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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die Sozialpolitik der nächsten Zeit

wir haben vollends gar keine Aussicht, der sozialdemokratischen Entartung der
Arbeiter Herr zu werden, wenn wir nicht auch der Entartung des sozialen
Pflichtgefühls der Unternehmer, dem bösen Geist der rücksichtslosen Ausbeutung
des Nebenmenschen in allen geschäftlichen Dingen mit allen zur Verfügung
stehenden Kampfmitteln die Spitze bieten.

Dringend geboten erscheinen uns ferner unter anderm neue Schutzmaß-
regeln für die Arbeiterschaft der Handelsmarine. Auch Deutschland ist auf
dem besten Wege, sein Schiffsvolk zum Lumpengesindel hinabdrücken zu lassen.
Es ist kürzlich mit Recht darauf hingewiesen worden, wie ungeheuer der bis
ins Unvernünftige gesteigerte Luxus der großen Personendampfer in allem,
was die reichen Passagiere berührt, kontrastirt mit der Vernachlässigung der
Verhältnisse, unter denen die Schiffsmannschaft zum großen Teil ihre schwere
und verantwortliche Arbeit verrichten muß. Mögen die Unternehmer und die
unfehlbaren Herren Ingenieure noch so sehr Zetermordio schreien, wenn der
Staat einmal Miene macht, den Schiffbau unter strengere Kontrolle zu nehmen,
mögen die großen Dampfergesellschaftcn sich noch so sehr bemühen, Ministern
und Abgeordneten nur ihre liebenswürdigster!, glänzendsten Seiten zu zeigen,
wollen wir nicht, daß der an den Charakter des Einzelnen so hohe An¬
forderungen stellende Schisferbcruf in den elendesten Verfall gerät, so müssen
wir uns zu durchgreifenden Zwangsmaßregeln ermannen. Daß die, denen
der Schutz gilt, schon zum großen Teil Lumpengesindel durch unser I^issm-
gUsr geworden sind, darf uns gewiß nicht abhalten, unsre Pflicht zu thun.

Und wie stehts mit dem Schutz der Kinder, der Unmündigen? Warum
tritt man der unverantwortlichen Ausbeutung der Kinder, wie sie sich in
unsern Großstädte,,, zumal in Berlin, auf allen Gassen breit macht, dem Aus¬
tragen von Zeitungen, von Backwaren usw. vor Tagesgrauen nicht endlich mit
einem radikale,, Verbot entgegen? Nichts, gar nichts hindert daran. Warum
entschließt man sich nicht, die Freizügigkeit der Minderjährigen uuter aus¬
reichende Aufsicht zu stelle", was ganz unabweisbar wird, und redet lieber
von der Vernichtung der Freizügigkeit der Erwachsenen im Interesse der
Agrarier, die eine Ungerechtigkeit und ein Unsinn wäre?

Es ist hier nicht die Aufgabe, alles das, was vernünftigerweise geschehen
kann und geschehen sollte, einzeln aufzuführen, oder das Übermaß und die Un¬
vernunft der sozialistischen Forderungen zu kritisiren. Nur darauf kommt es
uns an, zu zeigen, daß sehr viel für die sozialpolitische Gesetzgebung zu thun
übrig ist, wenn der einmal als notwendig erkannte Arbeiterschutz zur Wirklich¬
keit werden und heilsame Früchte im Kampf gegen die Sozialdemokratie leisten
soll. Nur vor der groben Unterlassungssünde soll gewarnt werden, zu der
unverständige Ratgeber den Staat verleiten möchten, vor dem Wahne, daß
man das Heilverfahren durch das Aufgeben der positiven Sozialpolitik einleiten
müsse und dann mit Schroffheit gegen die Arbeiter das wieder gut machen


Die Sozialpolitik der nächsten Zeit

wir haben vollends gar keine Aussicht, der sozialdemokratischen Entartung der
Arbeiter Herr zu werden, wenn wir nicht auch der Entartung des sozialen
Pflichtgefühls der Unternehmer, dem bösen Geist der rücksichtslosen Ausbeutung
des Nebenmenschen in allen geschäftlichen Dingen mit allen zur Verfügung
stehenden Kampfmitteln die Spitze bieten.

Dringend geboten erscheinen uns ferner unter anderm neue Schutzmaß-
regeln für die Arbeiterschaft der Handelsmarine. Auch Deutschland ist auf
dem besten Wege, sein Schiffsvolk zum Lumpengesindel hinabdrücken zu lassen.
Es ist kürzlich mit Recht darauf hingewiesen worden, wie ungeheuer der bis
ins Unvernünftige gesteigerte Luxus der großen Personendampfer in allem,
was die reichen Passagiere berührt, kontrastirt mit der Vernachlässigung der
Verhältnisse, unter denen die Schiffsmannschaft zum großen Teil ihre schwere
und verantwortliche Arbeit verrichten muß. Mögen die Unternehmer und die
unfehlbaren Herren Ingenieure noch so sehr Zetermordio schreien, wenn der
Staat einmal Miene macht, den Schiffbau unter strengere Kontrolle zu nehmen,
mögen die großen Dampfergesellschaftcn sich noch so sehr bemühen, Ministern
und Abgeordneten nur ihre liebenswürdigster!, glänzendsten Seiten zu zeigen,
wollen wir nicht, daß der an den Charakter des Einzelnen so hohe An¬
forderungen stellende Schisferbcruf in den elendesten Verfall gerät, so müssen
wir uns zu durchgreifenden Zwangsmaßregeln ermannen. Daß die, denen
der Schutz gilt, schon zum großen Teil Lumpengesindel durch unser I^issm-
gUsr geworden sind, darf uns gewiß nicht abhalten, unsre Pflicht zu thun.

Und wie stehts mit dem Schutz der Kinder, der Unmündigen? Warum
tritt man der unverantwortlichen Ausbeutung der Kinder, wie sie sich in
unsern Großstädte,,, zumal in Berlin, auf allen Gassen breit macht, dem Aus¬
tragen von Zeitungen, von Backwaren usw. vor Tagesgrauen nicht endlich mit
einem radikale,, Verbot entgegen? Nichts, gar nichts hindert daran. Warum
entschließt man sich nicht, die Freizügigkeit der Minderjährigen uuter aus¬
reichende Aufsicht zu stelle», was ganz unabweisbar wird, und redet lieber
von der Vernichtung der Freizügigkeit der Erwachsenen im Interesse der
Agrarier, die eine Ungerechtigkeit und ein Unsinn wäre?

Es ist hier nicht die Aufgabe, alles das, was vernünftigerweise geschehen
kann und geschehen sollte, einzeln aufzuführen, oder das Übermaß und die Un¬
vernunft der sozialistischen Forderungen zu kritisiren. Nur darauf kommt es
uns an, zu zeigen, daß sehr viel für die sozialpolitische Gesetzgebung zu thun
übrig ist, wenn der einmal als notwendig erkannte Arbeiterschutz zur Wirklich¬
keit werden und heilsame Früchte im Kampf gegen die Sozialdemokratie leisten
soll. Nur vor der groben Unterlassungssünde soll gewarnt werden, zu der
unverständige Ratgeber den Staat verleiten möchten, vor dem Wahne, daß
man das Heilverfahren durch das Aufgeben der positiven Sozialpolitik einleiten
müsse und dann mit Schroffheit gegen die Arbeiter das wieder gut machen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/30>, abgerufen am 04.07.2024.