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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Neue Kunstlitteratur

neuerdings die dekorative Kunst steht, könnte dieser Zustand wohl dahin führen,
daß das kuustfreundliche Publikum sich schließlich keine Rechenschaft mehr zu geben
wüßte über den Unterschied zwischen einem Bilde und einem Tapetenmuster. Das
wäre vielleicht für die Bestrebungen der Neoimpressionisten gar nicht so ungünstig,
und weil der Weg zum guten Ziel hier ans jeden Fall noch über sehr viel Thor¬
heit hinführt, so wird der Kunstfreund, wenn man das Wort in seinem bisherigen
Sinne nimmt, der neuen Richtung gegenüber zunächst wohl noch andre Empfin¬
dungen haben als die der ungemischten Freude, und es war immerhin klug von
der Redaktion des Pan gehandelt, daß sie das Wort zur Einführung einem
Pariser Künstler überließ, der selbst Neoimvressivnist ist. -- Aus der Zahl dieser
kleinern Aufsätze erwähnen wir schließlich noch einen über den Bildhauer Auguste
Robim, geboren 1840, den man den französischen Michelangelo genannt hat. Roger
Marx setzt uns auseinander, inwiefern das richtig sei. Wir finden die Charakte¬
ristik zutreffend und die Schätzung nicht übertrieben. Robim machte sich zunächst
durch allgemein ansprechende Porträtbüsten bekannt; in seine Statuen (das eherne
Zeitalter, Johannes der Täufer als Prediger) fand sich das Publikum nicht gleich,
sie waren ihm zu abstrakt, und eine 1880 angefangne Erzthür mit Reliefs aus
Dantes Hölle für das künftige Museum der dekorativen Künste ist noch nicht zu¬
sammengesetzt. Bei Michelangelo wie bei Robim, sagt Marx, gehe alles von der
Natur aus, aber mau dürfe nicht vergessen, daß seit Michelangelo Jahrhunderte
verflossen seien, daß sein Schüler einer andern Nation angehöre, und daß Robim
als moderner Pessimist und Erbe der französischen Tradition des achtzehnten Jahr¬
hunderts Angst und Qual ergreifender darstellen müsse und für Innigkeit und
Armut, für Frau und Liebe mehr Ausdruck haben könne. Uns Deutschen wird die
auf unendlich mühevollen Studien beruhende hohe äußere Vollendung seiner Werke,
dieses Natürliche, Selbstverständliche der Form wohl noch bewundernswerter er¬
scheinen. Das Geheimnis des Technischen, meint Marx, sei nicht zu ergründen.
Wenn man die Natur äußerlich abforme, gerade wie die Maler sich jetzt von den
Photographen helfen lassen, und wenn die Bildhauer die Ausführung ebenfalls
nicht mehr selbst übernahmen, so machten alle diese physiognvmielosen Marmor¬
werke einer Ausstellung deu Eindruck, als seien sie aus einem einzigen italienischen
Atelier hervorgegangen. Da bedürfe es nun eines Meisters, der eine neue Seele
schaffen und die Form zwingen könnte, anstatt ihr nur zu gehorchen, und diese
Kraft habe Robim gehabt. Es scheint das, wenn man auf die beigegebnen Ab¬
bildungen sieht, nicht zuviel gesagt.

Das Wertvollste, was diese drei Hefte des Pan enthalten, sind Mitteilungen
über Böcklin anläßlich der Ausstellung seiner Werke in Basel, Berlin und Ham¬
burg. Znnttchst thut es wohl, daran teilnehmen zu können, wenn ein Manu, dem
der Weg durchs Leben nicht leicht geworden ist, die verdiente Anerkennung findet,
bevor es zu spät ist. Sodann dringt die hier vorgetragne Schätzung tiefer in das
Wesen der Sache, als der gewöhnliche laute Beifall, und schafft uns neue Erkenntnis
und einen hoffentlich bleibenden Gewinn. Die Kritik, so führt zunächst Tschudi in
einer Einleitung aus, hat den Künstler nicht gefördert, sondern ihm seine Arbeit
erschwert, er mußte sich trotz ihr und gegen ihre Glimmen ganz allein seinen Weg
suchen. Böcklin gehört zu den nicht zahlreichen Malern von tiefer Bildung, die
sich über ihr Schaffen Rechenschaft zu geben suchen, nach Klarheit ringen und vom
Kleinsten ausgehend zu einer eignen vollständigen Theorie durchdringen. Es liege,
meint Tschudi, in der Natur aller Kunstschreiberei, daß sie über allgemeine Charak¬
teristiken oder mehr oder weniger begründete Urteile eines bestenfalls gebildeten


