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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

dem Kunsthistoriker allein nicht möglich sein" werde, und er stellt wenigstens die
Grundsätze auf, nach denen der Philologe mit seiner Textkritik und seinen Unter¬
suchungen über das Vcrwandtschaftsverhältnis der einzelnen Handschriften dem Kunst¬
historiker zu Hilfe kommen foll.

Der Danteforscher hat gewiß Recht, wenn er diese Forderung ausstellt. Er
glaubt nämlich, daß die Illustration Beiträge zur Erklärung des Textes liefern
könne, und er verlangt, daß daraufhin die Arbeiten der Miniatoren und Zeichner
geprüft werden müssen. Wir meinen dagegen, daß diese sehr mühevolle Arbeit zu
keinem wichtigen Ergebnis führen wird, weil es den Buchmalern des vierzehnten
und fünfzehnten Jahrhunderts in ihren Malereien und Zeichnungen keineswegs
darauf ankam, die tiefsten Gedanken des Dichters zu ergründen und irgendwie
künstlerisch zu gestalten, sondern daß sie nur die einzelnen Figuren, die der Dichter
erscheinen, handeln und leiden läßt, versinnlichen wollten. Die ganze Arbeit dieser
Künstler, die doch zum großen Teil diesen Namen kaum verdienen, lief einfach
darauf hinaus, die phantastischen Gestalten der Hölle, der Gemarterten und ihrer
Quälgeister, nach den bisweilen sehr dunkeln Andentungen Dantes den Auge"
deutlich zu machen. Die Illustratoren wußten dabei sehr wohl, was sie thaten.
Sie kamen damit nur den Gefühlen der Menschen entgegen, für die sie arbeiteten,
die sich vor den Höllenstrafen fürchteten, aber doch auch lachten, wenn ihnen das
Gebaren der Dämonen der Hölle in grottesker Form vor Augen geführt wurde.
Darum hat auch das Inferno Dantes nachweislich einen viel tiefern Eindruck auf
seine Zeitgenossen, auf das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert gemacht, als die
beiden andern Teile der Göttlichen Komödie.

Nicht in dem Streben, den Text Dantes zu erklären, sondern in der Absicht, seine
Gestalten mit den Mitteln der Zeichnung und der Malerei künstlerisch zu bewältigen,
liegt also die Bedeutung der illustrirten Handschriften, und das hat Volkmann
richtig erkannt, ohne daß er die philologische Methode zu Hilfe zu nehmen brauchte.
Das wichtigste Ergebnis, zu dem man ans dem vergleichenden Studium dieser Hand¬
schriften gelangt, sieht er darin, "daß in ihnen das Stoffliche, Inhaltliche der zu
lösenden Aufgabe ganz allmählich bewältigt und geklärt wurde, sodaß die Spätern
dann mühelos an den geistigen und formalen Ausbau herantreten konnten. Das
Ringen und Suchen nach der richtigen Gestaltung der Figuren Dantes ist es, was
die Handschriften so außerordentlich wichtig und interessant macht." Obgleich aber
anderthalb Jahrhunderte nur für die Ausbildung fester Typen verbraucht wurden,
vermag nach Volkmnnns Urteil -- und die von ihm, von Bassermann und Kraus
mitgeteilten zahlreichen Proben bestätigen es -- keins dieser Werke uus ganz zu
befriedigen. "Namentlich aber war bei allen Buchillustratoren die Beherrschung
der Form noch nicht weit genug entwickelt, um das gewaltige Leben, das durch
Dantes Dichtung weht, auch den Bildern einzuhauchen, um die großartigen Szenen
auch großartig zu verkörpern. Um das zu erreichen, mußte erst ein neuer Geist
die Kunst beseelen, der Geist der Renaissance, und es mußte eine bedeutende Künstler¬
individualität an die Aufgabe herantreten."

Das war Botticelli, dessen bekannte, jetzt allgemein durch Reproduktionen zu¬
gänglich gemachte Illustrationen einer Pergamenthandschrift zwar noch in vielen
Teilen, namentlich in der grottesken Bildung der Teufel und in der Gestaltung der
antiken Personen als Dämonen, im Banne mittelalterlicher Anschauung stehen, der
aber daneben die Elemente der Renaissancekunst eingeführt hat: die Anmut der
Form, das Streben nach seelischem Ausdruck der Figuren und die Freude an der
Darstellung des nackten menschlichen Körpers. Auch in der "diskursiven Schilde-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

dem Kunsthistoriker allein nicht möglich sein" werde, und er stellt wenigstens die
Grundsätze auf, nach denen der Philologe mit seiner Textkritik und seinen Unter¬
suchungen über das Vcrwandtschaftsverhältnis der einzelnen Handschriften dem Kunst¬
historiker zu Hilfe kommen foll.

