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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Airchenpolitik und Zentrum

ist nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen, sondern wird als Überlieferung von
den Epigonen eifrig gepflegt und nachgeahmt. Das Zentrum hat aber auch
Bundeshilfe gefunden. Am wenigsten noch bei der Sozialdemokratie, obgleich
diese recht häufig bei den Abstimmungen und bei den Wahlen mit dem Zentrum
gegangen ist. Die andern Parteien dagegen haben ihm nicht nur dabei ge¬
holfen, die Staatslenkung entweder zu schwächen oder zu beeinflussen, sondern
dienen auch dem Zentrum zum Relief, sodaß es als Partei in der That den
ersten Rang einnimmt. Die Stnatsauffassung, die von ihnen vertreten wird,
ist zwar auf demselben geschichtlichen Boden gewachsen wie das Deutsche Reich,
aber sie werden von den einzelnen Forderungen ihrer Parteiprogramme be¬
herrscht, mögen diese auf "Freiheit" oder "Autorität" den Nachdruck legen,
und diese Unfreiheit gegen die Mittel des politischen Handelns wird noch durch
Kliquenwesen und durch ihr schlechtes Gewissen erhöht. Auch sie nämlich
haben uneingestandne Ziele, aber diese sind nicht wie das des Zentrums idealer
Art, sondern beruhen auf wirtschaftlicher Selbstsucht, die sich sogar vor der
Mehrzahl der eignen Parteigänger verstecken muß, weil ihre Erfüllung nur
einem Teil davon zu gute kommen würde. Daraus muß wohl wüstes Gezänk,
kann aber weder feste Parteihaltung, noch gar eine relativ berechtigte "Fraktion"
echter Staatsgesiunung entstehen. Man streicht sich wohl mit seiner Staats¬
gesinnung selbst heraus, indem man sie zugleich den andern Parteien abstreitet,
aber in Wirklichkeit wird überall der davon einst vorhcmdne Bestand immer
mehr von Parteisucht überwuchert. Gegen solche Zerfahrenheit erscheint das
Zentrum groß, ja sogar zur Regierungsstütze geeignet. Hat es sich doch zur
"staatserhaltenden" Partei zu mausern gewußt, und ist diese Mauserung auch
fast allgemein anerkannt worden, obgleich das Zentrum dabei nicht ein Jota
von seiner Vergangenheit oder von seinen Zielen verleugnet und aufgegeben
hat. Im Gegenteil, es prunkt mit seiner Vergangenheit, und seine damalige
Aufsässigkeit dient ihm als Pressionsmittel, eine Einräumung nach der andern
zu erlangen, sich auf Kosten des Staats zu stärken.

Wir schließen sür diesesmal unsre Erörterungen. Bei ihrer Fortsetzung
wird mehr die sozial-wirtschaftliche als die kirchliche Seite der politischen Lage
zu betrachten sein. Doch auch auf diese wird die Erörterung zurückzukommen
haben, denn das Zentrum ist politisch ein so mächtiger "Faktor" geworden, daß
sein Hauptgebiet nicht unberührt bleiben kann. Wir würden bedauern, wenn
diese Erörterungen den Eindruck machten, als ob wir für dieses Gebiet an neue
Gesetze und überhaupt daran dächten, eine Vrüskirung des Zentrums zu em¬
pfehlen. Unsers Trachtens läßt sich vielmehr, wie jetzt die Dinge liegen, das
Zentrum als Gegner berechtigter Staatseinwirkung auf das kirchliche Leben nur
durch eine mit diesem vertraute Verwaltung bekämpfen, nicht durch Gesetze. Und
was die andern Gebiete der Staatsthätigkeit anbelangt, so ist ja Gesetzgebung
nötig, und dabei kann und sollte die agrarische Schwäche des Zentrums aus-


Airchenpolitik und Zentrum

ist nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen, sondern wird als Überlieferung von
den Epigonen eifrig gepflegt und nachgeahmt. Das Zentrum hat aber auch
Bundeshilfe gefunden. Am wenigsten noch bei der Sozialdemokratie, obgleich
diese recht häufig bei den Abstimmungen und bei den Wahlen mit dem Zentrum
gegangen ist. Die andern Parteien dagegen haben ihm nicht nur dabei ge¬
holfen, die Staatslenkung entweder zu schwächen oder zu beeinflussen, sondern
dienen auch dem Zentrum zum Relief, sodaß es als Partei in der That den
ersten Rang einnimmt. Die Stnatsauffassung, die von ihnen vertreten wird,
ist zwar auf demselben geschichtlichen Boden gewachsen wie das Deutsche Reich,
aber sie werden von den einzelnen Forderungen ihrer Parteiprogramme be¬
herrscht, mögen diese auf „Freiheit" oder „Autorität" den Nachdruck legen,
und diese Unfreiheit gegen die Mittel des politischen Handelns wird noch durch
Kliquenwesen und durch ihr schlechtes Gewissen erhöht. Auch sie nämlich
haben uneingestandne Ziele, aber diese sind nicht wie das des Zentrums idealer
Art, sondern beruhen auf wirtschaftlicher Selbstsucht, die sich sogar vor der
Mehrzahl der eignen Parteigänger verstecken muß, weil ihre Erfüllung nur
einem Teil davon zu gute kommen würde. Daraus muß wohl wüstes Gezänk,
kann aber weder feste Parteihaltung, noch gar eine relativ berechtigte „Fraktion"
echter Staatsgesiunung entstehen. Man streicht sich wohl mit seiner Staats¬
gesinnung selbst heraus, indem man sie zugleich den andern Parteien abstreitet,
aber in Wirklichkeit wird überall der davon einst vorhcmdne Bestand immer
mehr von Parteisucht überwuchert. Gegen solche Zerfahrenheit erscheint das
Zentrum groß, ja sogar zur Regierungsstütze geeignet. Hat es sich doch zur
„staatserhaltenden" Partei zu mausern gewußt, und ist diese Mauserung auch
fast allgemein anerkannt worden, obgleich das Zentrum dabei nicht ein Jota
von seiner Vergangenheit oder von seinen Zielen verleugnet und aufgegeben
hat. Im Gegenteil, es prunkt mit seiner Vergangenheit, und seine damalige
Aufsässigkeit dient ihm als Pressionsmittel, eine Einräumung nach der andern
zu erlangen, sich auf Kosten des Staats zu stärken.

