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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Tastbare Malerei

und nennt sich lineare Dekoration. In dieser Kunst der Künste mag Votticelli
in Japan und anderswo im Osten Nebenbuhler gehabt haben, aber in Europa
niemals." Weiterhin: "Das repräsentative Element (soll heißen der Bildstoff)
war für ihn ein bloßes Libretto, er war am glücklichsten, wenn sein Stoff sich
zur Übertragung in das eignete, was man füglich lineare Symphonie nennen
kann." Das ist zutreffend, wenngleich etwas orgiastisch ausgedrückt. Darauf
heißt es, in einigen spätern Werken, wie den Dresdner Predellen mit der Ge¬
schichte des Zenobius, Hütten wir "allerdings mehr Bacchanale als Symphonien
der Linien." Die Metapher gehört zu den schwellenden, pompösen, wie sie
bekanntlich unsre kühlen, rechnenden Stammesvettern auch in ihrer einfachsten
Prosa lieben; die Grundlage des Gleichnisses ist jedoch diesmal nicht tragfühig,
denn die Dresdner Tafeln sind recht plumpe Werkstattbilder.

Aber der Verfasser ist überhaupt in seinem Bildermaterial, wie z. B. ein
dem Buche angehängtes Verzeichnis erkennen läßt, recht weitherzig, und seine
Toleranz gegen das Mittelmäßige sticht seltsam ab gegen die Ansprüche und
Vorbehalte, mit denen er dann wieder an Werke geht, die andre Menschen
ohne Einschränkung zu bewundern und zu genießen pflegen. Man wird
vielleicht sagen, daß die ästhetische Genußfähigkeit bei den Einzelnen verschieden
sei, und daß jeder für sein Urteil einstehen müsse und werde. Gewiß, und
will man darnach Berensons Mitteilungen als subjektive Geschmacksurteile eines
geistreichen und in ungewöhnlichem Maße unterhaltenden Mannes schätzen, so
sind wir ganz auf dieser Seite. Es kann kaum etwas unterhaltenderes auf
diesem Gebiete geben, als Berensons Beobachtungen über Lionardo da Vinci
und Michelangelo. "Alles, was er vom Leben begehrte -- sagt er von
Lionardo --, war das Glück, nützlich zu sein." Wie glücklich ist das gesagt!
es macht Eindruck und ist auch, wenn man nachdenken will, richtig. Aber
freilich, daß er alles, was seine Vorgänger vollbracht hatten, erreicht und über¬
troffen hätte, und zwar "ohne die leiseste Spur des Probirens und der mühsamen
Anstrengung." das ist wieder keineswegs richtig, sondern eine von den unüber¬
legten Antithesen, die aus dem Bestreben hervorgehen, einen Gegenstand inter¬
essant zu machen. Mit demselben Rechte könnte man sagen: Lionardos ganzes
Leben war Anstrengung und Probiren. Er seufzte nur nicht so schwer darunter
wie Michelangelo, weil er die Proben beizeiten aus der Hand legte, an neue
Versuche ging und dann den ganzen Reichtum seiner Erfindung sorglos am
Wege liegen ließ; bis zu den Stufen oder Graden der Ausführung, mit denen
Michelangelos Nöte erst anhoben, kam er ja meistens gar nicht. Berenson
sagt weiter: "Außer bei Velazquez und vielleicht Rembrandt und Degas(ü)
in ihren besten Leistungen werden wir vergeblich nach so anregenden und über¬
zeugenden Taktilwerten suchen, wie die seiner Mona Lisa sind." Das ist
wieder so anfechtbar, wie nur möglich, und die Auswahl der Namen durchaus
willkürlich. So unterhält uns der Verfasser mit seinen Aperyns, aber wir


Tastbare Malerei

und nennt sich lineare Dekoration. In dieser Kunst der Künste mag Votticelli
in Japan und anderswo im Osten Nebenbuhler gehabt haben, aber in Europa
niemals." Weiterhin: „Das repräsentative Element (soll heißen der Bildstoff)
war für ihn ein bloßes Libretto, er war am glücklichsten, wenn sein Stoff sich
zur Übertragung in das eignete, was man füglich lineare Symphonie nennen
kann." Das ist zutreffend, wenngleich etwas orgiastisch ausgedrückt. Darauf
heißt es, in einigen spätern Werken, wie den Dresdner Predellen mit der Ge¬
schichte des Zenobius, Hütten wir „allerdings mehr Bacchanale als Symphonien
der Linien." Die Metapher gehört zu den schwellenden, pompösen, wie sie
bekanntlich unsre kühlen, rechnenden Stammesvettern auch in ihrer einfachsten
Prosa lieben; die Grundlage des Gleichnisses ist jedoch diesmal nicht tragfühig,
denn die Dresdner Tafeln sind recht plumpe Werkstattbilder.