Der Danteforscher hat gewiß Recht, wenn er diese Forderung ausstellt. Er
glaubt nämlich, daß die Illustration Beiträge zur Erklärung des Textes liefern
könne, und er verlangt, daß daraufhin die Arbeiten der Miniatoren und Zeichner
geprüft werden müssen. Wir meinen dagegen, daß diese sehr mühevolle Arbeit zu
keinem wichtigen Ergebnis führen wird, weil es den Buchmalern des vierzehnten
und fünfzehnten Jahrhunderts in ihren Malereien und Zeichnungen keineswegs
darauf ankam, die tiefsten Gedanken des Dichters zu ergründen und irgendwie
künstlerisch zu gestalten, sondern daß sie nur die einzelnen Figuren, die der Dichter
erscheinen, handeln und leiden läßt, versinnlichen wollten. Die ganze Arbeit dieser
Künstler, die doch zum großen Teil diesen Namen kaum verdienen, lief einfach
darauf hinaus, die phantastischen Gestalten der Hölle, der Gemarterten und ihrer
Quälgeister, nach den bisweilen sehr dunkeln Andentungen Dantes den Auge»
deutlich zu machen. Die Illustratoren wußten dabei sehr wohl, was sie thaten.
Sie kamen damit nur den Gefühlen der Menschen entgegen, für die sie arbeiteten,
die sich vor den Höllenstrafen fürchteten, aber doch auch lachten, wenn ihnen das
Gebaren der Dämonen der Hölle in grottesker Form vor Augen geführt wurde.
Darum hat auch das Inferno Dantes nachweislich einen viel tiefern Eindruck auf
seine Zeitgenossen, auf das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert gemacht, als die
beiden andern Teile der Göttlichen Komödie.

Nicht in dem Streben, den Text Dantes zu erklären, sondern in der Absicht, seine
Gestalten mit den Mitteln der Zeichnung und der Malerei künstlerisch zu bewältigen,
liegt also die Bedeutung der illustrirten Handschriften, und das hat Volkmann
richtig erkannt, ohne daß er die philologische Methode zu Hilfe zu nehmen brauchte.
Das wichtigste Ergebnis, zu dem man ans dem vergleichenden Studium dieser Hand¬
schriften gelangt, sieht er darin, „daß in ihnen das Stoffliche, Inhaltliche der zu
lösenden Aufgabe ganz allmählich bewältigt und geklärt wurde, sodaß die Spätern
dann mühelos an den geistigen und formalen Ausbau herantreten konnten. Das
Ringen und Suchen nach der richtigen Gestaltung der Figuren Dantes ist es, was
die Handschriften so außerordentlich wichtig und interessant macht." Obgleich aber
anderthalb Jahrhunderte nur für die Ausbildung fester Typen verbraucht wurden,
vermag nach Volkmnnns Urteil — und die von ihm, von Bassermann und Kraus
mitgeteilten zahlreichen Proben bestätigen es — keins dieser Werke uus ganz zu
befriedigen. „Namentlich aber war bei allen Buchillustratoren die Beherrschung
der Form noch nicht weit genug entwickelt, um das gewaltige Leben, das durch
Dantes Dichtung weht, auch den Bildern einzuhauchen, um die großartigen Szenen
auch großartig zu verkörpern. Um das zu erreichen, mußte erst ein neuer Geist
die Kunst beseelen, der Geist der Renaissance, und es mußte eine bedeutende Künstler¬
individualität an die Aufgabe herantreten."

Das war Botticelli, dessen bekannte, jetzt allgemein durch Reproduktionen zu¬
gänglich gemachte Illustrationen einer Pergamenthandschrift zwar noch in vielen
Teilen, namentlich in der grottesken Bildung der Teufel und in der Gestaltung der
antiken Personen als Dämonen, im Banne mittelalterlicher Anschauung stehen, der
aber daneben die Elemente der Renaissancekunst eingeführt hat: die Anmut der
Form, das Streben nach seelischem Ausdruck der Figuren und die Freude an der
Darstellung des nackten menschlichen Körpers. Auch in der „diskursiven Schilde-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/445>, abgerufen am 12.12.2024.