Grenzboten IV 1898 4g
Neue Kunstlitteratur

neuerdings die dekorative Kunst steht, könnte dieser Zustand wohl dahin führen,
daß das kuustfreundliche Publikum sich schließlich keine Rechenschaft mehr zu geben
wüßte über den Unterschied zwischen einem Bilde und einem Tapetenmuster. Das
wäre vielleicht für die Bestrebungen der Neoimpressionisten gar nicht so ungünstig,
und weil der Weg zum guten Ziel hier ans jeden Fall noch über sehr viel Thor¬
heit hinführt, so wird der Kunstfreund, wenn man das Wort in seinem bisherigen
Sinne nimmt, der neuen Richtung gegenüber zunächst wohl noch andre Empfin¬
dungen haben als die der ungemischten Freude, und es war immerhin klug von
der Redaktion des Pan gehandelt, daß sie das Wort zur Einführung einem
Pariser Künstler überließ, der selbst Neoimvressivnist ist. — Aus der Zahl dieser
kleinern Aufsätze erwähnen wir schließlich noch einen über den Bildhauer Auguste
Robim, geboren 1840, den man den französischen Michelangelo genannt hat. Roger
Marx setzt uns auseinander, inwiefern das richtig sei. Wir finden die Charakte¬
ristik zutreffend und die Schätzung nicht übertrieben. Robim machte sich zunächst
durch allgemein ansprechende Porträtbüsten bekannt; in seine Statuen (das eherne
Zeitalter, Johannes der Täufer als Prediger) fand sich das Publikum nicht gleich,
sie waren ihm zu abstrakt, und eine 1880 angefangne Erzthür mit Reliefs aus
Dantes Hölle für das künftige Museum der dekorativen Künste ist noch nicht zu¬
sammengesetzt. Bei Michelangelo wie bei Robim, sagt Marx, gehe alles von der
Natur aus, aber mau dürfe nicht vergessen, daß seit Michelangelo Jahrhunderte
verflossen seien, daß sein Schüler einer andern Nation angehöre, und daß Robim
als moderner Pessimist und Erbe der französischen Tradition des achtzehnten Jahr¬
hunderts Angst und Qual ergreifender darstellen müsse und für Innigkeit und
Armut, für Frau und Liebe mehr Ausdruck haben könne. Uns Deutschen wird die
auf unendlich mühevollen Studien beruhende hohe äußere Vollendung seiner Werke,
dieses Natürliche, Selbstverständliche der Form wohl noch bewundernswerter er¬
scheinen. Das Geheimnis des Technischen, meint Marx, sei nicht zu ergründen.
Wenn man die Natur äußerlich abforme, gerade wie die Maler sich jetzt von den
Photographen helfen lassen, und wenn die Bildhauer die Ausführung ebenfalls
nicht mehr selbst übernahmen, so machten alle diese physiognvmielosen Marmor¬
werke einer Ausstellung deu Eindruck, als seien sie aus einem einzigen italienischen
Atelier hervorgegangen. Da bedürfe es nun eines Meisters, der eine neue Seele
schaffen und die Form zwingen könnte, anstatt ihr nur zu gehorchen, und diese
Kraft habe Robim gehabt. Es scheint das, wenn man auf die beigegebnen Ab¬
bildungen sieht, nicht zuviel gesagt.

Das Wertvollste, was diese drei Hefte des Pan enthalten, sind Mitteilungen
über Böcklin anläßlich der Ausstellung seiner Werke in Basel, Berlin und Ham¬
burg. Znnttchst thut es wohl, daran teilnehmen zu können, wenn ein Manu, dem
der Weg durchs Leben nicht leicht geworden ist, die verdiente Anerkennung findet,
bevor es zu spät ist. Sodann dringt die hier vorgetragne Schätzung tiefer in das
Wesen der Sache, als der gewöhnliche laute Beifall, und schafft uns neue Erkenntnis
und einen hoffentlich bleibenden Gewinn. Die Kritik, so führt zunächst Tschudi in
einer Einleitung aus, hat den Künstler nicht gefördert, sondern ihm seine Arbeit
erschwert, er mußte sich trotz ihr und gegen ihre Glimmen ganz allein seinen Weg
suchen. Böcklin gehört zu den nicht zahlreichen Malern von tiefer Bildung, die
sich über ihr Schaffen Rechenschaft zu geben suchen, nach Klarheit ringen und vom
Kleinsten ausgehend zu einer eignen vollständigen Theorie durchdringen. Es liege,
meint Tschudi, in der Natur aller Kunstschreiberei, daß sie über allgemeine Charak¬
teristiken oder mehr oder weniger begründete Urteile eines bestenfalls gebildeten


