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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit?

diesen ernsten Ausführungen gegenüber ein ernstes Gesicht zu behalten. Dem
tollen Othello, der Schlange Kleopcttra, Correggios "Leda mit dem Schwan,"
der fessellosen Leidenschaft Tristans und Isoldens, der Sommernachtsliebe
Nomeos und Julias -- all diesen und vielen andern wilden Stimmungen
und großen Leidenschaften gegenüber, die wir normalen Menschen nur als
immer und immer wiederkehrendes Aufbäumen ungewöhnlicher Naturen an¬
staunen, vielleicht auch tief, aber machtlos beklagen können -- will der "Priester
in korrekter Weise einen moralischen Maßstab anlegen"! Fühlen Sie denn
nicht, verehrter Pater Gietmann, daß diese seelsorgerischen Ausdrücke auf diesem
Gebiete völlig verfehlt und unzureichend sind? Aber weiter: ein dritter Grund¬
satz und Einwand Gietmanns fügt sich ganz logisch an diese beiden ersten an.
Veremundus hat mit Nachdruck und vollem Recht, fußend auf einer thatsäch¬
lichen Errungenschaft der neuzeitlichen Ästhetik, den Selbstzweck aller Kunst
betont. Das klingt ja in der That beinahe ungesetzlich, liberal, autoritäts¬
feindlich, ist aber auch für den konservativsten Ästhetiker ein unbedingt an¬
nehmbarer und beweiskräftiger Satz, wenn man ihm nur ein wenig Nach¬
denken gönnt. Wenn das künstlerische Schaffen richtig erkannt wird als ein
lauteres Widerspiegeln der Welt mit all ihren Gestalten und Geschehnissen,
geordnet vom künstlerischen Verstand, beurteilt und eingereiht vom Gewissen
des Künstlers -- so liegt es doch auf der Hand, daß die Persönlichkeit, die
wahrhaft künstlerisch thätig ist, so in Anschauung, Empfindung und Gestaltung
während ihres Schaffens aufgeht, und daß all ihr Widerspiegeln derart Aus¬
fluß ihres Wesens ist, daß der Ästhetiker nur dieses Wesen und dieses Schaffen
feststellen und beurteilen, nicht aber moralisiren kann und darf. Das letzte
geht den Menschen an und ist freilich Sache des Seelsorgers, nicht Sache des
Ästhetikers; denn eine menschlich unsittliche Sache kann dennoch höchst künst¬
lerisch und genial geformt oder ausgesprochen werden, das müssen auch die
Gegner Voltaires oder Heines anerkennen. Mit einer radikalen Verurteilung
ist es hier eben nicht gethan; es gehört die Überwindung des Wissenschaftlers
und die Unbefangenheit eines gereiften Mannes dazu, hier zwischen Künstler
und Menschen scharf zu unterscheiden.

Aber noch mehr, man kann weiter gehen und selbst diese Unterscheidungen
zwischen Mensch und Künstler fallen lassen: und der ästhetische Grundsatz
von der Einheitlichkeit aller Kunst behält dennoch recht. Man kann nämlich
-- und das ist schon ein wichtiger Satz Goethes, von Jean Paul ganz
zu schweigen! -- den Begriff "Schönheit" so voll und tief fassen, daß das
Menschlich-Sittliche, das Charakterschöne darin inbegriffen ist. Nicht aus
seelsorgerischen Gründen, sondern aus rein ästhetischen -- Ästhetik freilich
tiefer und weiter gefaßt -- würden dann Erscheinungen wie Heine in ihrer
Gesamtheit verworfen werden, wie das heute thatsächlich auch von nicht¬
konservativer Seite vielfach geschieht. Und so, in diesem vertieften Sinne, will


Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit?

diesen ernsten Ausführungen gegenüber ein ernstes Gesicht zu behalten. Dem
tollen Othello, der Schlange Kleopcttra, Correggios „Leda mit dem Schwan,"
der fessellosen Leidenschaft Tristans und Isoldens, der Sommernachtsliebe
Nomeos und Julias — all diesen und vielen andern wilden Stimmungen
und großen Leidenschaften gegenüber, die wir normalen Menschen nur als
immer und immer wiederkehrendes Aufbäumen ungewöhnlicher Naturen an¬
staunen, vielleicht auch tief, aber machtlos beklagen können — will der „Priester
in korrekter Weise einen moralischen Maßstab anlegen"! Fühlen Sie denn
nicht, verehrter Pater Gietmann, daß diese seelsorgerischen Ausdrücke auf diesem
Gebiete völlig verfehlt und unzureichend sind? Aber weiter: ein dritter Grund¬
satz und Einwand Gietmanns fügt sich ganz logisch an diese beiden ersten an.
Veremundus hat mit Nachdruck und vollem Recht, fußend auf einer thatsäch¬
lichen Errungenschaft der neuzeitlichen Ästhetik, den Selbstzweck aller Kunst
betont. Das klingt ja in der That beinahe ungesetzlich, liberal, autoritäts¬
feindlich, ist aber auch für den konservativsten Ästhetiker ein unbedingt an¬
nehmbarer und beweiskräftiger Satz, wenn man ihm nur ein wenig Nach¬
denken gönnt. Wenn das künstlerische Schaffen richtig erkannt wird als ein
lauteres Widerspiegeln der Welt mit all ihren Gestalten und Geschehnissen,
geordnet vom künstlerischen Verstand, beurteilt und eingereiht vom Gewissen
des Künstlers — so liegt es doch auf der Hand, daß die Persönlichkeit, die
wahrhaft künstlerisch thätig ist, so in Anschauung, Empfindung und Gestaltung
während ihres Schaffens aufgeht, und daß all ihr Widerspiegeln derart Aus¬
fluß ihres Wesens ist, daß der Ästhetiker nur dieses Wesen und dieses Schaffen
feststellen und beurteilen, nicht aber moralisiren kann und darf. Das letzte
geht den Menschen an und ist freilich Sache des Seelsorgers, nicht Sache des
Ästhetikers; denn eine menschlich unsittliche Sache kann dennoch höchst künst¬
lerisch und genial geformt oder ausgesprochen werden, das müssen auch die
Gegner Voltaires oder Heines anerkennen. Mit einer radikalen Verurteilung
ist es hier eben nicht gethan; es gehört die Überwindung des Wissenschaftlers
und die Unbefangenheit eines gereiften Mannes dazu, hier zwischen Künstler
und Menschen scharf zu unterscheiden.

