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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

da ein andrer Vogel an den Kopf." Der Knabe entflieht. Hierzu giebt uns
Sittenbergcr eine etwa ebenso lange Analyse, an deren Schluß er meint:
"Genialer ist Robespierre wohl noch kaum aufgefaßt worden." Da bin ich
nun freilich viel anspruchsvoller, mich erinnert das an die vielen Anwendungen
bekannter Rezepte: Cincinnatus hinterm Pflug, der Schlachteugewinner in der
Kinderstube als Reittier seines Jüngsten usw., das nimmt mir alle Ehrfurcht,
und da die Szene doch mich nicht spaßhaft aufgefaßt sein will, so kann ich
dem Wort genial nur ein ganz andres gegenüberstellen: abgeschmackt!

Mit den ästhetischen Einzelurteileu ist es ja eigentlich eine ganz wunder¬
bare Sache. Sittenberger spricht sehr schön über Anzengrubers Begabung, er
habe das Bauernstück aus der Idylle und der sentimentalen Stilisirung erst
in die wehre Natur des Bauern verlegt, in das, was ihn wirklich umgiebt
und erfüllt und bewegt, das soziale Leben mit seinen Nöten und Hoffnungen.
So etwas, meint er manu weiter sehr richtig, müsse nicht nur obenhin geist¬
reich erfunden oder gelegentlich einmal beobachtet, sondern vielfach erfahren und
tief studirt werden. Nur dann seien die Gestalten des Dichters überzeugend.
"Sie werden glaublich sein, einfach weil sie sind. Nebenbei gesagt, ist das
der Grund, weshalb die realistische Dichtung nicht durch die Grenzen der
Wirklichkeit beschränkt ist. Das oft mißverstandene Wort von der innern
Wahrheit soll nur soviel sagen, daß die Schöpfungen der Kunst eigne Existenz
haben. Sie mögen der Erfahrung widersprechen, das thut nichts; nnr eins
dürfen sie nicht: sich selbst widersprechen." Bis hierher ist alles gut. Aber
nun kommeu die Stolpersteine, die unsre Eintracht zu Fall bringen. "Nix und
Waldgeist und Elfe, kaum unsre Kinder glauben noch daran, und doch wird
es niemand, der die Versuutne Glocke sieht, einfallen, an der Existenz Nickel¬
manns, des Waldschrats und Rautendeleins zu zweifeln, er sei denn der dick¬
köpfigste Philister von der Welt." Als solcher melde ich mich, und ich glaube,
ich werde mich in ganz guter Gesellschaft befinden. "Dagegen giebt es sehr
mele Baumeister und noch mehr Paralytiker, und doch wird niemand, der sich
uicht bethören lassen will, einen Solneß oder einen Oswald Alving für wahr
nehmen." Wieder ganz einverstanden!

Dies führt uns auf die "moderne Richtung." soweit sie nach Wien ge¬
kommen ist, verhältnismäßig spät, in den letzten, anlaufenden Wellen, sodaß
die Wiener Dichter unter denen deutscher Zunge die jüngsten sind. Den
einzelnen, die wir nicht verfolgen wollen, läßt der Verfasser in vielen Dingen,
wo sie es verdienen, Lob widerfahren, als Ganzes gilt ihm die Richtung
nicht viel, das Geleistete ist wenig, und eine etwas verheißende Aussicht in
die Zukunft kaum vorhanden. Wir geben einige seiner Urteile und begleiten
sie mit unsern Bemerkungen.

Wahre und große Kunst weiß aus alten Stoffen und längstbekannten
Fabeln etwas zu machen, das Neue liegt jedesmal in der ungesuchten Natür¬
lichkeit der Ausführung. Mit dem absichtlichen Suchen nach neuen Stoffen


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

da ein andrer Vogel an den Kopf." Der Knabe entflieht. Hierzu giebt uns
Sittenbergcr eine etwa ebenso lange Analyse, an deren Schluß er meint:
„Genialer ist Robespierre wohl noch kaum aufgefaßt worden." Da bin ich
nun freilich viel anspruchsvoller, mich erinnert das an die vielen Anwendungen
bekannter Rezepte: Cincinnatus hinterm Pflug, der Schlachteugewinner in der
Kinderstube als Reittier seines Jüngsten usw., das nimmt mir alle Ehrfurcht,
und da die Szene doch mich nicht spaßhaft aufgefaßt sein will, so kann ich
dem Wort genial nur ein ganz andres gegenüberstellen: abgeschmackt!

Mit den ästhetischen Einzelurteileu ist es ja eigentlich eine ganz wunder¬
bare Sache. Sittenberger spricht sehr schön über Anzengrubers Begabung, er
habe das Bauernstück aus der Idylle und der sentimentalen Stilisirung erst
in die wehre Natur des Bauern verlegt, in das, was ihn wirklich umgiebt
und erfüllt und bewegt, das soziale Leben mit seinen Nöten und Hoffnungen.
So etwas, meint er manu weiter sehr richtig, müsse nicht nur obenhin geist¬
reich erfunden oder gelegentlich einmal beobachtet, sondern vielfach erfahren und
tief studirt werden. Nur dann seien die Gestalten des Dichters überzeugend.
«Sie werden glaublich sein, einfach weil sie sind. Nebenbei gesagt, ist das
der Grund, weshalb die realistische Dichtung nicht durch die Grenzen der
Wirklichkeit beschränkt ist. Das oft mißverstandene Wort von der innern
Wahrheit soll nur soviel sagen, daß die Schöpfungen der Kunst eigne Existenz
haben. Sie mögen der Erfahrung widersprechen, das thut nichts; nnr eins
dürfen sie nicht: sich selbst widersprechen." Bis hierher ist alles gut. Aber
nun kommeu die Stolpersteine, die unsre Eintracht zu Fall bringen. „Nix und
Waldgeist und Elfe, kaum unsre Kinder glauben noch daran, und doch wird
es niemand, der die Versuutne Glocke sieht, einfallen, an der Existenz Nickel¬
manns, des Waldschrats und Rautendeleins zu zweifeln, er sei denn der dick¬
köpfigste Philister von der Welt." Als solcher melde ich mich, und ich glaube,
ich werde mich in ganz guter Gesellschaft befinden. „Dagegen giebt es sehr
mele Baumeister und noch mehr Paralytiker, und doch wird niemand, der sich
uicht bethören lassen will, einen Solneß oder einen Oswald Alving für wahr
nehmen." Wieder ganz einverstanden!

