damit auch den ökonomisch-sozialen Antisemitismus in ein ruhigeres
Fahrwasser leiteten.


Der Antisemitismus unmoralisch?

Die Judenschaft glaubt gegen den Antisemitismus einen besondern Trumpf
ausspielen zu können, wenn sie, um an der Moralität der Judenbekämpfung
Zweifel zu erregen, den Rektor Ahlwardt als den klassischen Typus eines Juden¬
gegners hinstellt und höhnisch fragt, ob es vielleicht nicht wahr sei, daß alle
anständigen Menschen in der Verurteilung dieses Mannes übereinstimmen. Ahl¬
wardt, der in der That in unserm öffentlichen Leben eine sehr merkwürdige
Rolle gespielt hat, verdient daher eine nähere Beleuchtung. Für den Unbe¬
fangnen ist von vornherein klar, daß der Rektor, wenn er bei der Reichstags¬
wahl wiederholt über die respektabelsten Gegner den Sieg davontrug, unmöglich
dem Karikaturbild gleichen konnte, das seine Feinde von ihm entworfen haben.
Wäre er aber wirklich ein Mensch, dem bedeutende sittliche Defekte nachgewiesen
werden könnten, so wäre damit nicht im geringsten ein Maßstab gegeben für
die sittliche Beurteilung des Antisemitismus. Der schlechteste Mensch kann mit
seinem Zeugnis ins Gewicht fallen und eine Bedeutung im öffentlichen Leben
erhalten, wenn er über Dinge berichtet, die infolge besondrer Umstünde eben
nur ihm bekannt geworden sind, oder die nur er auszusprechen den Mut hat.
Ahlwardts Ansehn in der antisemitischen Bewegung ist zunächst begründet
worden durch die mit Geschick agitatorisch verwertete Thatsache, daß die von
ihm öffentlich verbrecherischer Handlungen bezichtigten Herren Bleichröder und
Madai es vermieden, gerichtliche Aufklärung über diese Beschuldigungen herbei¬
zuführen. Man muß jedes Verständnisses für die Psychologie des Volksgemüth
bar sein, um nicht zu begreifen, daß damit im Urteil der Tausende die Glaub¬
würdigkeit des Anklägers festgestellt war. Zugleich mußten der Mut und die
scheinbare Uneigennützigkeit, womit Ahlwardt gegen so mächtige und einflu߬
reiche Personen aufgetreten war, in weiten Kreisen Sympathien erwerben und
Bewunderung wecken. Von der Beschränktheit des Ahlwardtschen Kopfes und
der Dürftigkeit seines Gedankenvorrats kann sich ein gebildeter Mann kaum eine
ausreichende Vorstellung machen. Das Material zu den Anklagen gegen Bleich¬
röder und Madai war dem Rektor natürlich in vollem Umfange von andern
zugestellt worden. Nachdem er aber mit dem Vortrag von Geschichten dieser


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[0469] Judentum und Revolution — die Art von Leuten, die Jesus mit der Peitsche aus dem Tempel trieb — in den mittlern Schichten der Gesellschaft die Juden allmählich gezwungen hat, die Moral des deutschen Bürgertums im Geschäftsverkehr als die auf deutschem Boden zur Herrschaft berechtigte anzuerkennen und ihr Verhalten demgemäß einzurichten; wie sodann unter wirksamer Mithilfe der Staatsregierung für die stofflich produzirende Arbeit des Kleingewerbes Bedingungen geschaffen wurden, die deren Chancen im Kampf mit dem Handelskapital günstiger ge¬ stalteten und damit auch den ökonomisch-sozialen Antisemitismus in ein ruhigeres Fahrwasser leiteten. Der Antisemitismus unmoralisch? Die Judenschaft glaubt gegen den Antisemitismus einen besondern Trumpf ausspielen zu können, wenn sie, um an der Moralität der Judenbekämpfung Zweifel zu erregen, den Rektor Ahlwardt als den klassischen Typus eines Juden¬ gegners hinstellt und höhnisch fragt, ob es vielleicht nicht wahr sei, daß alle anständigen Menschen in der Verurteilung dieses Mannes übereinstimmen. Ahl¬ wardt, der in der That in unserm öffentlichen Leben eine sehr merkwürdige Rolle gespielt hat, verdient daher eine nähere Beleuchtung. Für den Unbe¬ fangnen ist von vornherein klar, daß der Rektor, wenn er bei der Reichstags¬ wahl wiederholt über die respektabelsten Gegner den Sieg davontrug, unmöglich dem Karikaturbild gleichen konnte, das seine Feinde von ihm entworfen haben. Wäre er aber wirklich ein Mensch, dem bedeutende sittliche Defekte nachgewiesen werden könnten, so wäre damit nicht im geringsten ein Maßstab gegeben für die sittliche Beurteilung des Antisemitismus. Der schlechteste Mensch kann mit seinem Zeugnis ins Gewicht fallen und eine Bedeutung im öffentlichen Leben erhalten, wenn er über Dinge berichtet, die infolge besondrer Umstünde eben nur ihm bekannt geworden sind, oder die nur er auszusprechen den Mut hat. Ahlwardts Ansehn in der antisemitischen Bewegung ist zunächst begründet worden durch die mit Geschick agitatorisch verwertete Thatsache, daß die von ihm öffentlich verbrecherischer Handlungen bezichtigten Herren Bleichröder und Madai es vermieden, gerichtliche Aufklärung über diese Beschuldigungen herbei¬ zuführen. Man muß jedes Verständnisses für die Psychologie des Volksgemüth bar sein, um nicht zu begreifen, daß damit im Urteil der Tausende die Glaub¬ würdigkeit des Anklägers festgestellt war. Zugleich mußten der Mut und die scheinbare Uneigennützigkeit, womit Ahlwardt gegen so mächtige und einflu߬ reiche Personen aufgetreten war, in weiten Kreisen Sympathien erwerben und Bewunderung wecken. Von der Beschränktheit des Ahlwardtschen Kopfes und der Dürftigkeit seines Gedankenvorrats kann sich ein gebildeter Mann kaum eine ausreichende Vorstellung machen. Das Material zu den Anklagen gegen Bleich¬ röder und Madai war dem Rektor natürlich in vollem Umfange von andern zugestellt worden. Nachdem er aber mit dem Vortrag von Geschichten dieser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/469>, abgerufen am 12.12.2024.