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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

feinen und unterhaltend geschrieben Analyse des Verfassers wird sich jeder
gern die Gegenstände dieser unter einander so sehr verschieden dramatischen
Erzeugnisse vergegenwärtigen. Uns liegt mehr daran, seine dramaturgischen
Grundsätze und'sein ästhetisches Bekenntnis kennen zu lernen, die darzulegen
auch für ihn die Hauptsache war. Im allgemeinen ist er durchaus gegen den
übertriebnen Naturalismus der Modernen, und er hat von der Aufgabe eines
Kunstwerks eine wesentlich höhere Auffassung als sie; aber ebenso abweisend
steht er dem klassizistischen Drama gegenüber, sein Wirklichkeitsbedürfnis liegt
zwischen beiden, und er begründet es mit einer reichen Erfahrung in Sachen
der Bühne. Obwohl seinen Ansprüchen nach Praktiker, giebt er uns doch ein
durchdachtes und wohlgefügtes System seines "Realismus," wir müssen es uns
nur aus seinen Urteilen über einzelne Dichter und Dichtungen zusammenstellen.

Seine Charakteristik des früh verstorbnen Franz Nissel ist scharf, aber
nicht nur von seinem theoretischen Bekenntnis aus gerechtfertigt, fondern auch
an sich gerecht. Riffel galt nach Grillparzer als der berufne und edelste Ver¬
treter des höhern Dramas, aber der Erfolg hat längst gegen ihn entschieden.
Seine Freunde meinen, daß daran die Zeit schuld gewesen sei. während uns
der Verfasser auseinandersetzt, daß das Urteil der Zeit Recht hatte. Riffel
hatte keine Stetigkeit, keine Entwicklung. Er träumt und schwelgt und rafft
sich manchmal auf, nimmt Anregungen hier und dort, aus dem Wiener Leben,
aus Grillparzer oder dem Volksstück, aber nichts hält vor. Sein Ziel heißt
Schiller, bei allem Schwanken kommt er immer wieder auf dieses große "ver¬
derbliche" Vorbild zurück, dem er keine Persönlichkeit, keine Kraft und Natur
entgegensetzen kann. Die still wirkenden Einflüsse der heimischen Überlieferung
weiß er nur selten lebendig zu machen, äußerlich jagt er einem Muster nach
und ist viel erpichter darauf, es einem Großen gleich zu thun, als selbst groß
zu werden. "Er war nicht reich genug, einen eignen Acker zu bebauen, er
hielt nnr Nachlese, fand aber dabei manche volle Ähre. Zu stolz, um nach
dem wohlfeilen Erfolge des Tages zu ringen, war er doch wieder zu schwach,
um das wahrhaft Große zu erreichen. Daß er es aber geahnt und in feinen
glücklichsten Augenblicken ihm nahe gekommen, macht ihn uns wert." Was
aber Nissel mit seiner Heimat am engsten verband, und was er davon in
seiner Dichtung benutzte, ward ihm zum Verhängnis, nämlich sein politischer
Liberalismus, der ihn gewissermaßen zum tragischen Dichter der Bourgeois
werden ließ, für die einst Bauernfeld seine Lustspiele geschrieben hatte. Die
Politischen Kämpfe der österreichischen Bourgeoisie vertrugen aber nur humo¬
ristische Behandlung, von Tragik hatten sie nichts an sich, und im ganzen und
großen waren die "Rebellen" von 1848 das Pulver nicht wert, das man auf
sie verschoß. So hat denn der politische und religiöse Freisinn des Öster¬
reichers Nissel dem Dichter Nissel nur geschadet. Nissel hielt für sein reifstes
Werk die Tragödie Agnes von Meran. Ja, meint der Verfasser, sie war das
Beste, was der Idealist Nissel geschrieben hat. In einen ganz realistisch


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

feinen und unterhaltend geschrieben Analyse des Verfassers wird sich jeder
gern die Gegenstände dieser unter einander so sehr verschieden dramatischen
Erzeugnisse vergegenwärtigen. Uns liegt mehr daran, seine dramaturgischen
Grundsätze und'sein ästhetisches Bekenntnis kennen zu lernen, die darzulegen
auch für ihn die Hauptsache war. Im allgemeinen ist er durchaus gegen den
übertriebnen Naturalismus der Modernen, und er hat von der Aufgabe eines
Kunstwerks eine wesentlich höhere Auffassung als sie; aber ebenso abweisend
steht er dem klassizistischen Drama gegenüber, sein Wirklichkeitsbedürfnis liegt
zwischen beiden, und er begründet es mit einer reichen Erfahrung in Sachen
der Bühne. Obwohl seinen Ansprüchen nach Praktiker, giebt er uns doch ein
durchdachtes und wohlgefügtes System seines „Realismus," wir müssen es uns
nur aus seinen Urteilen über einzelne Dichter und Dichtungen zusammenstellen.