Wir schließen sür diesesmal unsre Erörterungen. Bei ihrer Fortsetzung
wird mehr die sozial-wirtschaftliche als die kirchliche Seite der politischen Lage
zu betrachten sein. Doch auch auf diese wird die Erörterung zurückzukommen
haben, denn das Zentrum ist politisch ein so mächtiger „Faktor" geworden, daß
sein Hauptgebiet nicht unberührt bleiben kann. Wir würden bedauern, wenn
diese Erörterungen den Eindruck machten, als ob wir für dieses Gebiet an neue
Gesetze und überhaupt daran dächten, eine Vrüskirung des Zentrums zu em¬
pfehlen. Unsers Trachtens läßt sich vielmehr, wie jetzt die Dinge liegen, das
Zentrum als Gegner berechtigter Staatseinwirkung auf das kirchliche Leben nur
durch eine mit diesem vertraute Verwaltung bekämpfen, nicht durch Gesetze. Und
was die andern Gebiete der Staatsthätigkeit anbelangt, so ist ja Gesetzgebung
nötig, und dabei kann und sollte die agrarische Schwäche des Zentrums aus-


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[0261] Airchenpolitik und Zentrum ist nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen, sondern wird als Überlieferung von den Epigonen eifrig gepflegt und nachgeahmt. Das Zentrum hat aber auch Bundeshilfe gefunden. Am wenigsten noch bei der Sozialdemokratie, obgleich diese recht häufig bei den Abstimmungen und bei den Wahlen mit dem Zentrum gegangen ist. Die andern Parteien dagegen haben ihm nicht nur dabei ge¬ holfen, die Staatslenkung entweder zu schwächen oder zu beeinflussen, sondern dienen auch dem Zentrum zum Relief, sodaß es als Partei in der That den ersten Rang einnimmt. Die Stnatsauffassung, die von ihnen vertreten wird, ist zwar auf demselben geschichtlichen Boden gewachsen wie das Deutsche Reich, aber sie werden von den einzelnen Forderungen ihrer Parteiprogramme be¬ herrscht, mögen diese auf „Freiheit" oder „Autorität" den Nachdruck legen, und diese Unfreiheit gegen die Mittel des politischen Handelns wird noch durch Kliquenwesen und durch ihr schlechtes Gewissen erhöht. Auch sie nämlich haben uneingestandne Ziele, aber diese sind nicht wie das des Zentrums idealer Art, sondern beruhen auf wirtschaftlicher Selbstsucht, die sich sogar vor der Mehrzahl der eignen Parteigänger verstecken muß, weil ihre Erfüllung nur einem Teil davon zu gute kommen würde. Daraus muß wohl wüstes Gezänk, kann aber weder feste Parteihaltung, noch gar eine relativ berechtigte „Fraktion" echter Staatsgesiunung entstehen. Man streicht sich wohl mit seiner Staats¬ gesinnung selbst heraus, indem man sie zugleich den andern Parteien abstreitet, aber in Wirklichkeit wird überall der davon einst vorhcmdne Bestand immer mehr von Parteisucht überwuchert. Gegen solche Zerfahrenheit erscheint das Zentrum groß, ja sogar zur Regierungsstütze geeignet. Hat es sich doch zur „staatserhaltenden" Partei zu mausern gewußt, und ist diese Mauserung auch fast allgemein anerkannt worden, obgleich das Zentrum dabei nicht ein Jota von seiner Vergangenheit oder von seinen Zielen verleugnet und aufgegeben hat. Im Gegenteil, es prunkt mit seiner Vergangenheit, und seine damalige Aufsässigkeit dient ihm als Pressionsmittel, eine Einräumung nach der andern zu erlangen, sich auf Kosten des Staats zu stärken. Wir schließen sür diesesmal unsre Erörterungen. Bei ihrer Fortsetzung wird mehr die sozial-wirtschaftliche als die kirchliche Seite der politischen Lage zu betrachten sein. Doch auch auf diese wird die Erörterung zurückzukommen haben, denn das Zentrum ist politisch ein so mächtiger „Faktor" geworden, daß sein Hauptgebiet nicht unberührt bleiben kann. Wir würden bedauern, wenn diese Erörterungen den Eindruck machten, als ob wir für dieses Gebiet an neue Gesetze und überhaupt daran dächten, eine Vrüskirung des Zentrums zu em¬ pfehlen. Unsers Trachtens läßt sich vielmehr, wie jetzt die Dinge liegen, das Zentrum als Gegner berechtigter Staatseinwirkung auf das kirchliche Leben nur durch eine mit diesem vertraute Verwaltung bekämpfen, nicht durch Gesetze. Und was die andern Gebiete der Staatsthätigkeit anbelangt, so ist ja Gesetzgebung nötig, und dabei kann und sollte die agrarische Schwäche des Zentrums aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/261>, abgerufen am 12.12.2024.