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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

377

Augenblicke erschien der Oberkellner mit der Miene eines Pudels, der seine wohl¬
verdienten Schläge erwartet, einen Brief in der Hand haltend. Dieser Brief sei
gestern abgegeben und von Franz oder Schorsch oder sonst wem vergessen worden.
Es war die formgerechte Anmeldung Flötes zum Königsessen.

Seid ihr denn ganz des Teufels! rief der Amtsgerichtsrat aus. Solch einen
Brief zu vergessen! Ja, was machen wir denn nun?

Der Oberkellner war der Schwierigkeit des Augenblicks gewachsen. Er ließ
das Lorbeergebüsch aus einander rücken, Seiner Majestät Bildnis hinter den
Souffleurkasten stellen und das Postament entfernen. So wurde gerade noch ein
Platz gewonnen. Und Herr Flöte ließ sich erbitten, diesen Platz einzunehmen.

Gott sei Dank! Man konnte sich nunmehr allerseits befriedigt setzen und durch
Entgegennahme der Suppe zur Feier des Tages übergehen.

Das Festessen verlief glänzend. Der Herr Postdirektor hielt seine Rede
schneidig, mit markigem Tone und zündenden Worten. Man stimmte begeistert
in das aufgebrachte Hoch ein und sang Heil dir im Siegerkranz -- so weit, als
im Gedächtnis der Text reichte. Die Tafelmusik machte mehr Lärm denn je, die
Schleie war ausgezeichnet, und der Wein trinkbar. Man konsumirte, ein Zeichen
der Bedeutung des Tages und des gehobnen patriotischen Gefühls der Versammelten,
134 Flaschen Weißwein, 84 Flaschen Rotwein und 40 Flaschen Sekt.

Die Wirkungen dieses patriotischen Strebens blieben denn auch nicht aus.
Mau konnte nach Schluß des Festmahles den Herrn Baninspektor und deu Herrn
Bürgermeister Arm in Arm in Kurven dritter bis siebenter Ordnung über den
Marktplatz segeln sehen. Die Perücke des Herrn Katasterkontrolleurs, sowie sein
Hut hatten einen merkwürdigen Sitz eingenommen. Der Herr Provisor in
Uniform, der nach dem Essen in einer feinen Gesellschaft mit Thee und Damen
erscheinen mußte, gelangte gerade noch bis zu einem Stuhle, wo er stocksteif sitzen
blieb, indem er seine Tasse Thee, die man ihm in die Hand geschoben hatte, in
höchst gefährlicher Weise balancirte. Und der Herr Diakonus wurde im Laufe
des Abends im Saale des Roten Adlers gefunden, wo er, in einem Winkel auf
seinem Stuhle sitzend, den Schlaf des Gerechten schlief. Derartige Vorkommnisse
würden unter andern Umständen billig den Unwillen der Alten und den Spott
der Jungen herausgefordert haben. Aber bei Königs Geburtstag liegt doch die
Sache anders. Was sonst für unschön und direktivuslos gehalten wird, das gilt
an diesem Tage für edel, löblich und patriotisch.

Was von der Tafelgesellschaft noch leistungsfähig war, begab sich in den
Prinzen Ferdinand, um sich bei einem Glase Spatenbräu zu beruhigen und die
i>eit hjA zum Festzuge der Vereine abzuwarten. Unter ihnen befand sich auch Herr
Äste, und zwar mit etwas belasteten Gewissen, denn er hatte ja noch eine
patriotische Rede zu halten, und er hatte -- es war nicht zu leugnen -- für seine
Verhältnisse etwas Viel getrunken. Demnach fuhr er mit der Hand ab und zu nach
dem Manuskripte in seiner Brusttasche, ohne jedoch dazu zu kommen, es anzusehen.

Inzwischen hatten sich die Vereine am Hospitalplatze versammelt. Schon
^nge vorher hatte die Troinmlerjngend ihr Geklapper begonnen, dann hatten sich
des Stadtmusikus Leute mit ihren Instrumenten versammelt, zuletzt waren die Vereine
zögernd angekommen. Nur der "Kriegerverein mit Gewehr" fehlte. Die Festordner
schrieen sich heiser, es gab einige Drängelei, Feuerwerkskörper wurden unters
Publikum geworfen, Weiberstimmen kreischten auf, alles, wie das so zu sein Pflegt.
Endlich war man in Ordnung. Die große Pauke gab das Signal, der Zug fing
an, sich in die dichte Menge des Publikums hinein zu schieben, der Herr Polizei-


Grenzbotcn IV 1898 48
Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

377

Augenblicke erschien der Oberkellner mit der Miene eines Pudels, der seine wohl¬
verdienten Schläge erwartet, einen Brief in der Hand haltend. Dieser Brief sei
gestern abgegeben und von Franz oder Schorsch oder sonst wem vergessen worden.
Es war die formgerechte Anmeldung Flötes zum Königsessen.

