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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Spuren im Schnee

denn darauf verstehe er sich nicht, daß aber keine Novellen mehr geschrieben würden,
das sei kein Wunder, denn wenn das Leben selber, oder das Schicksal, oder wie
man es nun nennen wolle, einem ausnahmsweise einmal die Möglichkeit biete,
etwas zu erleben, so greife man nicht zu. Wir handeln überhaupt nie mehr nach
Eingebungen, schloß er, sondern nach Überlegung, und das ist das Unglück. Trifft
einer von uns jetzt auf dein Heimwege seine gute Fee, ja, dann hat er doch nicht
den Mut, ihr nun gleich zu folgen, er muß sich erst bedenken, und dann ist es
zu spät. Ja wenn sie ihn noch einmal anrufen wollte, dann vielleicht -- aber
das thut das Schicksal oder das Glück nicht.

Leutnant Hog wohnte in der Ghldeulövesgade und würde unter andern Um¬
ständen selbstverständlich aus alter Gewohnheit den längsten Heimweg, "den Strich"
gewählt haben, als er aber Abschied von den Kameraden genommen und bemerkt
hatte, daß ihm der Schnee hoch über die Galoschen ging und sich unter den aus-
geschlagnen Kragen seines Ulsters bohrte, da entschloß er sich, einen Richtweg durch
die kleinen Straßen einzuschlagen, in die ein guter Kopenhagner sonst niemals
kommt.

Was es eigentlich für Straßen waren, durch die er schritt, darüber legte er
sich selber keine Rechenschaft ab; er wollte nur nach dem Boulevard hinaus, als
er aber von der Se. Pedersträde instinktmäßig rechtsum in die Larsleisträde bog,
sah er zufällig auf und war ganz überrascht von dem Bilde, das plötzlich vor
ihm lag.

Die Larsleisträde ist nämlich einer der wenigen Orte in Kopenhagen, wo
man sich -- wenigstens des Abends -- mit etwas gutem Willen noch in König
Hansens Zeiten zurückversetzen kann. Zur Linken liegt das "Pele Stift" mit den
lieben kleinen Fensterscheiben und springt in der schmalen Gasse so stark vor, daß
diese vollkommen abgeschlossen erscheint, und zur Linken erstreckt sich die hohe Kirch¬
hofmauer von Se. Peter mit der großen, rnndbogigen Thorwegnische und dein
spitzen Giebel der Kapelle; die Laternen sind aus Rücksicht auf den Platz an den
Mauern angebracht, das Pflaster ist holprig, und menschenleer ist es hier immer.

Doppelt stark war mindestens der Eindruck von einem gewisse" Etwas, das
der Vergangenheit angehörte, jetzt, wo die Gasse eine große, wilde Schneewehe
war; aus einem vereinzelten, halbverschneiten Fenster leuchtete ein matter Schimmer,
als falle er durch eine Hornscheibe, und wenn die Bänme auf dem Kirchhof
knarrten und ächzten, konnte man diese Töne gut für deu Wiederhall der Vigilien
der Mönche halten.

Was wohl am Ende dieser Gasse liegen mag? fragte sich Leutnant Hog un¬
willkürlich, und unter ganz normalen Verhältnissen würde er vermutlich geantwortet
haben: Ja ich weiß freilich nicht bestimmt, wo ich bin, aber der Boulevard muß
irgendwo da draußen liegen. Jetzt aber, wo er, ohne etwa zu viel getrunken zu
haben, doch in der gehobnen Stimmung war, in der man geneigt ist, der Phantasie
die Zügel schießen zu lassen und Träume zu spinnen, denen man sonst sofort den
Laufpaß giebt, jetzt antwortete er sich selber: Da draußen liegt natürlich das
Mittelalter, und wenn du nur immer geradeaus wauderst, gehst du geradeswegs
dahinein!

Aber als er ein paar Schritte an der Volksschule vorübergekommen war, und
die Straße wieder breiter wurde, verschwand die Romantik, und er sagte halblaut
und lächelnd zu sich selbst: Unsinn! Was soll ich im Mittelalter! Ich will ja
"ach Hanse in die Gyldenlövesgade, und morgen will ich nach Jütland -- salls
überhaupt ein Zug geht!