Dies führt uns auf die „moderne Richtung." soweit sie nach Wien ge¬
kommen ist, verhältnismäßig spät, in den letzten, anlaufenden Wellen, sodaß
die Wiener Dichter unter denen deutscher Zunge die jüngsten sind. Den
einzelnen, die wir nicht verfolgen wollen, läßt der Verfasser in vielen Dingen,
wo sie es verdienen, Lob widerfahren, als Ganzes gilt ihm die Richtung
nicht viel, das Geleistete ist wenig, und eine etwas verheißende Aussicht in
die Zukunft kaum vorhanden. Wir geben einige seiner Urteile und begleiten
sie mit unsern Bemerkungen.

Wahre und große Kunst weiß aus alten Stoffen und längstbekannten
Fabeln etwas zu machen, das Neue liegt jedesmal in der ungesuchten Natür¬
lichkeit der Ausführung. Mit dem absichtlichen Suchen nach neuen Stoffen


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[0041] Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche da ein andrer Vogel an den Kopf." Der Knabe entflieht. Hierzu giebt uns Sittenbergcr eine etwa ebenso lange Analyse, an deren Schluß er meint: „Genialer ist Robespierre wohl noch kaum aufgefaßt worden." Da bin ich nun freilich viel anspruchsvoller, mich erinnert das an die vielen Anwendungen bekannter Rezepte: Cincinnatus hinterm Pflug, der Schlachteugewinner in der Kinderstube als Reittier seines Jüngsten usw., das nimmt mir alle Ehrfurcht, und da die Szene doch mich nicht spaßhaft aufgefaßt sein will, so kann ich dem Wort genial nur ein ganz andres gegenüberstellen: abgeschmackt! Mit den ästhetischen Einzelurteileu ist es ja eigentlich eine ganz wunder¬ bare Sache. Sittenberger spricht sehr schön über Anzengrubers Begabung, er habe das Bauernstück aus der Idylle und der sentimentalen Stilisirung erst in die wehre Natur des Bauern verlegt, in das, was ihn wirklich umgiebt und erfüllt und bewegt, das soziale Leben mit seinen Nöten und Hoffnungen. So etwas, meint er manu weiter sehr richtig, müsse nicht nur obenhin geist¬ reich erfunden oder gelegentlich einmal beobachtet, sondern vielfach erfahren und tief studirt werden. Nur dann seien die Gestalten des Dichters überzeugend. «Sie werden glaublich sein, einfach weil sie sind. Nebenbei gesagt, ist das der Grund, weshalb die realistische Dichtung nicht durch die Grenzen der Wirklichkeit beschränkt ist. Das oft mißverstandene Wort von der innern Wahrheit soll nur soviel sagen, daß die Schöpfungen der Kunst eigne Existenz haben. Sie mögen der Erfahrung widersprechen, das thut nichts; nnr eins dürfen sie nicht: sich selbst widersprechen." Bis hierher ist alles gut. Aber nun kommeu die Stolpersteine, die unsre Eintracht zu Fall bringen. „Nix und Waldgeist und Elfe, kaum unsre Kinder glauben noch daran, und doch wird es niemand, der die Versuutne Glocke sieht, einfallen, an der Existenz Nickel¬ manns, des Waldschrats und Rautendeleins zu zweifeln, er sei denn der dick¬ köpfigste Philister von der Welt." Als solcher melde ich mich, und ich glaube, ich werde mich in ganz guter Gesellschaft befinden. „Dagegen giebt es sehr mele Baumeister und noch mehr Paralytiker, und doch wird niemand, der sich uicht bethören lassen will, einen Solneß oder einen Oswald Alving für wahr nehmen." Wieder ganz einverstanden! Dies führt uns auf die „moderne Richtung." soweit sie nach Wien ge¬ kommen ist, verhältnismäßig spät, in den letzten, anlaufenden Wellen, sodaß die Wiener Dichter unter denen deutscher Zunge die jüngsten sind. Den einzelnen, die wir nicht verfolgen wollen, läßt der Verfasser in vielen Dingen, wo sie es verdienen, Lob widerfahren, als Ganzes gilt ihm die Richtung nicht viel, das Geleistete ist wenig, und eine etwas verheißende Aussicht in die Zukunft kaum vorhanden. Wir geben einige seiner Urteile und begleiten sie mit unsern Bemerkungen. Wahre und große Kunst weiß aus alten Stoffen und längstbekannten Fabeln etwas zu machen, das Neue liegt jedesmal in der ungesuchten Natür¬ lichkeit der Ausführung. Mit dem absichtlichen Suchen nach neuen Stoffen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/41>, abgerufen am 12.12.2024.