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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Sie deutsche historische Landschaft

Städte auf den Wölbungen des Bodens und ragen nicht selten wie türmende
Inseln aus flachem Tieflandhorizont hervor. Weite Gebiete von sonst ein¬
förmigen Linien gewinnen ungemein durch ihre von weither sichtbaren turm¬
reichen Städte. Und soweit man sie sieht, soweit legt sich auch der Hauch
ihrer geschichtlichen Erinnerungen über die Landschaft. So schauen Halber¬
stadt. Merseburg, die Marienburg weit ins Land hinaus, wie Lübeck und
Stralsund von der hohen See her lange sichtbar sind, aus der ihre stolzen
Türme unmittelbar aufzutauchen scheinen. Deutlich erkennt man vor allem an
den ostelbischen Städten den fast allgemeinen Ursprung aus den Befestigungen.
Und Leipzig, Brandenburg, Posen liegen wohl inmitten sumpfiger Flußgeflechte,
aber zugleich leicht erhöht. Sehr häufig erinnert der Gegensatz der buckligen
Straßen der Stadt zu den flach hinlaufenden Chausseen draußen an die unebne
Unterlage, auf die der erste Gründer seine Stadt gestellt hat.

Überall in Deutschland haben die zwei das Land beherrschenden Stände
des Mittelalters, Kirche und Landadel, die freien, aussichtsreichen Lagen zuerst
herausgefunden. Daher auch hier die lang nachwirkende Verbindung zwischen
den Klöstern, Kirchen, Kapellen, Burgen und den malerischsten Punkten der
Landschaft. Das östliche Mitteldeutschland zeigt davon nicht soviel wie das
westliche, wo schon die Römer mit ihren Warttürmen und Merkurstempeln
vorangegangen waren. Aber die Katharinenkirche über Wunsiedel, die heute
als der schönste unter den leicht erreichbaren Aussichtspunkten des Fichtel¬
gebirges gilt, oder die Trümmer von Paulinzelle im Thüringerwald, die
Nudelsburg und Giebichenstein um der Saale, die hochragende Landeskrone bei
Görlitz sind aus tausend herausgegriffne Beispiele, wie das moderne Natur¬
gefühl und Erholungsbedürfnis die Wohnstätten der Alten aufsucht.

Diese Alten stellten nicht nur ihre Bauten mit Vorliebe auf erhabne
Punkte, sie bauten auch selbst hochstrebeude Türme und Giebel. "Scharf-
zinnige" Gassen sind für Städte wie Lübeck, Hildesheim, Nürnberg ebenso
bezeichnend wie eine gewisse Flachheit für die jüngern. Kein Stil hat die
deutsche Landschaft so beeinflußt wie der gotische. Werke der Gotik sind nicht
nur die hochragenden Türme von Köln, Straßbnrg, Freiburg, Ulm, Regens¬
burg und die einfachern Türme der großen Backsteinkirchen des Nordens; auch
die schlanken spitzen Türme einfacher Dorfkirchen sind Kinder und Enkel dieser
Familie. Der herrliche durchbrochne Turm des Straßburger Münsters herrscht
königlich über der Landschaft des mittlern Elsasses. Er ist in dem Tieflande
sichtbar vom Fuß der Vogesen bis zum Fuß des Schwarzwalds. So beherrscht
aber auch jeder Kirchturm seinen Umkreis, in dem er das hervorragendste und
idealste Bauwerk ist. Es ist also wichtig, daß er hoch hervorragt. Im
ganzen hat Oberdeutschland mehr hochragende spitze Kirchtürme als Nieder¬
deutschland, und vielleicht sind die schlanksten von allen am Rande der Alpen
Zu finden. Die grüne Farbe der schmalen spitzen Kirchtürme ist einer der


Sie deutsche historische Landschaft

Städte auf den Wölbungen des Bodens und ragen nicht selten wie türmende
Inseln aus flachem Tieflandhorizont hervor. Weite Gebiete von sonst ein¬
förmigen Linien gewinnen ungemein durch ihre von weither sichtbaren turm¬
reichen Städte. Und soweit man sie sieht, soweit legt sich auch der Hauch
ihrer geschichtlichen Erinnerungen über die Landschaft. So schauen Halber¬
stadt. Merseburg, die Marienburg weit ins Land hinaus, wie Lübeck und
Stralsund von der hohen See her lange sichtbar sind, aus der ihre stolzen
Türme unmittelbar aufzutauchen scheinen. Deutlich erkennt man vor allem an
den ostelbischen Städten den fast allgemeinen Ursprung aus den Befestigungen.
Und Leipzig, Brandenburg, Posen liegen wohl inmitten sumpfiger Flußgeflechte,
aber zugleich leicht erhöht. Sehr häufig erinnert der Gegensatz der buckligen
Straßen der Stadt zu den flach hinlaufenden Chausseen draußen an die unebne
Unterlage, auf die der erste Gründer seine Stadt gestellt hat.

Überall in Deutschland haben die zwei das Land beherrschenden Stände
des Mittelalters, Kirche und Landadel, die freien, aussichtsreichen Lagen zuerst
herausgefunden. Daher auch hier die lang nachwirkende Verbindung zwischen
den Klöstern, Kirchen, Kapellen, Burgen und den malerischsten Punkten der
Landschaft. Das östliche Mitteldeutschland zeigt davon nicht soviel wie das
westliche, wo schon die Römer mit ihren Warttürmen und Merkurstempeln
vorangegangen waren. Aber die Katharinenkirche über Wunsiedel, die heute
als der schönste unter den leicht erreichbaren Aussichtspunkten des Fichtel¬
gebirges gilt, oder die Trümmer von Paulinzelle im Thüringerwald, die
Nudelsburg und Giebichenstein um der Saale, die hochragende Landeskrone bei
Görlitz sind aus tausend herausgegriffne Beispiele, wie das moderne Natur¬
gefühl und Erholungsbedürfnis die Wohnstätten der Alten aufsucht.