Seid ihr denn ganz des Teufels! rief der Amtsgerichtsrat aus. Solch einen
Brief zu vergessen! Ja, was machen wir denn nun?

Der Oberkellner war der Schwierigkeit des Augenblicks gewachsen. Er ließ
das Lorbeergebüsch aus einander rücken, Seiner Majestät Bildnis hinter den
Souffleurkasten stellen und das Postament entfernen. So wurde gerade noch ein
Platz gewonnen. Und Herr Flöte ließ sich erbitten, diesen Platz einzunehmen.

Gott sei Dank! Man konnte sich nunmehr allerseits befriedigt setzen und durch
Entgegennahme der Suppe zur Feier des Tages übergehen.

Das Festessen verlief glänzend. Der Herr Postdirektor hielt seine Rede
schneidig, mit markigem Tone und zündenden Worten. Man stimmte begeistert
in das aufgebrachte Hoch ein und sang Heil dir im Siegerkranz — so weit, als
im Gedächtnis der Text reichte. Die Tafelmusik machte mehr Lärm denn je, die
Schleie war ausgezeichnet, und der Wein trinkbar. Man konsumirte, ein Zeichen
der Bedeutung des Tages und des gehobnen patriotischen Gefühls der Versammelten,
134 Flaschen Weißwein, 84 Flaschen Rotwein und 40 Flaschen Sekt.

Die Wirkungen dieses patriotischen Strebens blieben denn auch nicht aus.
Mau konnte nach Schluß des Festmahles den Herrn Baninspektor und deu Herrn
Bürgermeister Arm in Arm in Kurven dritter bis siebenter Ordnung über den
Marktplatz segeln sehen. Die Perücke des Herrn Katasterkontrolleurs, sowie sein
Hut hatten einen merkwürdigen Sitz eingenommen. Der Herr Provisor in
Uniform, der nach dem Essen in einer feinen Gesellschaft mit Thee und Damen
erscheinen mußte, gelangte gerade noch bis zu einem Stuhle, wo er stocksteif sitzen
blieb, indem er seine Tasse Thee, die man ihm in die Hand geschoben hatte, in
höchst gefährlicher Weise balancirte. Und der Herr Diakonus wurde im Laufe
des Abends im Saale des Roten Adlers gefunden, wo er, in einem Winkel auf
seinem Stuhle sitzend, den Schlaf des Gerechten schlief. Derartige Vorkommnisse
würden unter andern Umständen billig den Unwillen der Alten und den Spott
der Jungen herausgefordert haben. Aber bei Königs Geburtstag liegt doch die
Sache anders. Was sonst für unschön und direktivuslos gehalten wird, das gilt
an diesem Tage für edel, löblich und patriotisch.

Was von der Tafelgesellschaft noch leistungsfähig war, begab sich in den
Prinzen Ferdinand, um sich bei einem Glase Spatenbräu zu beruhigen und die
i>eit hjA zum Festzuge der Vereine abzuwarten. Unter ihnen befand sich auch Herr
Äste, und zwar mit etwas belasteten Gewissen, denn er hatte ja noch eine
patriotische Rede zu halten, und er hatte — es war nicht zu leugnen — für seine
Verhältnisse etwas Viel getrunken. Demnach fuhr er mit der Hand ab und zu nach
dem Manuskripte in seiner Brusttasche, ohne jedoch dazu zu kommen, es anzusehen.

Inzwischen hatten sich die Vereine am Hospitalplatze versammelt. Schon
^nge vorher hatte die Troinmlerjngend ihr Geklapper begonnen, dann hatten sich
des Stadtmusikus Leute mit ihren Instrumenten versammelt, zuletzt waren die Vereine
zögernd angekommen. Nur der „Kriegerverein mit Gewehr" fehlte. Die Festordner
schrieen sich heiser, es gab einige Drängelei, Feuerwerkskörper wurden unters
Publikum geworfen, Weiberstimmen kreischten auf, alles, wie das so zu sein Pflegt.
Endlich war man in Ordnung. Die große Pauke gab das Signal, der Zug fing
an, sich in die dichte Menge des Publikums hinein zu schieben, der Herr Polizei-


