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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die deutsche historische Landschaft

die thüringischen Städte ursprünglich alle etwas von thüringischer Enge und
von der Armut des Gebirges an sich? Man muß nicht die mit Villenkränzen
umgebnen neu aufgeblühten, wie Eisenach, Weimar, Koburg oder Naumburg,
sondern die im alten Zustand erhaltnen wie Schmalkalden betrachten. Dazu
trügt ähnlich wie auch in den alten hessischen Städtchen der vorwaltende Fach¬
werkbau bei, der leichter einen verfallnen Charakter annimmt als der reine
Steinbau.

So wie die Städte und Marktflecken durch den Verkehr entstanden oder
wenigstens gewachsen sind, so sprechen sich auch in ihrer Anlage die von Jahr¬
hundert zu Jahrhundert wechselnden Bedingungen des Verkehrs aus. Die
älteste Blüte des Städtewesens finden wir in den Gegenden, wo der Verkehr
am frühesten aufblühte, und mit der Verdichtung des Netzes der Verkehrswege
wuchs auch die Zahl und Größe der Verkehrsmittelpunkte. Um nur eine
neuere, in die Gegenwart hereinragende Entwicklung zu nennen, lagen in dem
Netz der deutschen Poststraßen vor der Zeit der Eisenbahnen Tausende von
Ruhepunkten des Verkehrs; daher aller zwei bis drei Meilen die mit behaglichen
Postwirtshüusern ausgestatteten Städtchen und größern Dörfer, an denen der
Eisenbahnverkehr, der so kurze Pausen nicht liebt, jetzt vorbeisaust, um wenigere,
größere Verkehrsmittelpunkte zu schaffen. Ein andrer Unterschied, der schon
tiefe Spuren in unsrer Landschaft gemacht hat, liegt darin, daß der alte Wagen-
und Botenverkehr in die Städte hineinführte, wo der Marktplatz ihm breiten
Raum bot, während der viel anspruchsvollere Eisenbahnverkehr sich seine
"Stationen" in der Regel außerhalb der Städte schaffen mußte. Daher sehen
wir in vielen Städten die Marktplatze veröden oder die in süddeutschen, be¬
sonders bayrischen Städten häufigen breiten Straßen, wo einst Märkte gehalten
wurden, und an ihre Stelle einen Bahnhofstadtteil treten, der als der Inbegriff
des Neuen, Moderium und Unfertigen der alten abgeschlossenen Stadt ganz
unorganisch angegliedert ist.

Gehören nicht auch Tausende von Meilen Landstraßen und Wege samt
ihren Brücken aus Holz oder Stein, Fähren usw., die neben den Eisenbahn¬
brücken wie Spielzeug aussehen, schon zur historischen Landschaft? Ihnen
reihen sich die Telegraphenlinien als ein absolut neuer Zug in unsrer Land¬
schaft an. Wenn man erwägt, daß Deutschland heute mehr Eisenbahnen be¬
sitzt als noch im zweiten Jahrzehnt unsers Jahrhunderts Kunststraßen, und
daß die schönsten Straßenbauten heute neben den Aufschüttungen, Einschnitten,
Brücken und Viadukten der Eisenbahnen verschwinden, ferner, daß wesentlich den
Eisenbahnen jene Steigerung der Beweglichkeit der Bevölkerung zugeschrieben
werden muß, die eine ganz neue Verteilungsweise über das Land bewirkt, so
muß man wohl auch im landschaftlichen Sinne unsre Zeit das Zeitalter der
Eisenbahnen nen.nen.

Die Geschichte jeder Stadt und jeder Landschaft lehrt die fortreißende
Gewalt kennen, die in jedem kleinsten Ädercheu dieses modernen Verkehrssystems


Die deutsche historische Landschaft

die thüringischen Städte ursprünglich alle etwas von thüringischer Enge und
von der Armut des Gebirges an sich? Man muß nicht die mit Villenkränzen
umgebnen neu aufgeblühten, wie Eisenach, Weimar, Koburg oder Naumburg,
sondern die im alten Zustand erhaltnen wie Schmalkalden betrachten. Dazu
trügt ähnlich wie auch in den alten hessischen Städtchen der vorwaltende Fach¬
werkbau bei, der leichter einen verfallnen Charakter annimmt als der reine
Steinbau.

So wie die Städte und Marktflecken durch den Verkehr entstanden oder
wenigstens gewachsen sind, so sprechen sich auch in ihrer Anlage die von Jahr¬
hundert zu Jahrhundert wechselnden Bedingungen des Verkehrs aus. Die
älteste Blüte des Städtewesens finden wir in den Gegenden, wo der Verkehr
am frühesten aufblühte, und mit der Verdichtung des Netzes der Verkehrswege
wuchs auch die Zahl und Größe der Verkehrsmittelpunkte. Um nur eine
neuere, in die Gegenwart hereinragende Entwicklung zu nennen, lagen in dem
Netz der deutschen Poststraßen vor der Zeit der Eisenbahnen Tausende von
Ruhepunkten des Verkehrs; daher aller zwei bis drei Meilen die mit behaglichen
Postwirtshüusern ausgestatteten Städtchen und größern Dörfer, an denen der
Eisenbahnverkehr, der so kurze Pausen nicht liebt, jetzt vorbeisaust, um wenigere,
größere Verkehrsmittelpunkte zu schaffen. Ein andrer Unterschied, der schon
tiefe Spuren in unsrer Landschaft gemacht hat, liegt darin, daß der alte Wagen-
und Botenverkehr in die Städte hineinführte, wo der Marktplatz ihm breiten
Raum bot, während der viel anspruchsvollere Eisenbahnverkehr sich seine
„Stationen" in der Regel außerhalb der Städte schaffen mußte. Daher sehen
wir in vielen Städten die Marktplatze veröden oder die in süddeutschen, be¬
sonders bayrischen Städten häufigen breiten Straßen, wo einst Märkte gehalten
wurden, und an ihre Stelle einen Bahnhofstadtteil treten, der als der Inbegriff
des Neuen, Moderium und Unfertigen der alten abgeschlossenen Stadt ganz
unorganisch angegliedert ist.

