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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Lin neuer Streiter wider den Naturalismus

neue Kunst." Woermanns Versuch, aus einem Rückblick auf die bisherige
Entwicklung der Kunst eine Verständigung über die Ziele der Kunst oder viel¬
mehr nur einer gewissen Kunstrichtung unsrer Zeit herbeizuführen, hat eigentlich
nur die überzeugt, die von vornherein seiner Meinung waren. Auch Neumanns
Buch hat nur den Wert eines geistvollen Vermittlungsversuchs, der beide Teile
schonen, den einen zur Duldung des andern bewegen will. Zu einer ent-
schiednen Parteinahme gelangt er nicht und will er vielleicht auch nicht ge¬
langen; denn am Ende bekennt er, daß die Zukunft der Kunst vor ihm liege
etwa wie ein im Nebel wogendes Meer.

Trotz des Erfolges dieser beiden Bücher, der jedoch, wie es scheint, schon
im Schwinden begriffen ist, wird sich jeder einsichtige und weitschauende Kunst¬
freund sagen müssen, daß wir in dem Kampfe für und wider die "neue
Kunst," unter der übrigens, beiläufig bemerkt, jeder etwas andres versteht,
mit Halbheiten und Leisctretereien nicht vorwärtskommen, und um so freudiger
wird er das kräftige Wort begrüßen, das Carl Pietschker vor kurzem
allen, die Ohren haben zu hören, in seiner Schrift Carl Gussow und der
Naturalismus in Deutschland (Berlin, Mitscher und Röstell) zugerufen
hat. Pietschker ist von Beruf Geistlicher; nach langjähriger Amtsthätigkeit
-- er war zuletzt zwanzig Jahre Pfarrer in Bornstädt bei Potsdam -- ist
er in den Ruhestand getreten und widmet jetzt seine Muße ganz dem Studium
der Kunst, das ihn schon während der Zeit seiner seelsorgerischen Thätigkeit
nebenher beschäftigt hatte. Schon vor zwanzig Jahren hat er davon in einer
liebevollen Charakteristik des Schlachtenmalers Georg Vleibtreu, den er im
Kriege von 1870/71 kennen gelernt hatte, Zeugnis abgelegt. Der Leser hat
jedoch nicht zu befürchten, daß er in dem neuen Büchlein eine fanatische Kreuz¬
zugspredigt gegen den bösen Naturalismus, der ungehört verbrannt wird,
über sich ergehen lassen muß. Pietschker betont seinen religiösen Standpunkt,
insbesondre den eines evangelischen Christen nur, wenn seine persönlichen
Empfindungen durch die Versündigungen des Naturalismus an den Gestalten
der heiligen Geschichte verletzt werden, und das ist am Ende der Standpunkt,
der von jedem gläubigen Christen eingenommen wird und eingenommen werden
muß, gleichviel ob er Geistlicher oder Laie ist. Im übrigen setzt sich Pietschker
mit dem Naturalismus in voller Gelassenheit, im Tone eines gebildeten Welt¬
mannes aus einander, an dem auch die Gegner, deren Wortführer zumeist in
ihren litterarischen Ausdrucksformen zu wünschen übrig lassen, keinen Anstoß
nehmen können. Nichts spricht deutlicher für die Unbefangenheit des Verfassers,
für sein Bestreben, durch persönliche Teilnahme allen Erscheinungen in der
Kunst gerecht zu werden, als die Thatsache, daß er, wie er gelegentlich ein¬
fließen läßt, Mitglied der "Verbindung für historische Kunst" und -- Abonnent
des "Pan" ist. Ein größeres Maß von Vielseitigkeit kann man von einem
Kritiker, der sich unterfängt, in ein Wespennest zu stechen, nicht verlangen.


Lin neuer Streiter wider den Naturalismus

neue Kunst." Woermanns Versuch, aus einem Rückblick auf die bisherige
Entwicklung der Kunst eine Verständigung über die Ziele der Kunst oder viel¬
mehr nur einer gewissen Kunstrichtung unsrer Zeit herbeizuführen, hat eigentlich
nur die überzeugt, die von vornherein seiner Meinung waren. Auch Neumanns
Buch hat nur den Wert eines geistvollen Vermittlungsversuchs, der beide Teile
schonen, den einen zur Duldung des andern bewegen will. Zu einer ent-
schiednen Parteinahme gelangt er nicht und will er vielleicht auch nicht ge¬
langen; denn am Ende bekennt er, daß die Zukunft der Kunst vor ihm liege
etwa wie ein im Nebel wogendes Meer.

