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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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verbesserter Sinithianismus

dienst seiner Konfession findet), Rücksichten auf die Erziehung der Kinder (von
einem Orte mit guten Schulen nach einem Ort zu ziehen, wo es gar keine
oder nur schlechte giebt, und von wo aus höhere Schulen nicht leicht zu er¬
reichen sind, werden sich nichtproletarische Eltern immer nur schwer entschließen),
tausenderlei Lebensgewohnheiten, gemütliche und gesellschaftliche Beziehungen,
die an den Wohnort fesseln, und endlich die Liebe zum erwählten Lebensberuf
verbunden mit den Schwierigkeiten, die der Übergang zu einer andern Berufs¬
arbeit bereitet. Wer schon den Pflug geführt hat, kann nicht so leicht Uhr¬
macher werden, und der gelernte Uhrmacher taugt nichts zum Bauern. Man
kann also nicht beliebig von der Landwirtschaft zum Gewerbe und von diesem
zu jener übergehen, wenn man in seinem alten Beruf einen Druck zu spüren
anfängt.

Aber allerdings, so unmöglich wie ein Staat ohne Herrschaftsverhältnisse,
ist der abstrakte Mensch der Sandschen Schule doch nicht; ja er ist sogar
heute in Millionen Exemplaren vorhanden. Der moderne Proletarier ist dieser
abstrakte Mensch. Er hat kein Heim, das ihn fesseln könnte, und es ist ihm
gleichgiltig, ob die Spelunke, in der er nächtigt, am Oderstrand oder auf einer
der rauchenden Schlackenhalden des Ruhrgebiets liegt. Die Pietät ist schwach
entwickelt, denn er hat seinen Eltern, wenn er überhaupt solche kennt, wenig
zu danken; vom vierzehnten Jahre an, oft schon früher, hat er sich seinen
Lebensunterhalt selbst verdient. Luecheni ist als zehnjähriges Kind aus dem
Waisenhause entlassen worden mit der Weisung, er habe nun für sein Fort¬
kommen selbst zu sorgen. Die Arbeit des Proletariers ist fast niemals der
Art, daß ein vernünftiger Mensch Liebe oder gar Leidenschaft zu ihr fassen
könnte; und soweit sie "unqualifizirt" ist, erfordert sie keine lange Vorbereitung,
kann leicht erlernt und leicht mit andern unqualisizirten Arbeiten vertauscht
werden. Die einzigen gesellschaftlichen Beziehungen, in denen er steht, sind die
zu Kameraden und die zu Mädchen, und die fesseln nicht an einen Ort, denn
Kameraden und Mädchen von der Art, wie er sie braucht, findet er überall.
Nicht einmal mehr die Unkenntnis fremder Sprachen ist ein Hindernis, weil
die Angehörigen der großen Nationen überall in der Welt Landsleute finden,
manche kleinern Nationen aber ihrer Muttersprache und alles dessen, was sie
sonst an die Heimat fesselte, gewaltsam beraubt werden. Der Proletarier ist
also wirklich der Wassertropfen, der, durch keine Anhänglichkeiten oder Be¬
ziehungen gebunden, jedem wirtschaftlichen Druck augenblicklich ausweichen kann,
und es giebt außer der völligen Mittellosigkeit zusammen mit der polizeilichen
Verhinderung des Fechtens nichts, was ihn abhalten könnte, jederzeit den Ort
aufzusuchen, wo ihm einige Pfennige Lohnerhöhung winken. Als ideales
Subjekt der reinen Tauschgesellschaft könnte der moderne Proletarier, der keine
andre Ware zu vertauschen hat als seine Arbeitskraft, freilich nur ironisch be¬
zeichnet werden, aber der abstrakte Mensch, der Wassertropfen, der widerstandslos


verbesserter Sinithianismus

dienst seiner Konfession findet), Rücksichten auf die Erziehung der Kinder (von
einem Orte mit guten Schulen nach einem Ort zu ziehen, wo es gar keine
oder nur schlechte giebt, und von wo aus höhere Schulen nicht leicht zu er¬
reichen sind, werden sich nichtproletarische Eltern immer nur schwer entschließen),
tausenderlei Lebensgewohnheiten, gemütliche und gesellschaftliche Beziehungen,
die an den Wohnort fesseln, und endlich die Liebe zum erwählten Lebensberuf
verbunden mit den Schwierigkeiten, die der Übergang zu einer andern Berufs¬
arbeit bereitet. Wer schon den Pflug geführt hat, kann nicht so leicht Uhr¬
macher werden, und der gelernte Uhrmacher taugt nichts zum Bauern. Man
kann also nicht beliebig von der Landwirtschaft zum Gewerbe und von diesem
zu jener übergehen, wenn man in seinem alten Beruf einen Druck zu spüren
anfängt.

