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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die Sozialpolitik der nächsten Zeit

könne, was wir, die Besitzenden und Gebildeten, in Jahrzehnten durch Eigen¬
nutz und Hochmut schlimm gemacht haben.

So wenig wir glauben, daß der Kaiser selbst seine arbeiterfreundliche
Politik aufzugeben geneigt ist, ebenso wenig ist uns eine Thatsache bekannt,
die bewiese, daß die hohen Beamten, die unmittelbar nach seinem Willen thun
und lassen, zu dem schweren Fehler eines Abbruchs der sozialpolitischen
Neformarbeit entschlossen wären. Aber es hieße, die Hand vor den Augen
bei Hellem Tage nicht sehen, wollte man bestreiten, daß der agrarisch-groß-
industrielle Bund, vor dem die preußischen Regicrungsmünner seit Jahr und
Tag wieder in tiefster Submissiou ersterbe", das erzwingen will gegen die
scharf und bestimmt kund gegebnen Überzeugungen des Kaisers. Die Wieder¬
aufnahme der parlamentarischen Verhandlungen im Reiche und in Preußen
wird wahrscheinlich bald auch den Vertrauensseligen jeden Zweifel daran
nehmen, so sehr man auch in der konservativen Partei bemüht ist, den äußern
Schein sozialer Gesinnung zu wahren.

Wir haben in unserm aufrichtigen Mißtrauen gegen die heutigen Parteien
und die moderne Selbstverwaltung wiederholt und wohl vielfach gegen fest
sitzende Anschauungen des gebildeten Publikums die bessere Schulung des
Verufsbecimtentums für die großen sozialen Aufgaben der nächsten Zeit als
eine der wichtigsten sozialpolitischen Vorarbeiten bezeichnet. Wir möchten das
auch hier nochmals auf das nachdrücklichste betonen. Je mehr Unheil man
mit der Lehre vom Klassenstaat und der Klassenherrschaft sozialistischerseits an¬
richtet, umso größer wird die Bedeutung eines über den Klasseninteressen
stehenden Beamtcnkörpers. Leider hat sich -- und auch dies wieder am
meisten in Preußen -- in den letzten Jahrzehnten unter den Beamten eine früher
i" dieser Schärfe nicht vorhcindne Scheidung in zwei Klassen gebildet, und es
scheint sich ein ganz regelrechter Klassenkampf zu entwickeln. Hochmut. Unnah¬
barkeit, Ausbeutung auf der einen Seite, Unzufriedenheit. Interesselosigkeit,
hämische Schadenfreude an amtlichen Mißgriffen und Mißerfolgen auf der
andern steigern sich, von einer Solidarität der Interessen und Pflichten oben
und unten ist vielfach nichts mehr zu spüren. Glaubt man mit einer von diesem
Geiste beseelten Armee siegreich gegen die Sozialdemokratie zu Felde ziehen,
glaubt man von ihr selbst die sozialdemokratische Entartung fernhalten zu
können? Die Unvernunft wäre himmelschreiend. Verbiete man doch den Be¬
amten bei strenger Strafe sozialdemokratische Sympathien, veröffentliche man
Droherlasse auf Droherlasse, zündte man Aufpasser und Denunzianten in allen
Bureaus, Vereinen, Stadtvierteln. Kreisen und Gemeinden, man wird damit
den Geist nur umso schlechter machen, die Leute dem Staatsinteresse und dem
Könige nur umso mehr entfremden, wenn man nicht endlich den Mangel an
Wohlwollen und herzlicher Nächstenliebe der Obern gegen die Niedern beseitigt.
Immer wieder muß es gesagt werden, daß nicht die Lohn- und Gehalts-


Die Sozialpolitik der nächsten Zeit

könne, was wir, die Besitzenden und Gebildeten, in Jahrzehnten durch Eigen¬
nutz und Hochmut schlimm gemacht haben.

So wenig wir glauben, daß der Kaiser selbst seine arbeiterfreundliche
Politik aufzugeben geneigt ist, ebenso wenig ist uns eine Thatsache bekannt,
die bewiese, daß die hohen Beamten, die unmittelbar nach seinem Willen thun
und lassen, zu dem schweren Fehler eines Abbruchs der sozialpolitischen
Neformarbeit entschlossen wären. Aber es hieße, die Hand vor den Augen
bei Hellem Tage nicht sehen, wollte man bestreiten, daß der agrarisch-groß-
industrielle Bund, vor dem die preußischen Regicrungsmünner seit Jahr und
Tag wieder in tiefster Submissiou ersterbe«, das erzwingen will gegen die
scharf und bestimmt kund gegebnen Überzeugungen des Kaisers. Die Wieder¬
aufnahme der parlamentarischen Verhandlungen im Reiche und in Preußen
wird wahrscheinlich bald auch den Vertrauensseligen jeden Zweifel daran
nehmen, so sehr man auch in der konservativen Partei bemüht ist, den äußern
Schein sozialer Gesinnung zu wahren.