Seine Charakteristik des früh verstorbnen Franz Nissel ist scharf, aber
nicht nur von seinem theoretischen Bekenntnis aus gerechtfertigt, fondern auch
an sich gerecht. Riffel galt nach Grillparzer als der berufne und edelste Ver¬
treter des höhern Dramas, aber der Erfolg hat längst gegen ihn entschieden.
Seine Freunde meinen, daß daran die Zeit schuld gewesen sei. während uns
der Verfasser auseinandersetzt, daß das Urteil der Zeit Recht hatte. Riffel
hatte keine Stetigkeit, keine Entwicklung. Er träumt und schwelgt und rafft
sich manchmal auf, nimmt Anregungen hier und dort, aus dem Wiener Leben,
aus Grillparzer oder dem Volksstück, aber nichts hält vor. Sein Ziel heißt
Schiller, bei allem Schwanken kommt er immer wieder auf dieses große „ver¬
derbliche" Vorbild zurück, dem er keine Persönlichkeit, keine Kraft und Natur
entgegensetzen kann. Die still wirkenden Einflüsse der heimischen Überlieferung
weiß er nur selten lebendig zu machen, äußerlich jagt er einem Muster nach
und ist viel erpichter darauf, es einem Großen gleich zu thun, als selbst groß
zu werden. „Er war nicht reich genug, einen eignen Acker zu bebauen, er
hielt nnr Nachlese, fand aber dabei manche volle Ähre. Zu stolz, um nach
dem wohlfeilen Erfolge des Tages zu ringen, war er doch wieder zu schwach,
um das wahrhaft Große zu erreichen. Daß er es aber geahnt und in feinen
glücklichsten Augenblicken ihm nahe gekommen, macht ihn uns wert." Was
aber Nissel mit seiner Heimat am engsten verband, und was er davon in
seiner Dichtung benutzte, ward ihm zum Verhängnis, nämlich sein politischer
Liberalismus, der ihn gewissermaßen zum tragischen Dichter der Bourgeois
werden ließ, für die einst Bauernfeld seine Lustspiele geschrieben hatte. Die
Politischen Kämpfe der österreichischen Bourgeoisie vertrugen aber nur humo¬
ristische Behandlung, von Tragik hatten sie nichts an sich, und im ganzen und
großen waren die „Rebellen" von 1848 das Pulver nicht wert, das man auf
sie verschoß. So hat denn der politische und religiöse Freisinn des Öster¬
reichers Nissel dem Dichter Nissel nur geschadet. Nissel hielt für sein reifstes
Werk die Tragödie Agnes von Meran. Ja, meint der Verfasser, sie war das
Beste, was der Idealist Nissel geschrieben hat. In einen ganz realistisch


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[0039] Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche feinen und unterhaltend geschrieben Analyse des Verfassers wird sich jeder gern die Gegenstände dieser unter einander so sehr verschieden dramatischen Erzeugnisse vergegenwärtigen. Uns liegt mehr daran, seine dramaturgischen Grundsätze und'sein ästhetisches Bekenntnis kennen zu lernen, die darzulegen auch für ihn die Hauptsache war. Im allgemeinen ist er durchaus gegen den übertriebnen Naturalismus der Modernen, und er hat von der Aufgabe eines Kunstwerks eine wesentlich höhere Auffassung als sie; aber ebenso abweisend steht er dem klassizistischen Drama gegenüber, sein Wirklichkeitsbedürfnis liegt zwischen beiden, und er begründet es mit einer reichen Erfahrung in Sachen der Bühne. Obwohl seinen Ansprüchen nach Praktiker, giebt er uns doch ein durchdachtes und wohlgefügtes System seines „Realismus," wir müssen es uns nur aus seinen Urteilen über einzelne Dichter und Dichtungen zusammenstellen. Seine Charakteristik des früh verstorbnen Franz Nissel ist scharf, aber nicht nur von seinem theoretischen Bekenntnis aus gerechtfertigt, fondern auch an sich gerecht. Riffel galt nach Grillparzer als der berufne und edelste Ver¬ treter des höhern Dramas, aber der Erfolg hat längst gegen ihn entschieden. Seine Freunde meinen, daß daran die Zeit schuld gewesen sei. während uns der Verfasser auseinandersetzt, daß das Urteil der Zeit Recht hatte. Riffel hatte keine Stetigkeit, keine Entwicklung. Er träumt und schwelgt und rafft sich manchmal auf, nimmt Anregungen hier und dort, aus dem Wiener Leben, aus Grillparzer oder dem Volksstück, aber nichts hält vor. Sein Ziel heißt Schiller, bei allem Schwanken kommt er immer wieder auf dieses große „ver¬ derbliche" Vorbild zurück, dem er keine Persönlichkeit, keine Kraft und Natur entgegensetzen kann. Die still wirkenden Einflüsse der heimischen Überlieferung weiß er nur selten lebendig zu machen, äußerlich jagt er einem Muster nach und ist viel erpichter darauf, es einem Großen gleich zu thun, als selbst groß zu werden. „Er war nicht reich genug, einen eignen Acker zu bebauen, er hielt nnr Nachlese, fand aber dabei manche volle Ähre. Zu stolz, um nach dem wohlfeilen Erfolge des Tages zu ringen, war er doch wieder zu schwach, um das wahrhaft Große zu erreichen. Daß er es aber geahnt und in feinen glücklichsten Augenblicken ihm nahe gekommen, macht ihn uns wert." Was aber Nissel mit seiner Heimat am engsten verband, und was er davon in seiner Dichtung benutzte, ward ihm zum Verhängnis, nämlich sein politischer Liberalismus, der ihn gewissermaßen zum tragischen Dichter der Bourgeois werden ließ, für die einst Bauernfeld seine Lustspiele geschrieben hatte. Die Politischen Kämpfe der österreichischen Bourgeoisie vertrugen aber nur humo¬ ristische Behandlung, von Tragik hatten sie nichts an sich, und im ganzen und großen waren die „Rebellen" von 1848 das Pulver nicht wert, das man auf sie verschoß. So hat denn der politische und religiöse Freisinn des Öster¬ reichers Nissel dem Dichter Nissel nur geschadet. Nissel hielt für sein reifstes Werk die Tragödie Agnes von Meran. Ja, meint der Verfasser, sie war das Beste, was der Idealist Nissel geschrieben hat. In einen ganz realistisch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/39>, abgerufen am 12.12.2024.