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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Neue llunstlitteratur

wo man zuerst 1386 leuchtende und dabei harmonisch gestimmte Bilder in reinen,
prismatisch aufgelösten Farben sah. Der Neoimpressionismus ist eine weitere Ent¬
wicklung dessen, was die frühern Farbenimpressionisten beabsichtigt hatten. Seine
Anhänger knüpfen an Delocroix an, dessen Abneigung gegen das Grau sprichwörtlich
geworden ist, und dessen Bilder immer farbiger wurden; er trat in seinen Schriften
gegen das Mischen der Farben auf und wies namentlich auf die Wirkung neben
einander gesetzter reiner Komplementärfarben hin. Eingehend hat dann der eng¬
lische Ästhetiker Ruskin von einem "Zerlegen" der Farben durch Auftrag neben
oder über einander gehandelt. Er hatte das an der Aquarellmalerei beobachtet
und forderte es nun für jede gute Malerei, in welcher Technik auch immer. Der
Ton eiuer Farbe soll nicht durch Mischung mit einer dunklern verstärkt werden,
sondern durch kräftigeres Auftragen derselben Farbe, die Abschattirung soll nicht
durch Mischung erfolgen, sondern durch Aufsetzen lauter einzelner Töne, oft in ganz
kleinen Strichen, Flecken oder Punkten; das Spiel mehrerer Farben sei reizvoller
für das Auge als der Eindruck einer eintönigen Fläche, und um die Farben be¬
sonders leuchtend zu machen, solle man zwischen den einzelnen farbigen Punkten
etwas Weiß stehen lassen. Nicht die zu dunkeln Farben, sondern die Mischung
und der zu gleichmäßige Auftrag seien schuld an den trüben braunen und grauen
Bildern, die man bis dahin für schon gehalten hätte; sauber und mosaikartig müsse
jede gute Malerei ihre Farben hinsetzen, dann erst könnte sie ans das Ange wirken
wie die farbige Natur. Die Neoimpressionisten lassen also den Mischnngsprozeß
ihrer reinen, auf die Leinwand gesetzten Farben sich erst auf der Netzhaut des
Auges vollziehen, sie halten die Elemente, aus denen sich die Nüancen nnßer der
Lolalfarbe, also Beleuchtung, Beschattung, Reflex ergeben, ebenfalls getrennt, be¬
rücksichtigen dabei Kontrastwirkung, Abschwächung und Strahlung und drücken die
Trennung oder Zerlegung der Farben auch noch weiter in der Größe der einzelnen
Pinselstriche aus, sodnß sich das Ganze in Farbe und Zeichnung erst bei einem
gewissen Abstände im Ange vereinigt. Das Auge übernimmt Leistungen, die ihm
früher teils durch die Mischung auf der Palette, teils durch die Art des Auftrags
auf die Leinwand abgenommen wurden, es wird dnrch die neue Kunst mehr an¬
geregt, und darin soll für diese selbst die weitere Hoffnung auf die Zukunft liegen.
Einige dieser neuen Impressionisten verwerten außer jenen allgemein geltenden
Regeln noch andre Mittel für ihre Eindrücke. Der Charakter der Bilder wird
durch Linien mit bestimmt, steigende bedeuten Freude, sinkende Trauer, horizontale
Ruhe, ferner durch Tönung und Nüance: helle und warme Farben passen zu auf¬
steigenden, dunkle und kalte zu fallenden Linien. Der Neoimpressionist wirkt wie
der Dichter und steht erst am Anfange dessen, was mit dieser Kunst überhaupt
noch einmal geleistet werden kann. Dürfen wir zu diesem mit großer Wärme vor¬
getragnen Problem unsre bescheidne Meinung sage", so liegt ja ohne Frage etwas
richtiges darin beschlossen, was man am trivialsten so ausdrücken könnte, daß reine
Farben bunt wirken. Der Neoimpressionismus läßt sich wahrscheinlich in der
dekorativen Kunst unmittelbar anwenden, gegenüber einer Malerei in Höheren Sinne
können aber seine Bestrebungen nur deu Rang einer Versuchsstation beanspruchen,
deren Arbeiten man dankbar verwertet, sofern dabei zwischen Experiment und Leistung
reinlich geschieden wird. Werden aber, wie es bei neuen Kunstrichtungen leicht
geht, Mittel und Ziele für dasselbe genommen, so kann man auch ein Plakat oder
eine nach den Grundsätzen der neuen Richtung entworfne "fünffarbige Original¬
lithographie," deren einige im Pan veröffentlicht werden, für ein Gemälde aus¬
geben, und viele werde" es dafür halten. Bei der großen Gunst aber, in der