Gehören nicht auch Tausende von Meilen Landstraßen und Wege samt
ihren Brücken aus Holz oder Stein, Fähren usw., die neben den Eisenbahn¬
brücken wie Spielzeug aussehen, schon zur historischen Landschaft? Ihnen
reihen sich die Telegraphenlinien als ein absolut neuer Zug in unsrer Land¬
schaft an. Wenn man erwägt, daß Deutschland heute mehr Eisenbahnen be¬
sitzt als noch im zweiten Jahrzehnt unsers Jahrhunderts Kunststraßen, und
daß die schönsten Straßenbauten heute neben den Aufschüttungen, Einschnitten,
Brücken und Viadukten der Eisenbahnen verschwinden, ferner, daß wesentlich den
Eisenbahnen jene Steigerung der Beweglichkeit der Bevölkerung zugeschrieben
werden muß, die eine ganz neue Verteilungsweise über das Land bewirkt, so
muß man wohl auch im landschaftlichen Sinne unsre Zeit das Zeitalter der
Eisenbahnen nen.nen.

Die Geschichte jeder Stadt und jeder Landschaft lehrt die fortreißende
Gewalt kennen, die in jedem kleinsten Ädercheu dieses modernen Verkehrssystems


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[0269] Die deutsche historische Landschaft die thüringischen Städte ursprünglich alle etwas von thüringischer Enge und von der Armut des Gebirges an sich? Man muß nicht die mit Villenkränzen umgebnen neu aufgeblühten, wie Eisenach, Weimar, Koburg oder Naumburg, sondern die im alten Zustand erhaltnen wie Schmalkalden betrachten. Dazu trügt ähnlich wie auch in den alten hessischen Städtchen der vorwaltende Fach¬ werkbau bei, der leichter einen verfallnen Charakter annimmt als der reine Steinbau. So wie die Städte und Marktflecken durch den Verkehr entstanden oder wenigstens gewachsen sind, so sprechen sich auch in ihrer Anlage die von Jahr¬ hundert zu Jahrhundert wechselnden Bedingungen des Verkehrs aus. Die älteste Blüte des Städtewesens finden wir in den Gegenden, wo der Verkehr am frühesten aufblühte, und mit der Verdichtung des Netzes der Verkehrswege wuchs auch die Zahl und Größe der Verkehrsmittelpunkte. Um nur eine neuere, in die Gegenwart hereinragende Entwicklung zu nennen, lagen in dem Netz der deutschen Poststraßen vor der Zeit der Eisenbahnen Tausende von Ruhepunkten des Verkehrs; daher aller zwei bis drei Meilen die mit behaglichen Postwirtshüusern ausgestatteten Städtchen und größern Dörfer, an denen der Eisenbahnverkehr, der so kurze Pausen nicht liebt, jetzt vorbeisaust, um wenigere, größere Verkehrsmittelpunkte zu schaffen. Ein andrer Unterschied, der schon tiefe Spuren in unsrer Landschaft gemacht hat, liegt darin, daß der alte Wagen- und Botenverkehr in die Städte hineinführte, wo der Marktplatz ihm breiten Raum bot, während der viel anspruchsvollere Eisenbahnverkehr sich seine „Stationen" in der Regel außerhalb der Städte schaffen mußte. Daher sehen wir in vielen Städten die Marktplatze veröden oder die in süddeutschen, be¬ sonders bayrischen Städten häufigen breiten Straßen, wo einst Märkte gehalten wurden, und an ihre Stelle einen Bahnhofstadtteil treten, der als der Inbegriff des Neuen, Moderium und Unfertigen der alten abgeschlossenen Stadt ganz unorganisch angegliedert ist. Gehören nicht auch Tausende von Meilen Landstraßen und Wege samt ihren Brücken aus Holz oder Stein, Fähren usw., die neben den Eisenbahn¬ brücken wie Spielzeug aussehen, schon zur historischen Landschaft? Ihnen reihen sich die Telegraphenlinien als ein absolut neuer Zug in unsrer Land¬ schaft an. Wenn man erwägt, daß Deutschland heute mehr Eisenbahnen be¬ sitzt als noch im zweiten Jahrzehnt unsers Jahrhunderts Kunststraßen, und daß die schönsten Straßenbauten heute neben den Aufschüttungen, Einschnitten, Brücken und Viadukten der Eisenbahnen verschwinden, ferner, daß wesentlich den Eisenbahnen jene Steigerung der Beweglichkeit der Bevölkerung zugeschrieben werden muß, die eine ganz neue Verteilungsweise über das Land bewirkt, so muß man wohl auch im landschaftlichen Sinne unsre Zeit das Zeitalter der Eisenbahnen nen.nen. Die Geschichte jeder Stadt und jeder Landschaft lehrt die fortreißende Gewalt kennen, die in jedem kleinsten Ädercheu dieses modernen Verkehrssystems

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/269>, abgerufen am 24.07.2024.