Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Sozialpolitik der nächsten Zeit

Verhältnisse der Klassen die Gemüter verbittert. Dazu ist heute im großen
und ganzen keinerlei Grund vorhanden. Das persönliche Verhalten ist es,
was die Unzufriedenheit steigert, und das ist nur zu sehr begründet. Je
weniger wir den landläufigen Angriffen gegen den Assessorismus in Preußen,
d. h. gegen die juristische Vorbildung des höhern Beamtentums beitreten,
gerade weil wir diese Vorbildung für nötig halten und ihre segensreiche
Wirkung nicht beeinträchtigt sehen wollen, desto mehr beklagen wir den sich
breitmachenden Assessorendünkel der Masse der subaltern- und Unterbeamten
gegenüber. Er hat seit zwanzig Jahren arge Fortschritte gemacht, und die
Unfruchtbarkeit der kathedcrsozialistischen Ära sür das soziale Pflichtgefühl der
Einzelnen findet darin eine traurige Bestätigung.

Noch müssen wir eines unentbehrlichen Hilfsmittels in dem bevorstehenden
Kampfe gedenken, der sogenannten Arbeitcrstatistik und der Sozialstatistik über¬
haupt. Ihr Wert für den Leiter unsrer Sozialpolitik liegt auf der Hand.
Leider ist ihre Organisation im Deutschen Reiche unfertig und bis jetzt ver¬
nachlässigt. Es ist schon früher bei der Besprechung einzelner Leistungen unsrer
amtlichen Statistik auf diesem Gebiete hervorgehoben worden, wie die unglück¬
selige büreaukratische Verteilung der Rollen zwischen dem Neichsamt des
Innern, der Kommission sür Arbeitcrstatistik und dem Statistischen Amt des
Reichs die Leistungen im allgemeinen beeinträchtigen muß. Natürlich befähigt
nur eine gründliche sozialwissenschaftliche und statistische Vorbildung zur Leitung
auch der arbeite" und sozialstatistischen Institutionen, und es hieße eine un¬
begreifliche Kurzsichtigkeit und Unkenntnis an maßgebender Stelle voraussetzen,
wollte man es sür möglich halten, daß nach dieser Richtung hin nicht baldigst
eine durchgreifende Reform vorgenommen wird. Sollte man etwa an den zur
Zeit den Ausschlag gebenden Stellen in den Irrtum verfallen, die amtliche
Statistik auf diesem Gebiet lediglich als Rechenmaschine brauchen zu können,
der man auf das, was erfragt und wie gefragt werden soll, den bestimmenden
Einfluß versagt, so würde niemals etwas Vernünftiges herauskommen, denn
auch der geschulteste und gewissenhafteste Statistiker kann aus wertlosen
Material nichts Wertvolles herausrechnen. Selbstverständlich wird wohl die
grundsätzlich nur den Sachverstand des agrarisch-grvßindustriellen Unternehmer¬
tums als Richtschnur für die Sozialpolitik der uüchsten Zeit anerkennende
Strömung für eine sachverständige Arbeiterstatistik nicht viel übrig haben,
vielleicht sogar alles daran setzen, eine solche unmöglich zu machen. Auch in
dieser Frage haben wir eben nicht ohne Besorgnis abzuwarten, ob und wie¬
weit die obersten Berater des Kaisers aus sich selbst das, was nötig ist, ver¬
anlassen werden. Daß der Kaiser recht bald auch der Statistik und im be¬
sondern der Arbciterstatistik seine volle persönliche Aufmerksamkeit zuwenden
möge, ist dringend zu wünschen. Schade, daß er gerade dazu nicht längst
Zeit und Gelegenheit gefunden hat.


Die Sozialpolitik der nächsten Zeit

Verhältnisse der Klassen die Gemüter verbittert. Dazu ist heute im großen
und ganzen keinerlei Grund vorhanden. Das persönliche Verhalten ist es,
was die Unzufriedenheit steigert, und das ist nur zu sehr begründet. Je
weniger wir den landläufigen Angriffen gegen den Assessorismus in Preußen,
d. h. gegen die juristische Vorbildung des höhern Beamtentums beitreten,
gerade weil wir diese Vorbildung für nötig halten und ihre segensreiche
Wirkung nicht beeinträchtigt sehen wollen, desto mehr beklagen wir den sich
breitmachenden Assessorendünkel der Masse der subaltern- und Unterbeamten
gegenüber. Er hat seit zwanzig Jahren arge Fortschritte gemacht, und die
Unfruchtbarkeit der kathedcrsozialistischen Ära sür das soziale Pflichtgefühl der
Einzelnen findet darin eine traurige Bestätigung.