Spuren im Schnee

denn darauf verstehe er sich nicht, daß aber keine Novellen mehr geschrieben würden,
das sei kein Wunder, denn wenn das Leben selber, oder das Schicksal, oder wie
man es nun nennen wolle, einem ausnahmsweise einmal die Möglichkeit biete,
etwas zu erleben, so greife man nicht zu. Wir handeln überhaupt nie mehr nach
Eingebungen, schloß er, sondern nach Überlegung, und das ist das Unglück. Trifft
einer von uns jetzt auf dein Heimwege seine gute Fee, ja, dann hat er doch nicht
den Mut, ihr nun gleich zu folgen, er muß sich erst bedenken, und dann ist es
zu spät. Ja wenn sie ihn noch einmal anrufen wollte, dann vielleicht — aber
das thut das Schicksal oder das Glück nicht.

Leutnant Hog wohnte in der Ghldeulövesgade und würde unter andern Um¬
ständen selbstverständlich aus alter Gewohnheit den längsten Heimweg, „den Strich"
gewählt haben, als er aber Abschied von den Kameraden genommen und bemerkt
hatte, daß ihm der Schnee hoch über die Galoschen ging und sich unter den aus-
geschlagnen Kragen seines Ulsters bohrte, da entschloß er sich, einen Richtweg durch
die kleinen Straßen einzuschlagen, in die ein guter Kopenhagner sonst niemals
kommt.

Was es eigentlich für Straßen waren, durch die er schritt, darüber legte er
sich selber keine Rechenschaft ab; er wollte nur nach dem Boulevard hinaus, als
er aber von der Se. Pedersträde instinktmäßig rechtsum in die Larsleisträde bog,
sah er zufällig auf und war ganz überrascht von dem Bilde, das plötzlich vor
ihm lag.

Die Larsleisträde ist nämlich einer der wenigen Orte in Kopenhagen, wo
man sich — wenigstens des Abends — mit etwas gutem Willen noch in König
Hansens Zeiten zurückversetzen kann. Zur Linken liegt das „Pele Stift" mit den
lieben kleinen Fensterscheiben und springt in der schmalen Gasse so stark vor, daß
diese vollkommen abgeschlossen erscheint, und zur Linken erstreckt sich die hohe Kirch¬
hofmauer von Se. Peter mit der großen, rnndbogigen Thorwegnische und dein
spitzen Giebel der Kapelle; die Laternen sind aus Rücksicht auf den Platz an den
Mauern angebracht, das Pflaster ist holprig, und menschenleer ist es hier immer.

Doppelt stark war mindestens der Eindruck von einem gewisse» Etwas, das
der Vergangenheit angehörte, jetzt, wo die Gasse eine große, wilde Schneewehe
war; aus einem vereinzelten, halbverschneiten Fenster leuchtete ein matter Schimmer,
als falle er durch eine Hornscheibe, und wenn die Bänme auf dem Kirchhof
knarrten und ächzten, konnte man diese Töne gut für deu Wiederhall der Vigilien
der Mönche halten.

Was wohl am Ende dieser Gasse liegen mag? fragte sich Leutnant Hog un¬
willkürlich, und unter ganz normalen Verhältnissen würde er vermutlich geantwortet
haben: Ja ich weiß freilich nicht bestimmt, wo ich bin, aber der Boulevard muß
irgendwo da draußen liegen. Jetzt aber, wo er, ohne etwa zu viel getrunken zu
haben, doch in der gehobnen Stimmung war, in der man geneigt ist, der Phantasie
die Zügel schießen zu lassen und Träume zu spinnen, denen man sonst sofort den
Laufpaß giebt, jetzt antwortete er sich selber: Da draußen liegt natürlich das
Mittelalter, und wenn du nur immer geradeaus wauderst, gehst du geradeswegs
dahinein!

Aber als er ein paar Schritte an der Volksschule vorübergekommen war, und
die Straße wieder breiter wurde, verschwand die Romantik, und er sagte halblaut
und lächelnd zu sich selbst: Unsinn! Was soll ich im Mittelalter! Ich will ja
»ach Hanse in die Gyldenlövesgade, und morgen will ich nach Jütland — salls
überhaupt ein Zug geht!