Grenzbotcn IV 1898 48
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[0388] Skizzen aus unserm heutigen Volksleben 377 Augenblicke erschien der Oberkellner mit der Miene eines Pudels, der seine wohl¬ verdienten Schläge erwartet, einen Brief in der Hand haltend. Dieser Brief sei gestern abgegeben und von Franz oder Schorsch oder sonst wem vergessen worden. Es war die formgerechte Anmeldung Flötes zum Königsessen. Seid ihr denn ganz des Teufels! rief der Amtsgerichtsrat aus. Solch einen Brief zu vergessen! Ja, was machen wir denn nun? Der Oberkellner war der Schwierigkeit des Augenblicks gewachsen. Er ließ das Lorbeergebüsch aus einander rücken, Seiner Majestät Bildnis hinter den Souffleurkasten stellen und das Postament entfernen. So wurde gerade noch ein Platz gewonnen. Und Herr Flöte ließ sich erbitten, diesen Platz einzunehmen. Gott sei Dank! Man konnte sich nunmehr allerseits befriedigt setzen und durch Entgegennahme der Suppe zur Feier des Tages übergehen. Das Festessen verlief glänzend. Der Herr Postdirektor hielt seine Rede schneidig, mit markigem Tone und zündenden Worten. Man stimmte begeistert in das aufgebrachte Hoch ein und sang Heil dir im Siegerkranz — so weit, als im Gedächtnis der Text reichte. Die Tafelmusik machte mehr Lärm denn je, die Schleie war ausgezeichnet, und der Wein trinkbar. Man konsumirte, ein Zeichen der Bedeutung des Tages und des gehobnen patriotischen Gefühls der Versammelten, 134 Flaschen Weißwein, 84 Flaschen Rotwein und 40 Flaschen Sekt. Die Wirkungen dieses patriotischen Strebens blieben denn auch nicht aus. Mau konnte nach Schluß des Festmahles den Herrn Baninspektor und deu Herrn Bürgermeister Arm in Arm in Kurven dritter bis siebenter Ordnung über den Marktplatz segeln sehen. Die Perücke des Herrn Katasterkontrolleurs, sowie sein Hut hatten einen merkwürdigen Sitz eingenommen. Der Herr Provisor in Uniform, der nach dem Essen in einer feinen Gesellschaft mit Thee und Damen erscheinen mußte, gelangte gerade noch bis zu einem Stuhle, wo er stocksteif sitzen blieb, indem er seine Tasse Thee, die man ihm in die Hand geschoben hatte, in höchst gefährlicher Weise balancirte. Und der Herr Diakonus wurde im Laufe des Abends im Saale des Roten Adlers gefunden, wo er, in einem Winkel auf seinem Stuhle sitzend, den Schlaf des Gerechten schlief. Derartige Vorkommnisse würden unter andern Umständen billig den Unwillen der Alten und den Spott der Jungen herausgefordert haben. Aber bei Königs Geburtstag liegt doch die Sache anders. Was sonst für unschön und direktivuslos gehalten wird, das gilt an diesem Tage für edel, löblich und patriotisch. Was von der Tafelgesellschaft noch leistungsfähig war, begab sich in den Prinzen Ferdinand, um sich bei einem Glase Spatenbräu zu beruhigen und die i>eit hjA zum Festzuge der Vereine abzuwarten. Unter ihnen befand sich auch Herr Äste, und zwar mit etwas belasteten Gewissen, denn er hatte ja noch eine patriotische Rede zu halten, und er hatte — es war nicht zu leugnen — für seine Verhältnisse etwas Viel getrunken. Demnach fuhr er mit der Hand ab und zu nach dem Manuskripte in seiner Brusttasche, ohne jedoch dazu zu kommen, es anzusehen. Inzwischen hatten sich die Vereine am Hospitalplatze versammelt. Schon ^nge vorher hatte die Troinmlerjngend ihr Geklapper begonnen, dann hatten sich des Stadtmusikus Leute mit ihren Instrumenten versammelt, zuletzt waren die Vereine zögernd angekommen. Nur der „Kriegerverein mit Gewehr" fehlte. Die Festordner schrieen sich heiser, es gab einige Drängelei, Feuerwerkskörper wurden unters Publikum geworfen, Weiberstimmen kreischten auf, alles, wie das so zu sein Pflegt. Endlich war man in Ordnung. Die große Pauke gab das Signal, der Zug fing an, sich in die dichte Menge des Publikums hinein zu schieben, der Herr Polizei- Grenzbotcn IV 1898 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/388>, abgerufen am 12.12.2024.