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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die Via reZia des Weltverkehrs

sein größerer Sohn in unserm Vaterland ein Ende gemacht hat. In der
Türkei hat dieser Zustand nahezu zwei und ein halbes Jahrhundert bestanden.
Erst im Jahre der französischen Revolution, 1789, mit SelimIII., beginnen
dort ernste Reformversuche, aber die beiden ersten Sultane fielen als Opfer der
verrotteten Zustände und des Fanatismus. Erst 1826 gelang es Mahmud II.,
mit der Vernichtung der Janitscharen den entscheidenden Schritt zu thun, wie
ihn Peter der Große mit der Beseitigung der Strelitzen für Rußland gethan
hattet) diesem Schritt folgte nnter den allerschwierigsten äußern und innern
Umständen die Neuorganisation des Reichs, die im allgemeinen mit dem Jahre
1834 ins Leben getreten ist. Wir können auf diese Verhältnisse nicht näher
eingehen und beschränken uus hier auf den Hinweis, daß die Geschichte
Mahmud II. als den großen Reformator der Türkei anzusehen hat, der sie
der europäischen Kultur geöffnet hat. Aber die Hauptschwierigkeit, die Rege¬
lung der Verhältnisse der Ulemas, konnte er aus religiösen Rücksichten uoch
nicht ändern. Leider hat Mahmud II. (f 1839) bisher keine seiner würdigen
Nachfolger gefunden. Es ist bekannt, daß der jetzige Sultan an die Stelle
der früher so verhängnisvollen Dezentralisation die straffste Zentralisation gesetzt
hat. So folgt auch in der Türkei wie im Nbendlnnde dem zerbröckelten Feudal-
stnate der strenge Absolutismus -- freilich in türkischer Färbung. Nun denke
man sich Ludwig XI., Richelieu oder Ludwig XIV. mit den Verkehrsmitteln
der Neuzeit ausgerüstet, jeden Augenblick imstande, ihren persönlichen Willen
an jeder Stelle des Reichs zum Ausdruck zu bringen! Das ist das heutige
Regierungssystem.

Dazu kommen die unheilvollen Erinnerungen an so viele blutige Palast¬
revolutionen, die dem allmächtigen Herrscher aller Gläubigen, dem "Schatten
Gottes" auf Erden, oft genug Thron und Leben gekostet haben! Darin liegen
die Hauptschwierigkeiten der Reformen, die gewiß nicht unterschätzt werden
dürfen.

An dieses unfertige, zurückgebliebne und mit Hemmungen aller Art rin¬
gende Staatswesen drängt von Süden die britische, von Norden die russische
Weltmacht heran, mit dem erkennbaren, wenn auch nicht ausgesprochnen
Wunsche, den europäischen Zugang nach Indien sür sich zu monopolisiren.
Rußland bedarf zunächst der freien Durchfahrt für seine Flotten nach dem
Mittelmeer und strebt zu diesem Zwecke auch seit langer Zeit die Herrschaft
über die Ufer des Bosporus und der Dardanellen an. England ersitzt sich
l" Ägypten Eigentümerrecht; es hat das ganze Becken des Roten Meeres samt
dessen Küsten faktisch in Besitz und wartet in Ruhe auf den günstigen Zeit-



Derselbe Vorgang, d, h, die Unterwerfung der Militärmacht nnter die Stnntsgewalt,
vollzieht sich in Deutschland während des dreißigjährigen Krieges. Die Ermordung Wallen-
steins und die Auflösung der brandenburgischen Truppen durch den Großen Kurfürsten sind die
^"scheidenden Ereignisse hierbei.
Die Via reZia des Weltverkehrs

sein größerer Sohn in unserm Vaterland ein Ende gemacht hat. In der
Türkei hat dieser Zustand nahezu zwei und ein halbes Jahrhundert bestanden.
Erst im Jahre der französischen Revolution, 1789, mit SelimIII., beginnen
dort ernste Reformversuche, aber die beiden ersten Sultane fielen als Opfer der
verrotteten Zustände und des Fanatismus. Erst 1826 gelang es Mahmud II.,
mit der Vernichtung der Janitscharen den entscheidenden Schritt zu thun, wie
ihn Peter der Große mit der Beseitigung der Strelitzen für Rußland gethan
hattet) diesem Schritt folgte nnter den allerschwierigsten äußern und innern
Umständen die Neuorganisation des Reichs, die im allgemeinen mit dem Jahre
1834 ins Leben getreten ist. Wir können auf diese Verhältnisse nicht näher
eingehen und beschränken uus hier auf den Hinweis, daß die Geschichte
Mahmud II. als den großen Reformator der Türkei anzusehen hat, der sie
der europäischen Kultur geöffnet hat. Aber die Hauptschwierigkeit, die Rege¬
lung der Verhältnisse der Ulemas, konnte er aus religiösen Rücksichten uoch
nicht ändern. Leider hat Mahmud II. (f 1839) bisher keine seiner würdigen
Nachfolger gefunden. Es ist bekannt, daß der jetzige Sultan an die Stelle
der früher so verhängnisvollen Dezentralisation die straffste Zentralisation gesetzt
hat. So folgt auch in der Türkei wie im Nbendlnnde dem zerbröckelten Feudal-
stnate der strenge Absolutismus — freilich in türkischer Färbung. Nun denke
man sich Ludwig XI., Richelieu oder Ludwig XIV. mit den Verkehrsmitteln
der Neuzeit ausgerüstet, jeden Augenblick imstande, ihren persönlichen Willen
an jeder Stelle des Reichs zum Ausdruck zu bringen! Das ist das heutige
Regierungssystem.

Dazu kommen die unheilvollen Erinnerungen an so viele blutige Palast¬
revolutionen, die dem allmächtigen Herrscher aller Gläubigen, dem „Schatten
Gottes" auf Erden, oft genug Thron und Leben gekostet haben! Darin liegen
die Hauptschwierigkeiten der Reformen, die gewiß nicht unterschätzt werden
dürfen.

An dieses unfertige, zurückgebliebne und mit Hemmungen aller Art rin¬
gende Staatswesen drängt von Süden die britische, von Norden die russische
Weltmacht heran, mit dem erkennbaren, wenn auch nicht ausgesprochnen
Wunsche, den europäischen Zugang nach Indien sür sich zu monopolisiren.
Rußland bedarf zunächst der freien Durchfahrt für seine Flotten nach dem
Mittelmeer und strebt zu diesem Zwecke auch seit langer Zeit die Herrschaft
über die Ufer des Bosporus und der Dardanellen an. England ersitzt sich
l" Ägypten Eigentümerrecht; es hat das ganze Becken des Roten Meeres samt
dessen Küsten faktisch in Besitz und wartet in Ruhe auf den günstigen Zeit-



Derselbe Vorgang, d, h, die Unterwerfung der Militärmacht nnter die Stnntsgewalt,
vollzieht sich in Deutschland während des dreißigjährigen Krieges. Die Ermordung Wallen-
steins und die Auflösung der brandenburgischen Truppen durch den Großen Kurfürsten sind die
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/462>, abgerufen am 12.12.2024.