Noch müssen wir eines unentbehrlichen Hilfsmittels in dem bevorstehenden
Kampfe gedenken, der sogenannten Arbeitcrstatistik und der Sozialstatistik über¬
haupt. Ihr Wert für den Leiter unsrer Sozialpolitik liegt auf der Hand.
Leider ist ihre Organisation im Deutschen Reiche unfertig und bis jetzt ver¬
nachlässigt. Es ist schon früher bei der Besprechung einzelner Leistungen unsrer
amtlichen Statistik auf diesem Gebiete hervorgehoben worden, wie die unglück¬
selige büreaukratische Verteilung der Rollen zwischen dem Neichsamt des
Innern, der Kommission sür Arbeitcrstatistik und dem Statistischen Amt des
Reichs die Leistungen im allgemeinen beeinträchtigen muß. Natürlich befähigt
nur eine gründliche sozialwissenschaftliche und statistische Vorbildung zur Leitung
auch der arbeite» und sozialstatistischen Institutionen, und es hieße eine un¬
begreifliche Kurzsichtigkeit und Unkenntnis an maßgebender Stelle voraussetzen,
wollte man es sür möglich halten, daß nach dieser Richtung hin nicht baldigst
eine durchgreifende Reform vorgenommen wird. Sollte man etwa an den zur
Zeit den Ausschlag gebenden Stellen in den Irrtum verfallen, die amtliche
Statistik auf diesem Gebiet lediglich als Rechenmaschine brauchen zu können,
der man auf das, was erfragt und wie gefragt werden soll, den bestimmenden
Einfluß versagt, so würde niemals etwas Vernünftiges herauskommen, denn
auch der geschulteste und gewissenhafteste Statistiker kann aus wertlosen
Material nichts Wertvolles herausrechnen. Selbstverständlich wird wohl die
grundsätzlich nur den Sachverstand des agrarisch-grvßindustriellen Unternehmer¬
tums als Richtschnur für die Sozialpolitik der uüchsten Zeit anerkennende
Strömung für eine sachverständige Arbeiterstatistik nicht viel übrig haben,
vielleicht sogar alles daran setzen, eine solche unmöglich zu machen. Auch in
dieser Frage haben wir eben nicht ohne Besorgnis abzuwarten, ob und wie¬
weit die obersten Berater des Kaisers aus sich selbst das, was nötig ist, ver¬
anlassen werden. Daß der Kaiser recht bald auch der Statistik und im be¬
sondern der Arbciterstatistik seine volle persönliche Aufmerksamkeit zuwenden
möge, ist dringend zu wünschen. Schade, daß er gerade dazu nicht längst
Zeit und Gelegenheit gefunden hat.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0032" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228980"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Sozialpolitik der nächsten Zeit</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_55" prev="#ID_54"> Verhältnisse der Klassen die Gemüter verbittert. Dazu ist heute im großen<lb/>
und ganzen keinerlei Grund vorhanden. Das persönliche Verhalten ist es,<lb/>
was die Unzufriedenheit steigert, und das ist nur zu sehr begründet. Je<lb/>
weniger wir den landläufigen Angriffen gegen den Assessorismus in Preußen,<lb/>
d. h. gegen die juristische Vorbildung des höhern Beamtentums beitreten,<lb/>
gerade weil wir diese Vorbildung für nötig halten und ihre segensreiche<lb/>
Wirkung nicht beeinträchtigt sehen wollen, desto mehr beklagen wir den sich<lb/>
breitmachenden Assessorendünkel der Masse der subaltern- und Unterbeamten<lb/>
gegenüber. Er hat seit zwanzig Jahren arge Fortschritte gemacht, und die<lb/>
Unfruchtbarkeit der kathedcrsozialistischen Ära sür das soziale Pflichtgefühl der<lb/>
Einzelnen findet darin eine traurige Bestätigung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_56"> Noch müssen wir eines unentbehrlichen Hilfsmittels in dem bevorstehenden<lb/>
Kampfe gedenken, der sogenannten Arbeitcrstatistik und der Sozialstatistik über¬<lb/>
haupt. Ihr Wert für den Leiter unsrer Sozialpolitik liegt auf der Hand.<lb/>
Leider ist ihre Organisation im Deutschen Reiche unfertig und bis jetzt ver¬<lb/>
nachlässigt. Es ist schon früher bei der Besprechung einzelner Leistungen unsrer<lb/>
amtlichen Statistik auf diesem Gebiete hervorgehoben worden, wie die unglück¬<lb/>
selige büreaukratische Verteilung der Rollen zwischen dem Neichsamt des<lb/>
Innern, der Kommission sür Arbeitcrstatistik und dem Statistischen Amt des<lb/>
Reichs die Leistungen im allgemeinen beeinträchtigen muß. Natürlich befähigt<lb/>
nur eine gründliche sozialwissenschaftliche und statistische Vorbildung zur Leitung<lb/>
auch der arbeite» und sozialstatistischen Institutionen, und es hieße eine un¬<lb/>
begreifliche Kurzsichtigkeit und Unkenntnis an maßgebender Stelle voraussetzen,<lb/>
wollte man es sür möglich halten, daß nach dieser Richtung hin nicht baldigst<lb/>
eine durchgreifende Reform vorgenommen wird. Sollte man etwa an den zur<lb/>