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wo man zuerst 1386 leuchtende und dabei harmonisch gestimmte Bilder in reinen,
prismatisch aufgelösten Farben sah. Der Neoimpressionismus ist eine weitere Ent¬
wicklung dessen, was die frühern Farbenimpressionisten beabsichtigt hatten. Seine
Anhänger knüpfen an Delocroix an, dessen Abneigung gegen das Grau sprichwörtlich
geworden ist, und dessen Bilder immer farbiger wurden; er trat in seinen Schriften
gegen das Mischen der Farben auf und wies namentlich auf die Wirkung neben
einander gesetzter reiner Komplementärfarben hin. Eingehend hat dann der eng¬
lische Ästhetiker Ruskin von einem „Zerlegen" der Farben durch Auftrag neben
oder über einander gehandelt. Er hatte das an der Aquarellmalerei beobachtet
und forderte es nun für jede gute Malerei, in welcher Technik auch immer. Der
Ton eiuer Farbe soll nicht durch Mischung mit einer dunklern verstärkt werden,
sondern durch kräftigeres Auftragen derselben Farbe, die Abschattirung soll nicht
durch Mischung erfolgen, sondern durch Aufsetzen lauter einzelner Töne, oft in ganz
kleinen Strichen, Flecken oder Punkten; das Spiel mehrerer Farben sei reizvoller
für das Auge als der Eindruck einer eintönigen Fläche, und um die Farben be¬
sonders leuchtend zu machen, solle man zwischen den einzelnen farbigen Punkten
etwas Weiß stehen lassen. Nicht die zu dunkeln Farben, sondern die Mischung
und der zu gleichmäßige Auftrag seien schuld an den trüben braunen und grauen
Bildern, die man bis dahin für schon gehalten hätte; sauber und mosaikartig müsse
jede gute Malerei ihre Farben hinsetzen, dann erst könnte sie ans das Ange wirken
wie die farbige Natur. Die Neoimpressionisten lassen also den Mischnngsprozeß
ihrer reinen, auf die Leinwand gesetzten Farben sich erst auf der Netzhaut des
Auges vollziehen, sie halten die Elemente, aus denen sich die Nüancen nnßer der
Lolalfarbe, also Beleuchtung, Beschattung, Reflex ergeben, ebenfalls getrennt, be¬
rücksichtigen dabei Kontrastwirkung, Abschwächung und Strahlung und drücken die
Trennung oder Zerlegung der Farben auch noch weiter in der Größe der einzelnen
Pinselstriche aus, sodnß sich das Ganze in Farbe und Zeichnung erst bei einem
gewissen Abstände im Ange vereinigt. Das Auge übernimmt Leistungen, die ihm
früher teils durch die Mischung auf der Palette, teils durch die Art des Auftrags
auf die Leinwand abgenommen wurden, es wird dnrch die neue Kunst mehr an¬
geregt, und darin soll für diese selbst die weitere Hoffnung auf die Zukunft liegen.
Einige dieser neuen Impressionisten verwerten außer jenen allgemein geltenden
Regeln noch andre Mittel für ihre Eindrücke. Der Charakter der Bilder wird
durch Linien mit bestimmt, steigende bedeuten Freude, sinkende Trauer, horizontale
Ruhe, ferner durch Tönung und Nüance: helle und warme Farben passen zu auf¬
steigenden, dunkle und kalte zu fallenden Linien. Der Neoimpressionist wirkt wie
der Dichter und steht erst am Anfange dessen, was mit dieser Kunst überhaupt
noch einmal geleistet werden kann. Dürfen wir zu diesem mit großer Wärme vor¬
getragnen Problem unsre bescheidne Meinung sage», so liegt ja ohne Frage etwas
richtiges darin beschlossen, was man am trivialsten so ausdrücken könnte, daß reine
Farben bunt wirken. Der Neoimpressionismus läßt sich wahrscheinlich in der
dekorativen Kunst unmittelbar anwenden, gegenüber einer Malerei in Höheren Sinne
können aber seine Bestrebungen nur deu Rang einer Versuchsstation beanspruchen,
deren Arbeiten man dankbar verwertet, sofern dabei zwischen Experiment und Leistung
reinlich geschieden wird. Werden aber, wie es bei neuen Kunstrichtungen leicht
geht, Mittel und Ziele für dasselbe genommen, so kann man auch ein Plakat oder
eine nach den Grundsätzen der neuen Richtung entworfne „fünffarbige Original¬
lithographie," deren einige im Pan veröffentlicht werden, für ein Gemälde aus¬
geben, und viele werde» es dafür halten. Bei der großen Gunst aber, in der