Aber allerdings, so unmöglich wie ein Staat ohne Herrschaftsverhältnisse,
ist der abstrakte Mensch der Sandschen Schule doch nicht; ja er ist sogar
heute in Millionen Exemplaren vorhanden. Der moderne Proletarier ist dieser
abstrakte Mensch. Er hat kein Heim, das ihn fesseln könnte, und es ist ihm
gleichgiltig, ob die Spelunke, in der er nächtigt, am Oderstrand oder auf einer
der rauchenden Schlackenhalden des Ruhrgebiets liegt. Die Pietät ist schwach
entwickelt, denn er hat seinen Eltern, wenn er überhaupt solche kennt, wenig
zu danken; vom vierzehnten Jahre an, oft schon früher, hat er sich seinen
Lebensunterhalt selbst verdient. Luecheni ist als zehnjähriges Kind aus dem
Waisenhause entlassen worden mit der Weisung, er habe nun für sein Fort¬
kommen selbst zu sorgen. Die Arbeit des Proletariers ist fast niemals der
Art, daß ein vernünftiger Mensch Liebe oder gar Leidenschaft zu ihr fassen
könnte; und soweit sie „unqualifizirt" ist, erfordert sie keine lange Vorbereitung,
kann leicht erlernt und leicht mit andern unqualisizirten Arbeiten vertauscht
werden. Die einzigen gesellschaftlichen Beziehungen, in denen er steht, sind die
zu Kameraden und die zu Mädchen, und die fesseln nicht an einen Ort, denn
Kameraden und Mädchen von der Art, wie er sie braucht, findet er überall.
Nicht einmal mehr die Unkenntnis fremder Sprachen ist ein Hindernis, weil
die Angehörigen der großen Nationen überall in der Welt Landsleute finden,
manche kleinern Nationen aber ihrer Muttersprache und alles dessen, was sie
sonst an die Heimat fesselte, gewaltsam beraubt werden. Der Proletarier ist
also wirklich der Wassertropfen, der, durch keine Anhänglichkeiten oder Be¬
ziehungen gebunden, jedem wirtschaftlichen Druck augenblicklich ausweichen kann,
und es giebt außer der völligen Mittellosigkeit zusammen mit der polizeilichen
Verhinderung des Fechtens nichts, was ihn abhalten könnte, jederzeit den Ort
aufzusuchen, wo ihm einige Pfennige Lohnerhöhung winken. Als ideales
Subjekt der reinen Tauschgesellschaft könnte der moderne Proletarier, der keine
andre Ware zu vertauschen hat als seine Arbeitskraft, freilich nur ironisch be¬
zeichnet werden, aber der abstrakte Mensch, der Wassertropfen, der widerstandslos


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[0301] verbesserter Sinithianismus dienst seiner Konfession findet), Rücksichten auf die Erziehung der Kinder (von einem Orte mit guten Schulen nach einem Ort zu ziehen, wo es gar keine oder nur schlechte giebt, und von wo aus höhere Schulen nicht leicht zu er¬ reichen sind, werden sich nichtproletarische Eltern immer nur schwer entschließen), tausenderlei Lebensgewohnheiten, gemütliche und gesellschaftliche Beziehungen, die an den Wohnort fesseln, und endlich die Liebe zum erwählten Lebensberuf verbunden mit den Schwierigkeiten, die der Übergang zu einer andern Berufs¬ arbeit bereitet. Wer schon den Pflug geführt hat, kann nicht so leicht Uhr¬ macher werden, und der gelernte Uhrmacher taugt nichts zum Bauern. Man kann also nicht beliebig von der Landwirtschaft zum Gewerbe und von diesem zu jener übergehen, wenn man in seinem alten Beruf einen Druck zu spüren anfängt. Aber allerdings, so unmöglich wie ein Staat ohne Herrschaftsverhältnisse, ist der abstrakte Mensch der Sandschen Schule doch nicht; ja er ist sogar heute in Millionen Exemplaren vorhanden. Der moderne Proletarier ist dieser abstrakte Mensch. Er hat kein Heim, das ihn fesseln könnte, und es ist ihm gleichgiltig, ob die Spelunke, in der er nächtigt, am Oderstrand oder auf einer der rauchenden Schlackenhalden des Ruhrgebiets liegt. Die Pietät ist schwach entwickelt, denn er hat seinen Eltern, wenn er überhaupt solche kennt, wenig zu danken; vom vierzehnten Jahre an, oft schon früher, hat er sich seinen Lebensunterhalt selbst verdient. Luecheni ist als zehnjähriges Kind aus dem Waisenhause entlassen worden mit der Weisung, er habe nun für sein Fort¬ kommen selbst zu sorgen. Die Arbeit des Proletariers ist fast niemals der Art, daß ein vernünftiger Mensch Liebe oder gar Leidenschaft zu ihr fassen könnte; und soweit sie „unqualifizirt" ist, erfordert sie keine lange Vorbereitung, kann leicht erlernt und leicht mit andern unqualisizirten Arbeiten vertauscht werden. Die einzigen gesellschaftlichen Beziehungen, in denen er steht, sind die zu Kameraden und die zu Mädchen, und die fesseln nicht an einen Ort, denn Kameraden und Mädchen von der Art, wie er sie braucht, findet er überall. Nicht einmal mehr die Unkenntnis fremder Sprachen ist ein Hindernis, weil die Angehörigen der großen Nationen überall in der Welt Landsleute finden, manche kleinern Nationen aber ihrer Muttersprache und alles dessen, was sie sonst an die Heimat fesselte, gewaltsam beraubt werden. Der Proletarier ist also wirklich der Wassertropfen, der, durch keine Anhänglichkeiten oder Be¬ ziehungen gebunden, jedem wirtschaftlichen Druck augenblicklich ausweichen kann, und es giebt außer der völligen Mittellosigkeit zusammen mit der polizeilichen Verhinderung des Fechtens nichts, was ihn abhalten könnte, jederzeit den Ort aufzusuchen, wo ihm einige Pfennige Lohnerhöhung winken. Als ideales Subjekt der reinen Tauschgesellschaft könnte der moderne Proletarier, der keine andre Ware zu vertauschen hat als seine Arbeitskraft, freilich nur ironisch be¬ zeichnet werden, aber der abstrakte Mensch, der Wassertropfen, der widerstandslos

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/301>, abgerufen am 12.12.2024.