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[0437] Spuren im Schnee denn darauf verstehe er sich nicht, daß aber keine Novellen mehr geschrieben würden, das sei kein Wunder, denn wenn das Leben selber, oder das Schicksal, oder wie man es nun nennen wolle, einem ausnahmsweise einmal die Möglichkeit biete, etwas zu erleben, so greife man nicht zu. Wir handeln überhaupt nie mehr nach Eingebungen, schloß er, sondern nach Überlegung, und das ist das Unglück. Trifft einer von uns jetzt auf dein Heimwege seine gute Fee, ja, dann hat er doch nicht den Mut, ihr nun gleich zu folgen, er muß sich erst bedenken, und dann ist es zu spät. Ja wenn sie ihn noch einmal anrufen wollte, dann vielleicht — aber das thut das Schicksal oder das Glück nicht. Leutnant Hog wohnte in der Ghldeulövesgade und würde unter andern Um¬ ständen selbstverständlich aus alter Gewohnheit den längsten Heimweg, „den Strich" gewählt haben, als er aber Abschied von den Kameraden genommen und bemerkt hatte, daß ihm der Schnee hoch über die Galoschen ging und sich unter den aus- geschlagnen Kragen seines Ulsters bohrte, da entschloß er sich, einen Richtweg durch die kleinen Straßen einzuschlagen, in die ein guter Kopenhagner sonst niemals kommt. Was es eigentlich für Straßen waren, durch die er schritt, darüber legte er sich selber keine Rechenschaft ab; er wollte nur nach dem Boulevard hinaus, als er aber von der Se. Pedersträde instinktmäßig rechtsum in die Larsleisträde bog, sah er zufällig auf und war ganz überrascht von dem Bilde, das plötzlich vor ihm lag. Die Larsleisträde ist nämlich einer der wenigen Orte in Kopenhagen, wo man sich — wenigstens des Abends — mit etwas gutem Willen noch in König Hansens Zeiten zurückversetzen kann. Zur Linken liegt das „Pele Stift" mit den lieben kleinen Fensterscheiben und springt in der schmalen Gasse so stark vor, daß diese vollkommen abgeschlossen erscheint, und zur Linken erstreckt sich die hohe Kirch¬ hofmauer von Se. Peter mit der großen, rnndbogigen Thorwegnische und dein spitzen Giebel der Kapelle; die Laternen sind aus Rücksicht auf den Platz an den Mauern angebracht, das Pflaster ist holprig, und menschenleer ist es hier immer. Doppelt stark war mindestens der Eindruck von einem gewisse» Etwas, das der Vergangenheit angehörte, jetzt, wo die Gasse eine große, wilde Schneewehe war; aus einem vereinzelten, halbverschneiten Fenster leuchtete ein matter Schimmer, als falle er durch eine Hornscheibe, und wenn die Bänme auf dem Kirchhof knarrten und ächzten, konnte man diese Töne gut für deu Wiederhall der Vigilien der Mönche halten. Was wohl am Ende dieser Gasse liegen mag? fragte sich Leutnant Hog un¬ willkürlich, und unter ganz normalen Verhältnissen würde er vermutlich geantwortet haben: Ja ich weiß freilich nicht bestimmt, wo ich bin, aber der Boulevard muß irgendwo da draußen liegen. Jetzt aber, wo er, ohne etwa zu viel getrunken zu haben, doch in der gehobnen Stimmung war, in der man geneigt ist, der Phantasie die Zügel schießen zu lassen und Träume zu spinnen, denen man sonst sofort den Laufpaß giebt, jetzt antwortete er sich selber: Da draußen liegt natürlich das Mittelalter, und wenn du nur immer geradeaus wauderst, gehst du geradeswegs dahinein! Aber als er ein paar Schritte an der Volksschule vorübergekommen war, und die Straße wieder breiter wurde, verschwand die Romantik, und er sagte halblaut und lächelnd zu sich selbst: Unsinn! Was soll ich im Mittelalter! Ich will ja »ach Hanse in die Gyldenlövesgade, und morgen will ich nach Jütland — salls überhaupt ein Zug geht!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/437>, abgerufen am 12.12.2024.