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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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angelegten Entwurf seiner Jugendzeit, eine Liebesraserei, bei der die Personen
ihrer Lage gemäß und natürlich handeln, wird über zehn Jahre später eine
"Idee" gebracht, die einzelnen Personen werden zu Typen hinaufgeläutert, und,
was Nissel ganz besonders befriedigte, alle starben an einer tragischen Schuld.
In dieser Form erhielt das Drama den Schillerpreis, aber dafür war es
"schon veraltet, als es zum erstenmale auf der Bühne erschien." Man fand
durchaus kein Interesse an den dramatischen Gedanken und den gehäuften
Ideen, der Gegenstand selbst war ganz gleichgiltig, das Wenige, was hätte
Eindruck machen können, das Persönliche und rein Menschliche, stammte aus
dem alten Entwurf. Anerkennend spricht Sittcnberger über Nissels Nachtlager
Corvins und Heinrich den Löwen, jenes ein keckes, fröhliches Lustspiel, dies"s
ein beinahe ebenso realistisches Trauerspiel trotz starker Hinneigung zu der
Schillerschen Stilhöhe. Die Tragödie enthält wirkungsvolle Szenen, und
sie wird von Figuren gespielt, die zum Teil prächtig sind -- trotzdem hat
sie kein langes Leben auf der Bühne gehabt. Wie kommt das? Wir sind, so
ungefähr meint der Verfasser, von Heinrichs Vaterlandsliebe überzeugt, aber
an den konkreten Verhältnissen, um denen sie sich bemüht, ob Italien oder
Pommern, Preußen oder Dänemark die Zukunft des deutschen Volks bedeuten,
daran liegt uns nichts. Vielleicht kommt auch Heinrich am Schluß zu übel
weg, er hat doch ein gutes Herz gehabt, und in Wien liebt man die guten
Herzen. Aber alles das reicht nicht ans zur Erklärung. Wenn man je Nissel
wieder zu Ehren bringen wollte, so sollte man es mit "Heinrich dem Löwen"
versuchen. "Wohl möglich auch, daß man heutzutage günstiger urteilt. Wenn
Wildenbruchs herzlich schale Dramatisirung des Kaisers Heinrich IV. volle
Häuser zu machen vermag, warum nicht auch Nissels weit gehaltvollere
Tragödie!" Ganz besonders schlecht gemacht wird ein Jugendstück in drei
Akten, der Wohlthäter, ein etwas rührseliges Schauspiel aus dem Bauernleben.
Der Kritiker giebt uns hier eine förmliche Musterkarte von veruuziereuden
Beiwörtern. Mir ist das merkwürdig, weil ich das Stück mit dem besten
Willen nicht für so schlecht habe halten können, für meinen Geschmack oder
meine gemütlichen Bedürfnisse enthält es sogar recht viel hübsches -- mir ist
es merkwürdig, weil es zeigt, wie leicht das subjektive Ermessen von Menschen,
die sich prinzipiell recht gut verständigen würden, dem einzelnen Falle gegen¬
über in eine Dissonanz ausgeht. Zur weitern Erhärtung dessen mache ich
mir das Vergnügen, eine Szene aus Hamerliugs Robespierre kurz zu um¬
schreiben. Er ruht auf einem Baumstamm im Walde von Montmorench aus
und murmelt vor sich hin: "Das Revolutionstribunal entspricht in seiner
gegenwärtigen Einrichtung noch immer nicht ganz seinem Zwecke. Noch
immer zu viel Förmlichkeiten. Was sind ein paar hundert Menschenkopfe
mehr? Herab damit, herab damit!" Es erschallt etwas in den Zweigen
eines Baumes. "Ein verdammter Range, der junge Vögel ausnimmt." Er
ergreift einen Stein. "Herunter, Bube, und laß die Vögel, oder es fliegt dir


angelegten Entwurf seiner Jugendzeit, eine Liebesraserei, bei der die Personen
ihrer Lage gemäß und natürlich handeln, wird über zehn Jahre später eine
„Idee" gebracht, die einzelnen Personen werden zu Typen hinaufgeläutert, und,
was Nissel ganz besonders befriedigte, alle starben an einer tragischen Schuld.
In dieser Form erhielt das Drama den Schillerpreis, aber dafür war es
„schon veraltet, als es zum erstenmale auf der Bühne erschien." Man fand
durchaus kein Interesse an den dramatischen Gedanken und den gehäuften
Ideen, der Gegenstand selbst war ganz gleichgiltig, das Wenige, was hätte
Eindruck machen können, das Persönliche und rein Menschliche, stammte aus
dem alten Entwurf. Anerkennend spricht Sittcnberger über Nissels Nachtlager
Corvins und Heinrich den Löwen, jenes ein keckes, fröhliches Lustspiel, dies»s
ein beinahe ebenso realistisches Trauerspiel trotz starker Hinneigung zu der
Schillerschen Stilhöhe. Die Tragödie enthält wirkungsvolle Szenen, und
sie wird von Figuren gespielt, die zum Teil prächtig sind — trotzdem hat
sie kein langes Leben auf der Bühne gehabt. Wie kommt das? Wir sind, so
ungefähr meint der Verfasser, von Heinrichs Vaterlandsliebe überzeugt, aber
an den konkreten Verhältnissen, um denen sie sich bemüht, ob Italien oder
Pommern, Preußen oder Dänemark die Zukunft des deutschen Volks bedeuten,
daran liegt uns nichts. Vielleicht kommt auch Heinrich am Schluß zu übel
weg, er hat doch ein gutes Herz gehabt, und in Wien liebt man die guten
Herzen. Aber alles das reicht nicht ans zur Erklärung. Wenn man je Nissel
wieder zu Ehren bringen wollte, so sollte man es mit „Heinrich dem Löwen"
versuchen. „Wohl möglich auch, daß man heutzutage günstiger urteilt. Wenn
Wildenbruchs herzlich schale Dramatisirung des Kaisers Heinrich IV. volle
Häuser zu machen vermag, warum nicht auch Nissels weit gehaltvollere
Tragödie!" Ganz besonders schlecht gemacht wird ein Jugendstück in drei
Akten, der Wohlthäter, ein etwas rührseliges Schauspiel aus dem Bauernleben.
Der Kritiker giebt uns hier eine förmliche Musterkarte von veruuziereuden
Beiwörtern. Mir ist das merkwürdig, weil ich das Stück mit dem besten
Willen nicht für so schlecht habe halten können, für meinen Geschmack oder
meine gemütlichen Bedürfnisse enthält es sogar recht viel hübsches — mir ist
es merkwürdig, weil es zeigt, wie leicht das subjektive Ermessen von Menschen,
die sich prinzipiell recht gut verständigen würden, dem einzelnen Falle gegen¬
über in eine Dissonanz ausgeht. Zur weitern Erhärtung dessen mache ich
mir das Vergnügen, eine Szene aus Hamerliugs Robespierre kurz zu um¬
schreiben. Er ruht auf einem Baumstamm im Walde von Montmorench aus
und murmelt vor sich hin: „Das Revolutionstribunal entspricht in seiner
gegenwärtigen Einrichtung noch immer nicht ganz seinem Zwecke. Noch
immer zu viel Förmlichkeiten. Was sind ein paar hundert Menschenkopfe
mehr? Herab damit, herab damit!" Es erschallt etwas in den Zweigen
eines Baumes. „Ein verdammter Range, der junge Vögel ausnimmt." Er
ergreift einen Stein. „Herunter, Bube, und laß die Vögel, oder es fliegt dir


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/40>, abgerufen am 12.12.2024.