Grenzboten IV 1898 4g
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[0372] Neue Kunstlitteratur neuerdings die dekorative Kunst steht, könnte dieser Zustand wohl dahin führen, daß das kuustfreundliche Publikum sich schließlich keine Rechenschaft mehr zu geben wüßte über den Unterschied zwischen einem Bilde und einem Tapetenmuster. Das wäre vielleicht für die Bestrebungen der Neoimpressionisten gar nicht so ungünstig, und weil der Weg zum guten Ziel hier ans jeden Fall noch über sehr viel Thor¬ heit hinführt, so wird der Kunstfreund, wenn man das Wort in seinem bisherigen Sinne nimmt, der neuen Richtung gegenüber zunächst wohl noch andre Empfin¬ dungen haben als die der ungemischten Freude, und es war immerhin klug von der Redaktion des Pan gehandelt, daß sie das Wort zur Einführung einem Pariser Künstler überließ, der selbst Neoimvressivnist ist. — Aus der Zahl dieser kleinern Aufsätze erwähnen wir schließlich noch einen über den Bildhauer Auguste Robim, geboren 1840, den man den französischen Michelangelo genannt hat. Roger Marx setzt uns auseinander, inwiefern das richtig sei. Wir finden die Charakte¬ ristik zutreffend und die Schätzung nicht übertrieben. Robim machte sich zunächst durch allgemein ansprechende Porträtbüsten bekannt; in seine Statuen (das eherne Zeitalter, Johannes der Täufer als Prediger) fand sich das Publikum nicht gleich, sie waren ihm zu abstrakt, und eine 1880 angefangne Erzthür mit Reliefs aus Dantes Hölle für das künftige Museum der dekorativen Künste ist noch nicht zu¬ sammengesetzt. Bei Michelangelo wie bei Robim, sagt Marx, gehe alles von der Natur aus, aber mau dürfe nicht vergessen, daß seit Michelangelo Jahrhunderte verflossen seien, daß sein Schüler einer andern Nation angehöre, und daß Robim als moderner Pessimist und Erbe der französischen Tradition des achtzehnten Jahr¬ hunderts Angst und Qual ergreifender darstellen müsse und für Innigkeit und Armut, für Frau und Liebe mehr Ausdruck haben könne. Uns Deutschen wird die auf unendlich mühevollen Studien beruhende hohe äußere Vollendung seiner Werke, dieses Natürliche, Selbstverständliche der Form wohl noch bewundernswerter er¬ scheinen. Das Geheimnis des Technischen, meint Marx, sei nicht zu ergründen. Wenn man die Natur äußerlich abforme, gerade wie die Maler sich jetzt von den Photographen helfen lassen, und wenn die Bildhauer die Ausführung ebenfalls nicht mehr selbst übernahmen, so machten alle diese physiognvmielosen Marmor¬ werke einer Ausstellung deu Eindruck, als seien sie aus einem einzigen italienischen Atelier hervorgegangen. Da bedürfe es nun eines Meisters, der eine neue Seele schaffen und die Form zwingen könnte, anstatt ihr nur zu gehorchen, und diese Kraft habe Robim gehabt. Es scheint das, wenn man auf die beigegebnen Ab¬ bildungen sieht, nicht zuviel gesagt. Das Wertvollste, was diese drei Hefte des Pan enthalten, sind Mitteilungen über Böcklin anläßlich der Ausstellung seiner Werke in Basel, Berlin und Ham¬ burg. Znnttchst thut es wohl, daran teilnehmen zu können, wenn ein Manu, dem der Weg durchs Leben nicht leicht geworden ist, die verdiente Anerkennung findet, bevor es zu spät ist. Sodann dringt die hier vorgetragne Schätzung tiefer in das Wesen der Sache, als der gewöhnliche laute Beifall, und schafft uns neue Erkenntnis und einen hoffentlich bleibenden Gewinn. Die Kritik, so führt zunächst Tschudi in einer Einleitung aus, hat den Künstler nicht gefördert, sondern ihm seine Arbeit erschwert, er mußte sich trotz ihr und gegen ihre Glimmen ganz allein seinen Weg suchen. Böcklin gehört zu den nicht zahlreichen Malern von tiefer Bildung, die sich über ihr Schaffen Rechenschaft zu geben suchen, nach Klarheit ringen und vom Kleinsten ausgehend zu einer eignen vollständigen Theorie durchdringen. Es liege, meint Tschudi, in der Natur aller Kunstschreiberei, daß sie über allgemeine Charak¬ teristiken oder mehr oder weniger begründete Urteile eines bestenfalls gebildeten Grenzboten IV 1898 4g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/372>, abgerufen am 12.12.2024.