Aber noch mehr, man kann weiter gehen und selbst diese Unterscheidungen
zwischen Mensch und Künstler fallen lassen: und der ästhetische Grundsatz
von der Einheitlichkeit aller Kunst behält dennoch recht. Man kann nämlich
— und das ist schon ein wichtiger Satz Goethes, von Jean Paul ganz
zu schweigen! — den Begriff „Schönheit" so voll und tief fassen, daß das
Menschlich-Sittliche, das Charakterschöne darin inbegriffen ist. Nicht aus
seelsorgerischen Gründen, sondern aus rein ästhetischen — Ästhetik freilich
tiefer und weiter gefaßt — würden dann Erscheinungen wie Heine in ihrer
Gesamtheit verworfen werden, wie das heute thatsächlich auch von nicht¬
konservativer Seite vielfach geschieht. Und so, in diesem vertieften Sinne, will


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[0423] Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit? diesen ernsten Ausführungen gegenüber ein ernstes Gesicht zu behalten. Dem tollen Othello, der Schlange Kleopcttra, Correggios „Leda mit dem Schwan," der fessellosen Leidenschaft Tristans und Isoldens, der Sommernachtsliebe Nomeos und Julias — all diesen und vielen andern wilden Stimmungen und großen Leidenschaften gegenüber, die wir normalen Menschen nur als immer und immer wiederkehrendes Aufbäumen ungewöhnlicher Naturen an¬ staunen, vielleicht auch tief, aber machtlos beklagen können — will der „Priester in korrekter Weise einen moralischen Maßstab anlegen"! Fühlen Sie denn nicht, verehrter Pater Gietmann, daß diese seelsorgerischen Ausdrücke auf diesem Gebiete völlig verfehlt und unzureichend sind? Aber weiter: ein dritter Grund¬ satz und Einwand Gietmanns fügt sich ganz logisch an diese beiden ersten an. Veremundus hat mit Nachdruck und vollem Recht, fußend auf einer thatsäch¬ lichen Errungenschaft der neuzeitlichen Ästhetik, den Selbstzweck aller Kunst betont. Das klingt ja in der That beinahe ungesetzlich, liberal, autoritäts¬ feindlich, ist aber auch für den konservativsten Ästhetiker ein unbedingt an¬ nehmbarer und beweiskräftiger Satz, wenn man ihm nur ein wenig Nach¬ denken gönnt. Wenn das künstlerische Schaffen richtig erkannt wird als ein lauteres Widerspiegeln der Welt mit all ihren Gestalten und Geschehnissen, geordnet vom künstlerischen Verstand, beurteilt und eingereiht vom Gewissen des Künstlers — so liegt es doch auf der Hand, daß die Persönlichkeit, die wahrhaft künstlerisch thätig ist, so in Anschauung, Empfindung und Gestaltung während ihres Schaffens aufgeht, und daß all ihr Widerspiegeln derart Aus¬ fluß ihres Wesens ist, daß der Ästhetiker nur dieses Wesen und dieses Schaffen feststellen und beurteilen, nicht aber moralisiren kann und darf. Das letzte geht den Menschen an und ist freilich Sache des Seelsorgers, nicht Sache des Ästhetikers; denn eine menschlich unsittliche Sache kann dennoch höchst künst¬ lerisch und genial geformt oder ausgesprochen werden, das müssen auch die Gegner Voltaires oder Heines anerkennen. Mit einer radikalen Verurteilung ist es hier eben nicht gethan; es gehört die Überwindung des Wissenschaftlers und die Unbefangenheit eines gereiften Mannes dazu, hier zwischen Künstler und Menschen scharf zu unterscheiden. Aber noch mehr, man kann weiter gehen und selbst diese Unterscheidungen zwischen Mensch und Künstler fallen lassen: und der ästhetische Grundsatz von der Einheitlichkeit aller Kunst behält dennoch recht. Man kann nämlich — und das ist schon ein wichtiger Satz Goethes, von Jean Paul ganz zu schweigen! — den Begriff „Schönheit" so voll und tief fassen, daß das Menschlich-Sittliche, das Charakterschöne darin inbegriffen ist. Nicht aus seelsorgerischen Gründen, sondern aus rein ästhetischen — Ästhetik freilich tiefer und weiter gefaßt — würden dann Erscheinungen wie Heine in ihrer Gesamtheit verworfen werden, wie das heute thatsächlich auch von nicht¬ konservativer Seite vielfach geschieht. Und so, in diesem vertieften Sinne, will

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/423>, abgerufen am 24.07.2024.