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[0371] Neue llunstlitteratur wo man zuerst 1386 leuchtende und dabei harmonisch gestimmte Bilder in reinen, prismatisch aufgelösten Farben sah. Der Neoimpressionismus ist eine weitere Ent¬ wicklung dessen, was die frühern Farbenimpressionisten beabsichtigt hatten. Seine Anhänger knüpfen an Delocroix an, dessen Abneigung gegen das Grau sprichwörtlich geworden ist, und dessen Bilder immer farbiger wurden; er trat in seinen Schriften gegen das Mischen der Farben auf und wies namentlich auf die Wirkung neben einander gesetzter reiner Komplementärfarben hin. Eingehend hat dann der eng¬ lische Ästhetiker Ruskin von einem „Zerlegen" der Farben durch Auftrag neben oder über einander gehandelt. Er hatte das an der Aquarellmalerei beobachtet und forderte es nun für jede gute Malerei, in welcher Technik auch immer. Der Ton eiuer Farbe soll nicht durch Mischung mit einer dunklern verstärkt werden, sondern durch kräftigeres Auftragen derselben Farbe, die Abschattirung soll nicht durch Mischung erfolgen, sondern durch Aufsetzen lauter einzelner Töne, oft in ganz kleinen Strichen, Flecken oder Punkten; das Spiel mehrerer Farben sei reizvoller für das Auge als der Eindruck einer eintönigen Fläche, und um die Farben be¬ sonders leuchtend zu machen, solle man zwischen den einzelnen farbigen Punkten etwas Weiß stehen lassen. Nicht die zu dunkeln Farben, sondern die Mischung und der zu gleichmäßige Auftrag seien schuld an den trüben braunen und grauen Bildern, die man bis dahin für schon gehalten hätte; sauber und mosaikartig müsse jede gute Malerei ihre Farben hinsetzen, dann erst könnte sie ans das Ange wirken wie die farbige Natur. Die Neoimpressionisten lassen also den Mischnngsprozeß ihrer reinen, auf die Leinwand gesetzten Farben sich erst auf der Netzhaut des Auges vollziehen, sie halten die Elemente, aus denen sich die Nüancen nnßer der Lolalfarbe, also Beleuchtung, Beschattung, Reflex ergeben, ebenfalls getrennt, be¬ rücksichtigen dabei Kontrastwirkung, Abschwächung und Strahlung und drücken die Trennung oder Zerlegung der Farben auch noch weiter in der Größe der einzelnen Pinselstriche aus, sodnß sich das Ganze in Farbe und Zeichnung erst bei einem gewissen Abstände im Ange vereinigt. Das Auge übernimmt Leistungen, die ihm früher teils durch die Mischung auf der Palette, teils durch die Art des Auftrags auf die Leinwand abgenommen wurden, es wird dnrch die neue Kunst mehr an¬ geregt, und darin soll für diese selbst die weitere Hoffnung auf die Zukunft liegen. Einige dieser neuen Impressionisten verwerten außer jenen allgemein geltenden Regeln noch andre Mittel für ihre Eindrücke. Der Charakter der Bilder wird durch Linien mit bestimmt, steigende bedeuten Freude, sinkende Trauer, horizontale Ruhe, ferner durch Tönung und Nüance: helle und warme Farben passen zu auf¬ steigenden, dunkle und kalte zu fallenden Linien. Der Neoimpressionist wirkt wie der Dichter und steht erst am Anfange dessen, was mit dieser Kunst überhaupt noch einmal geleistet werden kann. Dürfen wir zu diesem mit großer Wärme vor¬ getragnen Problem unsre bescheidne Meinung sage», so liegt ja ohne Frage etwas richtiges darin beschlossen, was man am trivialsten so ausdrücken könnte, daß reine Farben bunt wirken. Der Neoimpressionismus läßt sich wahrscheinlich in der dekorativen Kunst unmittelbar anwenden, gegenüber einer Malerei in Höheren Sinne können aber seine Bestrebungen nur deu Rang einer Versuchsstation beanspruchen, deren Arbeiten man dankbar verwertet, sofern dabei zwischen Experiment und Leistung reinlich geschieden wird. Werden aber, wie es bei neuen Kunstrichtungen leicht geht, Mittel und Ziele für dasselbe genommen, so kann man auch ein Plakat oder eine nach den Grundsätzen der neuen Richtung entworfne „fünffarbige Original¬ lithographie," deren einige im Pan veröffentlicht werden, für ein Gemälde aus¬ geben, und viele werde» es dafür halten. Bei der großen Gunst aber, in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/371>, abgerufen am 12.12.2024.