Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.Tastbare Malerei risirende Tugenden und Laster in der Arena zu Padua charnkterisirt, ganz in Wir glauben, daß, wenn diese Bemerkungen jemand etwas nützen, oder Und wie leicht geschieht es überhaupt, daß wir in solcher Verfassung etwas Tastbare Malerei risirende Tugenden und Laster in der Arena zu Padua charnkterisirt, ganz in Wir glauben, daß, wenn diese Bemerkungen jemand etwas nützen, oder Und wie leicht geschieht es überhaupt, daß wir in solcher Verfassung etwas <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0315" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229264"/> <fw type="header" place="top"> Tastbare Malerei</fw><lb/> <p xml:id="ID_854" prev="#ID_853"> risirende Tugenden und Laster in der Arena zu Padua charnkterisirt, ganz in<lb/> die Berührbarkeit zu setzen. „Was ist die Darstellung der Taktilwerte eines<lb/> Gegenstandes anders als die Mitteilung seiner materiellen Bedeutung?"<lb/> Nebenher wird dann bei der Schilderung dieser berühmten Einzelfiguren<lb/> Giottos als weiteres Beispiel und als Beleg seines Sinnes für das Signifikante<lb/> noch angeführt seine „Behandlung von Aktion und Bewegung," und es ist,<lb/> als sollte uns nun durch das immer wiederholte Beiwort nachdrücklich bei¬<lb/> gebracht werden, daß zur Vervollständigung unsrer Vorstellung von der Signi¬<lb/> fikanz noch etwas nachzuholen sei. „So verleiht Giotto mit der signifikanten<lb/> Linie, dem signifikanten Licht und Schatten, dem signifikanten Auf- und Nieder¬<lb/> blick und der signifikanten Geberde usw. eine vollständige Empfindung von<lb/> Bewegung."</p><lb/> <p xml:id="ID_855"> Wir glauben, daß, wenn diese Bemerkungen jemand etwas nützen, oder<lb/> wenn sie ihm auch nur verstündlich sein sollen, er schon sehr „fest im Guten"<lb/> sein müßte, und wir würden lieber das Problem der Giottoschen „Signifikanz"<lb/> von der umgekehrten Seite zu erklären suchen. Der erste und der beste Eindruck<lb/> eines Bildes von Giotto beruht gar nicht auf der Taktilität seiner Gegen¬<lb/> stünde. Mehr als durch Nundung, Körperlichkeit, perspektivische Vertiefung,<lb/> was alles noch sehr unvollkommen bei ihm ausgedrückt wird, wirkt er durch<lb/> den lebengebenden Umriß seiner Figuren, durch eine Art zu charakterisiren, die<lb/> durchaus auf der Fläche beruht, ja sogar mit der bloßen Silhouette möglich ist.<lb/> Die starke Illusion der Bewegung, die er hervorruft, ist also, wenn man auf<lb/> ihre Mittel sieht, zunächst nur „zweidimensional." Dann erst wirken unter¬<lb/> stützend und ganz bescheiden die Mittel der plastischen, raumschaffenden Illusion:<lb/> perspektivische Verkürzung, vertiefter Hintergrund, Rundung und Modelliruug<lb/> durch Formschatten; vom Helldunkel kann überhaupt nicht die Rede sein. Diese<lb/> sehr bescheidne Raumdarstellung Giottos hat der Verfasser unter dem Einfluß<lb/> seiner „Taktilwerte" übertrieben, seine Theorie, seine Freude an der Formel<lb/> hat offenbar seinen Blick befangen gemacht.</p><lb/> <p xml:id="ID_856"> Und wie leicht geschieht es überhaupt, daß wir in solcher Verfassung etwas<lb/> niederschreiben, was für eine Beobachtung gelten soll, während es höchstens<lb/> eine ungenaue Erinnerung ist, etwas, das wir so auszudrücken gar nicht wagen<lb/> würden, wenn wir das Auge auf den Gegenstand gerichtet, über ihn mündlich<lb/> sprächen! Wie könnte sonst Berenson von Masaceios bekanntem vor Kälte<lb/> zitterndem Manne in der Brancaccikapelle das einemal sagen, er sei ohne eigent¬<lb/> liche Signifikanz, und das andremal, was Masaccio im Nackten und in der<lb/> Bewegung leistete, das bezeuge gerade dieser Mann (S. 44 und 59)? So ver¬<lb/> führt ihn offenbar ferner der Gegensatz gegen Masaccio zu der Behauptung,<lb/> Filippinos Fresken in der Brancaccikapelle seien „unüberzeugend und bedeutungs¬<lb/> los, weil ohne Taktilwert," während wir andern nicht einmal über die Grenz¬<lb/> scheide der beiderseitigen Arbeit ganz im reinen sind.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0315]
Tastbare Malerei
risirende Tugenden und Laster in der Arena zu Padua charnkterisirt, ganz in
die Berührbarkeit zu setzen. „Was ist die Darstellung der Taktilwerte eines
Gegenstandes anders als die Mitteilung seiner materiellen Bedeutung?"