Diese Alten stellten nicht nur ihre Bauten mit Vorliebe auf erhabne
Punkte, sie bauten auch selbst hochstrebeude Türme und Giebel. „Scharf-
zinnige" Gassen sind für Städte wie Lübeck, Hildesheim, Nürnberg ebenso
bezeichnend wie eine gewisse Flachheit für die jüngern. Kein Stil hat die
deutsche Landschaft so beeinflußt wie der gotische. Werke der Gotik sind nicht
nur die hochragenden Türme von Köln, Straßbnrg, Freiburg, Ulm, Regens¬
burg und die einfachern Türme der großen Backsteinkirchen des Nordens; auch
die schlanken spitzen Türme einfacher Dorfkirchen sind Kinder und Enkel dieser
Familie. Der herrliche durchbrochne Turm des Straßburger Münsters herrscht
königlich über der Landschaft des mittlern Elsasses. Er ist in dem Tieflande
sichtbar vom Fuß der Vogesen bis zum Fuß des Schwarzwalds. So beherrscht
aber auch jeder Kirchturm seinen Umkreis, in dem er das hervorragendste und
idealste Bauwerk ist. Es ist also wichtig, daß er hoch hervorragt. Im
ganzen hat Oberdeutschland mehr hochragende spitze Kirchtürme als Nieder¬
deutschland, und vielleicht sind die schlanksten von allen am Rande der Alpen
Zu finden. Die grüne Farbe der schmalen spitzen Kirchtürme ist einer der


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[0266] Sie deutsche historische Landschaft Städte auf den Wölbungen des Bodens und ragen nicht selten wie türmende Inseln aus flachem Tieflandhorizont hervor. Weite Gebiete von sonst ein¬ förmigen Linien gewinnen ungemein durch ihre von weither sichtbaren turm¬ reichen Städte. Und soweit man sie sieht, soweit legt sich auch der Hauch ihrer geschichtlichen Erinnerungen über die Landschaft. So schauen Halber¬ stadt. Merseburg, die Marienburg weit ins Land hinaus, wie Lübeck und Stralsund von der hohen See her lange sichtbar sind, aus der ihre stolzen Türme unmittelbar aufzutauchen scheinen. Deutlich erkennt man vor allem an den ostelbischen Städten den fast allgemeinen Ursprung aus den Befestigungen. Und Leipzig, Brandenburg, Posen liegen wohl inmitten sumpfiger Flußgeflechte, aber zugleich leicht erhöht. Sehr häufig erinnert der Gegensatz der buckligen Straßen der Stadt zu den flach hinlaufenden Chausseen draußen an die unebne Unterlage, auf die der erste Gründer seine Stadt gestellt hat. Überall in Deutschland haben die zwei das Land beherrschenden Stände des Mittelalters, Kirche und Landadel, die freien, aussichtsreichen Lagen zuerst herausgefunden. Daher auch hier die lang nachwirkende Verbindung zwischen den Klöstern, Kirchen, Kapellen, Burgen und den malerischsten Punkten der Landschaft. Das östliche Mitteldeutschland zeigt davon nicht soviel wie das westliche, wo schon die Römer mit ihren Warttürmen und Merkurstempeln vorangegangen waren. Aber die Katharinenkirche über Wunsiedel, die heute als der schönste unter den leicht erreichbaren Aussichtspunkten des Fichtel¬ gebirges gilt, oder die Trümmer von Paulinzelle im Thüringerwald, die Nudelsburg und Giebichenstein um der Saale, die hochragende Landeskrone bei Görlitz sind aus tausend herausgegriffne Beispiele, wie das moderne Natur¬ gefühl und Erholungsbedürfnis die Wohnstätten der Alten aufsucht. Diese Alten stellten nicht nur ihre Bauten mit Vorliebe auf erhabne Punkte, sie bauten auch selbst hochstrebeude Türme und Giebel. „Scharf- zinnige" Gassen sind für Städte wie Lübeck, Hildesheim, Nürnberg ebenso bezeichnend wie eine gewisse Flachheit für die jüngern. Kein Stil hat die deutsche Landschaft so beeinflußt wie der gotische. Werke der Gotik sind nicht nur die hochragenden Türme von Köln, Straßbnrg, Freiburg, Ulm, Regens¬ burg und die einfachern Türme der großen Backsteinkirchen des Nordens; auch die schlanken spitzen Türme einfacher Dorfkirchen sind Kinder und Enkel dieser Familie. Der herrliche durchbrochne Turm des Straßburger Münsters herrscht königlich über der Landschaft des mittlern Elsasses. Er ist in dem Tieflande sichtbar vom Fuß der Vogesen bis zum Fuß des Schwarzwalds. So beherrscht aber auch jeder Kirchturm seinen Umkreis, in dem er das hervorragendste und idealste Bauwerk ist. Es ist also wichtig, daß er hoch hervorragt. Im ganzen hat Oberdeutschland mehr hochragende spitze Kirchtürme als Nieder¬ deutschland, und vielleicht sind die schlanksten von allen am Rande der Alpen Zu finden. Die grüne Farbe der schmalen spitzen Kirchtürme ist einer der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/266>, abgerufen am 24.07.2024.