Aber der Verfasser ist überhaupt in seinem Bildermaterial, wie z. B. ein
dem Buche angehängtes Verzeichnis erkennen läßt, recht weitherzig, und seine
Toleranz gegen das Mittelmäßige sticht seltsam ab gegen die Ansprüche und
Vorbehalte, mit denen er dann wieder an Werke geht, die andre Menschen
ohne Einschränkung zu bewundern und zu genießen pflegen. Man wird
vielleicht sagen, daß die ästhetische Genußfähigkeit bei den Einzelnen verschieden
sei, und daß jeder für sein Urteil einstehen müsse und werde. Gewiß, und
will man darnach Berensons Mitteilungen als subjektive Geschmacksurteile eines
geistreichen und in ungewöhnlichem Maße unterhaltenden Mannes schätzen, so
sind wir ganz auf dieser Seite. Es kann kaum etwas unterhaltenderes auf
diesem Gebiete geben, als Berensons Beobachtungen über Lionardo da Vinci
und Michelangelo. „Alles, was er vom Leben begehrte — sagt er von
Lionardo —, war das Glück, nützlich zu sein." Wie glücklich ist das gesagt!
es macht Eindruck und ist auch, wenn man nachdenken will, richtig. Aber
freilich, daß er alles, was seine Vorgänger vollbracht hatten, erreicht und über¬
troffen hätte, und zwar „ohne die leiseste Spur des Probirens und der mühsamen
Anstrengung." das ist wieder keineswegs richtig, sondern eine von den unüber¬
legten Antithesen, die aus dem Bestreben hervorgehen, einen Gegenstand inter¬
essant zu machen. Mit demselben Rechte könnte man sagen: Lionardos ganzes
Leben war Anstrengung und Probiren. Er seufzte nur nicht so schwer darunter
wie Michelangelo, weil er die Proben beizeiten aus der Hand legte, an neue
Versuche ging und dann den ganzen Reichtum seiner Erfindung sorglos am
Wege liegen ließ; bis zu den Stufen oder Graden der Ausführung, mit denen
Michelangelos Nöte erst anhoben, kam er ja meistens gar nicht. Berenson
sagt weiter: „Außer bei Velazquez und vielleicht Rembrandt und Degas(ü)
in ihren besten Leistungen werden wir vergeblich nach so anregenden und über¬
zeugenden Taktilwerten suchen, wie die seiner Mona Lisa sind." Das ist
wieder so anfechtbar, wie nur möglich, und die Auswahl der Namen durchaus
willkürlich. So unterhält uns der Verfasser mit seinen Aperyns, aber wir


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[0319] Tastbare Malerei und nennt sich lineare Dekoration. In dieser Kunst der Künste mag Votticelli in Japan und anderswo im Osten Nebenbuhler gehabt haben, aber in Europa niemals." Weiterhin: „Das repräsentative Element (soll heißen der Bildstoff) war für ihn ein bloßes Libretto, er war am glücklichsten, wenn sein Stoff sich zur Übertragung in das eignete, was man füglich lineare Symphonie nennen kann." Das ist zutreffend, wenngleich etwas orgiastisch ausgedrückt. Darauf heißt es, in einigen spätern Werken, wie den Dresdner Predellen mit der Ge¬ schichte des Zenobius, Hütten wir „allerdings mehr Bacchanale als Symphonien der Linien." Die Metapher gehört zu den schwellenden, pompösen, wie sie bekanntlich unsre kühlen, rechnenden Stammesvettern auch in ihrer einfachsten Prosa lieben; die Grundlage des Gleichnisses ist jedoch diesmal nicht tragfühig, denn die Dresdner Tafeln sind recht plumpe Werkstattbilder. Aber der Verfasser ist überhaupt in seinem Bildermaterial, wie z. B. ein dem Buche angehängtes Verzeichnis erkennen läßt, recht weitherzig, und seine Toleranz gegen das Mittelmäßige sticht seltsam ab gegen die Ansprüche und Vorbehalte, mit denen er dann wieder an Werke geht, die andre Menschen ohne Einschränkung zu bewundern und zu genießen pflegen. Man wird vielleicht sagen, daß die ästhetische Genußfähigkeit bei den Einzelnen verschieden sei, und daß jeder für sein Urteil einstehen müsse und werde. Gewiß, und will man darnach Berensons Mitteilungen als subjektive Geschmacksurteile eines geistreichen und in ungewöhnlichem Maße unterhaltenden Mannes schätzen, so sind wir ganz auf dieser Seite. Es kann kaum etwas unterhaltenderes auf diesem Gebiete geben, als Berensons Beobachtungen über Lionardo da Vinci und Michelangelo. „Alles, was er vom Leben begehrte — sagt er von Lionardo —, war das Glück, nützlich zu sein." Wie glücklich ist das gesagt! es macht Eindruck und ist auch, wenn man nachdenken will, richtig. Aber freilich, daß er alles, was seine Vorgänger vollbracht hatten, erreicht und über¬ troffen hätte, und zwar „ohne die leiseste Spur des Probirens und der mühsamen Anstrengung." das ist wieder keineswegs richtig, sondern eine von den unüber¬ legten Antithesen, die aus dem Bestreben hervorgehen, einen Gegenstand inter¬ essant zu machen. Mit demselben Rechte könnte man sagen: Lionardos ganzes Leben war Anstrengung und Probiren. Er seufzte nur nicht so schwer darunter wie Michelangelo, weil er die Proben beizeiten aus der Hand legte, an neue Versuche ging und dann den ganzen Reichtum seiner Erfindung sorglos am Wege liegen ließ; bis zu den Stufen oder Graden der Ausführung, mit denen Michelangelos Nöte erst anhoben, kam er ja meistens gar nicht. Berenson sagt weiter: „Außer bei Velazquez und vielleicht Rembrandt und Degas(ü) in ihren besten Leistungen werden wir vergeblich nach so anregenden und über¬ zeugenden Taktilwerten suchen, wie die seiner Mona Lisa sind." Das ist wieder so anfechtbar, wie nur möglich, und die Auswahl der Namen durchaus willkürlich. So unterhält uns der Verfasser mit seinen Aperyns, aber wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/319>, abgerufen am 24.07.2024.