Nebenher wird dann bei der Schilderung dieser berühmten Einzelfiguren
Giottos als weiteres Beispiel und als Beleg seines Sinnes für das Signifikante
noch angeführt seine „Behandlung von Aktion und Bewegung," und es ist,
als sollte uns nun durch das immer wiederholte Beiwort nachdrücklich bei¬
gebracht werden, daß zur Vervollständigung unsrer Vorstellung von der Signi¬
fikanz noch etwas nachzuholen sei. „So verleiht Giotto mit der signifikanten
Linie, dem signifikanten Licht und Schatten, dem signifikanten Auf- und Nieder¬
blick und der signifikanten Geberde usw. eine vollständige Empfindung von
Bewegung."
Wir glauben, daß, wenn diese Bemerkungen jemand etwas nützen, oder
wenn sie ihm auch nur verstündlich sein sollen, er schon sehr „fest im Guten"
sein müßte, und wir würden lieber das Problem der Giottoschen „Signifikanz"
von der umgekehrten Seite zu erklären suchen. Der erste und der beste Eindruck
eines Bildes von Giotto beruht gar nicht auf der Taktilität seiner Gegen¬
stünde. Mehr als durch Nundung, Körperlichkeit, perspektivische Vertiefung,
was alles noch sehr unvollkommen bei ihm ausgedrückt wird, wirkt er durch
den lebengebenden Umriß seiner Figuren, durch eine Art zu charakterisiren, die
durchaus auf der Fläche beruht, ja sogar mit der bloßen Silhouette möglich ist.
Die starke Illusion der Bewegung, die er hervorruft, ist also, wenn man auf
ihre Mittel sieht, zunächst nur „zweidimensional." Dann erst wirken unter¬
stützend und ganz bescheiden die Mittel der plastischen, raumschaffenden Illusion:
perspektivische Verkürzung, vertiefter Hintergrund, Rundung und Modelliruug
durch Formschatten; vom Helldunkel kann überhaupt nicht die Rede sein. Diese
sehr bescheidne Raumdarstellung Giottos hat der Verfasser unter dem Einfluß
seiner „Taktilwerte" übertrieben, seine Theorie, seine Freude an der Formel
hat offenbar seinen Blick befangen gemacht.
Und wie leicht geschieht es überhaupt, daß wir in solcher Verfassung etwas
niederschreiben, was für eine Beobachtung gelten soll, während es höchstens
eine ungenaue Erinnerung ist, etwas, das wir so auszudrücken gar nicht wagen
würden, wenn wir das Auge auf den Gegenstand gerichtet, über ihn mündlich
sprächen! Wie könnte sonst Berenson von Masaceios bekanntem vor Kälte
zitterndem Manne in der Brancaccikapelle das einemal sagen, er sei ohne eigent¬
liche Signifikanz, und das andremal, was Masaccio im Nackten und in der
Bewegung leistete, das bezeuge gerade dieser Mann (S. 44 und 59)? So ver¬
führt ihn offenbar ferner der Gegensatz gegen Masaccio zu der Behauptung,
Filippinos Fresken in der Brancaccikapelle seien „unüberzeugend und bedeutungs¬
los, weil ohne Taktilwert," während wir andern nicht einmal über die Grenz¬
scheide der beiderseitigen Arbeit ganz im reinen sind.
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