Zeit den Ausschlag gebenden Stellen in den Irrtum verfallen, die amtliche<lb/>
Statistik auf diesem Gebiet lediglich als Rechenmaschine brauchen zu können,<lb/>
der man auf das, was erfragt und wie gefragt werden soll, den bestimmenden<lb/>
Einfluß versagt, so würde niemals etwas Vernünftiges herauskommen, denn<lb/>
auch der geschulteste und gewissenhafteste Statistiker kann aus wertlosen<lb/>
Material nichts Wertvolles herausrechnen. Selbstverständlich wird wohl die<lb/>
grundsätzlich nur den Sachverstand des agrarisch-grvßindustriellen Unternehmer¬<lb/>
tums als Richtschnur für die Sozialpolitik der uüchsten Zeit anerkennende<lb/>
Strömung für eine sachverständige Arbeiterstatistik nicht viel übrig haben,<lb/>
vielleicht sogar alles daran setzen, eine solche unmöglich zu machen. Auch in<lb/>
dieser Frage haben wir eben nicht ohne Besorgnis abzuwarten, ob und wie¬<lb/>
weit die obersten Berater des Kaisers aus sich selbst das, was nötig ist, ver¬<lb/>
anlassen werden. Daß der Kaiser recht bald auch der Statistik und im be¬<lb/>
sondern der Arbciterstatistik seine volle persönliche Aufmerksamkeit zuwenden<lb/>
möge, ist dringend zu wünschen. Schade, daß er gerade dazu nicht längst<lb/>
Zeit und Gelegenheit gefunden hat.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0032] Die Sozialpolitik der nächsten Zeit Verhältnisse der Klassen die Gemüter verbittert. Dazu ist heute im großen und ganzen keinerlei Grund vorhanden. Das persönliche Verhalten ist es, was die Unzufriedenheit steigert, und das ist nur zu sehr begründet. Je weniger wir den landläufigen Angriffen gegen den Assessorismus in Preußen, d. h. gegen die juristische Vorbildung des höhern Beamtentums beitreten, gerade weil wir diese Vorbildung für nötig halten und ihre segensreiche Wirkung nicht beeinträchtigt sehen wollen, desto mehr beklagen wir den sich breitmachenden Assessorendünkel der Masse der subaltern- und Unterbeamten gegenüber. Er hat seit zwanzig Jahren arge Fortschritte gemacht, und die Unfruchtbarkeit der kathedcrsozialistischen Ära sür das soziale Pflichtgefühl der Einzelnen findet darin eine traurige Bestätigung. Noch müssen wir eines unentbehrlichen Hilfsmittels in dem bevorstehenden Kampfe gedenken, der sogenannten Arbeitcrstatistik und der Sozialstatistik über¬ haupt. Ihr Wert für den Leiter unsrer Sozialpolitik liegt auf der Hand. Leider ist ihre Organisation im Deutschen Reiche unfertig und bis jetzt ver¬ nachlässigt. Es ist schon früher bei der Besprechung einzelner Leistungen unsrer amtlichen Statistik auf diesem Gebiete hervorgehoben worden, wie die unglück¬ selige büreaukratische Verteilung der Rollen zwischen dem Neichsamt des Innern, der Kommission sür Arbeitcrstatistik und dem Statistischen Amt des Reichs die Leistungen im allgemeinen beeinträchtigen muß. Natürlich befähigt nur eine gründliche sozialwissenschaftliche und statistische Vorbildung zur Leitung auch der arbeite» und sozialstatistischen Institutionen, und es hieße eine un¬ begreifliche Kurzsichtigkeit und Unkenntnis an maßgebender Stelle voraussetzen, wollte man es sür möglich halten, daß nach dieser Richtung hin nicht baldigst eine durchgreifende Reform vorgenommen wird. Sollte man etwa an den zur Zeit den Ausschlag gebenden Stellen in den Irrtum verfallen, die amtliche Statistik auf diesem Gebiet lediglich als Rechenmaschine brauchen zu können, der man auf das, was erfragt und wie gefragt werden soll, den bestimmenden Einfluß versagt, so würde niemals etwas Vernünftiges herauskommen, denn auch der geschulteste und gewissenhafteste Statistiker kann aus wertlosen Material nichts Wertvolles herausrechnen. Selbstverständlich wird wohl die grundsätzlich nur den Sachverstand des agrarisch-grvßindustriellen Unternehmer¬ tums als Richtschnur für die Sozialpolitik der uüchsten Zeit anerkennende Strömung für eine sachverständige Arbeiterstatistik nicht viel übrig haben, vielleicht sogar alles daran setzen, eine solche unmöglich zu machen. Auch in dieser Frage haben wir eben nicht ohne Besorgnis abzuwarten, ob und wie¬ weit die obersten Berater des Kaisers aus sich selbst das, was nötig ist, ver¬ anlassen werden. Daß der Kaiser recht bald auch der Statistik und im be¬ sondern der Arbciterstatistik seine volle persönliche Aufmerksamkeit zuwenden möge, ist dringend zu wünschen. Schade, daß er gerade dazu nicht längst Zeit und Gelegenheit gefunden hat.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/32
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/32>, abgerufen am 24.07.2024.