Trotz des Erfolges dieser beiden Bücher, der jedoch, wie es scheint, schon
im Schwinden begriffen ist, wird sich jeder einsichtige und weitschauende Kunst¬
freund sagen müssen, daß wir in dem Kampfe für und wider die „neue
Kunst," unter der übrigens, beiläufig bemerkt, jeder etwas andres versteht,
mit Halbheiten und Leisctretereien nicht vorwärtskommen, und um so freudiger
wird er das kräftige Wort begrüßen, das Carl Pietschker vor kurzem
allen, die Ohren haben zu hören, in seiner Schrift Carl Gussow und der
Naturalismus in Deutschland (Berlin, Mitscher und Röstell) zugerufen
hat. Pietschker ist von Beruf Geistlicher; nach langjähriger Amtsthätigkeit
— er war zuletzt zwanzig Jahre Pfarrer in Bornstädt bei Potsdam — ist
er in den Ruhestand getreten und widmet jetzt seine Muße ganz dem Studium
der Kunst, das ihn schon während der Zeit seiner seelsorgerischen Thätigkeit
nebenher beschäftigt hatte. Schon vor zwanzig Jahren hat er davon in einer
liebevollen Charakteristik des Schlachtenmalers Georg Vleibtreu, den er im
Kriege von 1870/71 kennen gelernt hatte, Zeugnis abgelegt. Der Leser hat
jedoch nicht zu befürchten, daß er in dem neuen Büchlein eine fanatische Kreuz¬
zugspredigt gegen den bösen Naturalismus, der ungehört verbrannt wird,
über sich ergehen lassen muß. Pietschker betont seinen religiösen Standpunkt,
insbesondre den eines evangelischen Christen nur, wenn seine persönlichen
Empfindungen durch die Versündigungen des Naturalismus an den Gestalten
der heiligen Geschichte verletzt werden, und das ist am Ende der Standpunkt,
der von jedem gläubigen Christen eingenommen wird und eingenommen werden
muß, gleichviel ob er Geistlicher oder Laie ist. Im übrigen setzt sich Pietschker
mit dem Naturalismus in voller Gelassenheit, im Tone eines gebildeten Welt¬
mannes aus einander, an dem auch die Gegner, deren Wortführer zumeist in
ihren litterarischen Ausdrucksformen zu wünschen übrig lassen, keinen Anstoß
nehmen können. Nichts spricht deutlicher für die Unbefangenheit des Verfassers,
für sein Bestreben, durch persönliche Teilnahme allen Erscheinungen in der
Kunst gerecht zu werden, als die Thatsache, daß er, wie er gelegentlich ein¬
fließen läßt, Mitglied der „Verbindung für historische Kunst" und — Abonnent
des „Pan" ist. Ein größeres Maß von Vielseitigkeit kann man von einem
Kritiker, der sich unterfängt, in ein Wespennest zu stechen, nicht verlangen.


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[0321] Lin neuer Streiter wider den Naturalismus neue Kunst." Woermanns Versuch, aus einem Rückblick auf die bisherige Entwicklung der Kunst eine Verständigung über die Ziele der Kunst oder viel¬ mehr nur einer gewissen Kunstrichtung unsrer Zeit herbeizuführen, hat eigentlich nur die überzeugt, die von vornherein seiner Meinung waren. Auch Neumanns Buch hat nur den Wert eines geistvollen Vermittlungsversuchs, der beide Teile schonen, den einen zur Duldung des andern bewegen will. Zu einer ent- schiednen Parteinahme gelangt er nicht und will er vielleicht auch nicht ge¬ langen; denn am Ende bekennt er, daß die Zukunft der Kunst vor ihm liege etwa wie ein im Nebel wogendes Meer. Trotz des Erfolges dieser beiden Bücher, der jedoch, wie es scheint, schon im Schwinden begriffen ist, wird sich jeder einsichtige und weitschauende Kunst¬ freund sagen müssen, daß wir in dem Kampfe für und wider die „neue Kunst," unter der übrigens, beiläufig bemerkt, jeder etwas andres versteht, mit Halbheiten und Leisctretereien nicht vorwärtskommen, und um so freudiger wird er das kräftige Wort begrüßen, das Carl Pietschker vor kurzem allen, die Ohren haben zu hören, in seiner Schrift Carl Gussow und der Naturalismus in Deutschland (Berlin, Mitscher und Röstell) zugerufen hat. Pietschker ist von Beruf Geistlicher; nach langjähriger Amtsthätigkeit — er war zuletzt zwanzig Jahre Pfarrer in Bornstädt bei Potsdam — ist er in den Ruhestand getreten und widmet jetzt seine Muße ganz dem Studium der Kunst, das ihn schon während der Zeit seiner seelsorgerischen Thätigkeit nebenher beschäftigt hatte. Schon vor zwanzig Jahren hat er davon in einer liebevollen Charakteristik des Schlachtenmalers Georg Vleibtreu, den er im Kriege von 1870/71 kennen gelernt hatte, Zeugnis abgelegt. Der Leser hat jedoch nicht zu befürchten, daß er in dem neuen Büchlein eine fanatische Kreuz¬ zugspredigt gegen den bösen Naturalismus, der ungehört verbrannt wird, über sich ergehen lassen muß. Pietschker betont seinen religiösen Standpunkt, insbesondre den eines evangelischen Christen nur, wenn seine persönlichen Empfindungen durch die Versündigungen des Naturalismus an den Gestalten der heiligen Geschichte verletzt werden, und das ist am Ende der Standpunkt, der von jedem gläubigen Christen eingenommen wird und eingenommen werden muß, gleichviel ob er Geistlicher oder Laie ist. Im übrigen setzt sich Pietschker mit dem Naturalismus in voller Gelassenheit, im Tone eines gebildeten Welt¬ mannes aus einander, an dem auch die Gegner, deren Wortführer zumeist in ihren litterarischen Ausdrucksformen zu wünschen übrig lassen, keinen Anstoß nehmen können. Nichts spricht deutlicher für die Unbefangenheit des Verfassers, für sein Bestreben, durch persönliche Teilnahme allen Erscheinungen in der Kunst gerecht zu werden, als die Thatsache, daß er, wie er gelegentlich ein¬ fließen läßt, Mitglied der „Verbindung für historische Kunst" und — Abonnent des „Pan" ist. Ein größeres Maß von Vielseitigkeit kann man von einem Kritiker, der sich unterfängt, in ein Wespennest zu stechen, nicht verlangen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/321>, abgerufen am 24.07.2024.