Wir haben in unserm aufrichtigen Mißtrauen gegen die heutigen Parteien
und die moderne Selbstverwaltung wiederholt und wohl vielfach gegen fest
sitzende Anschauungen des gebildeten Publikums die bessere Schulung des
Verufsbecimtentums für die großen sozialen Aufgaben der nächsten Zeit als
eine der wichtigsten sozialpolitischen Vorarbeiten bezeichnet. Wir möchten das
auch hier nochmals auf das nachdrücklichste betonen. Je mehr Unheil man
mit der Lehre vom Klassenstaat und der Klassenherrschaft sozialistischerseits an¬
richtet, umso größer wird die Bedeutung eines über den Klasseninteressen
stehenden Beamtcnkörpers. Leider hat sich — und auch dies wieder am
meisten in Preußen — in den letzten Jahrzehnten unter den Beamten eine früher
i» dieser Schärfe nicht vorhcindne Scheidung in zwei Klassen gebildet, und es
scheint sich ein ganz regelrechter Klassenkampf zu entwickeln. Hochmut. Unnah¬
barkeit, Ausbeutung auf der einen Seite, Unzufriedenheit. Interesselosigkeit,
hämische Schadenfreude an amtlichen Mißgriffen und Mißerfolgen auf der
andern steigern sich, von einer Solidarität der Interessen und Pflichten oben
und unten ist vielfach nichts mehr zu spüren. Glaubt man mit einer von diesem
Geiste beseelten Armee siegreich gegen die Sozialdemokratie zu Felde ziehen,
glaubt man von ihr selbst die sozialdemokratische Entartung fernhalten zu
können? Die Unvernunft wäre himmelschreiend. Verbiete man doch den Be¬
amten bei strenger Strafe sozialdemokratische Sympathien, veröffentliche man
Droherlasse auf Droherlasse, zündte man Aufpasser und Denunzianten in allen
Bureaus, Vereinen, Stadtvierteln. Kreisen und Gemeinden, man wird damit
den Geist nur umso schlechter machen, die Leute dem Staatsinteresse und dem
Könige nur umso mehr entfremden, wenn man nicht endlich den Mangel an
Wohlwollen und herzlicher Nächstenliebe der Obern gegen die Niedern beseitigt.
Immer wieder muß es gesagt werden, daß nicht die Lohn- und Gehalts-


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[0031] Die Sozialpolitik der nächsten Zeit könne, was wir, die Besitzenden und Gebildeten, in Jahrzehnten durch Eigen¬ nutz und Hochmut schlimm gemacht haben. So wenig wir glauben, daß der Kaiser selbst seine arbeiterfreundliche Politik aufzugeben geneigt ist, ebenso wenig ist uns eine Thatsache bekannt, die bewiese, daß die hohen Beamten, die unmittelbar nach seinem Willen thun und lassen, zu dem schweren Fehler eines Abbruchs der sozialpolitischen Neformarbeit entschlossen wären. Aber es hieße, die Hand vor den Augen bei Hellem Tage nicht sehen, wollte man bestreiten, daß der agrarisch-groß- industrielle Bund, vor dem die preußischen Regicrungsmünner seit Jahr und Tag wieder in tiefster Submissiou ersterbe«, das erzwingen will gegen die scharf und bestimmt kund gegebnen Überzeugungen des Kaisers. Die Wieder¬ aufnahme der parlamentarischen Verhandlungen im Reiche und in Preußen wird wahrscheinlich bald auch den Vertrauensseligen jeden Zweifel daran nehmen, so sehr man auch in der konservativen Partei bemüht ist, den äußern Schein sozialer Gesinnung zu wahren. Wir haben in unserm aufrichtigen Mißtrauen gegen die heutigen Parteien und die moderne Selbstverwaltung wiederholt und wohl vielfach gegen fest sitzende Anschauungen des gebildeten Publikums die bessere Schulung des Verufsbecimtentums für die großen sozialen Aufgaben der nächsten Zeit als eine der wichtigsten sozialpolitischen Vorarbeiten bezeichnet. Wir möchten das auch hier nochmals auf das nachdrücklichste betonen. Je mehr Unheil man mit der Lehre vom Klassenstaat und der Klassenherrschaft sozialistischerseits an¬ richtet, umso größer wird die Bedeutung eines über den Klasseninteressen stehenden Beamtcnkörpers. Leider hat sich — und auch dies wieder am meisten in Preußen — in den letzten Jahrzehnten unter den Beamten eine früher i» dieser Schärfe nicht vorhcindne Scheidung in zwei Klassen gebildet, und es scheint sich ein ganz regelrechter Klassenkampf zu entwickeln. Hochmut. Unnah¬ barkeit, Ausbeutung auf der einen Seite, Unzufriedenheit. Interesselosigkeit, hämische Schadenfreude an amtlichen Mißgriffen und Mißerfolgen auf der andern steigern sich, von einer Solidarität der Interessen und Pflichten oben und unten ist vielfach nichts mehr zu spüren. Glaubt man mit einer von diesem Geiste beseelten Armee siegreich gegen die Sozialdemokratie zu Felde ziehen, glaubt man von ihr selbst die sozialdemokratische Entartung fernhalten zu können? Die Unvernunft wäre himmelschreiend. Verbiete man doch den Be¬ amten bei strenger Strafe sozialdemokratische Sympathien, veröffentliche man Droherlasse auf Droherlasse, zündte man Aufpasser und Denunzianten in allen Bureaus, Vereinen, Stadtvierteln. Kreisen und Gemeinden, man wird damit den Geist nur umso schlechter machen, die Leute dem Staatsinteresse und dem Könige nur umso mehr entfremden, wenn man nicht endlich den Mangel an Wohlwollen und herzlicher Nächstenliebe der Obern gegen die Niedern beseitigt. Immer wieder muß es gesagt werden, daß nicht die Lohn- und Gehalts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/31>, abgerufen am 24.07.2024.