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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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ltirchenpolitik und Zentrum

Seligkeit dagegen mehr ansinnen. Etwas andres ist die Pose des Patriotismus,
die das Zentrum als Neophyt der "staatserhaltenden" Parteien so gern an¬
nimmt. Diese Pose steht niemand gut, dem Zentrum aber noch schlechter als
andern, und unter diesen hat ein Teil das wohlerworbne Recht, dem Zentrum
-- von dessen Wählern sprechen wir nicht -- erst noch weitere Proben abzu¬
verlangen.

Nicht in dem Patriotismus also liegt das Unterscheidende des Zentrums,
sondern in der Staatsauffassung. Die Staatsauffassung des Zentrums ist
anders als die Staatsgesinnung, von der die Gründung des Reichs vor¬
bereitet und geleitet worden ist. Die Zentrumsauffassung legt auf das Be¬
sondre im Volksleben, auf dessen soziale Disferenzirungen, wenn der Ausdruck
gestattet ist, das entscheidende Gewicht und setzt ihrer Zusammenfassung und
Beherrschung durch den Staat ganz andre Schranken, als früher gemeingiltig
waren, indem sie zugleich deren Überschreitung als Staatsomnipotenz verurteilt.
Die Grenzen, die der Staat wahren soll, steckt die Zentrumsauffassung bald
enger, bald weiter, je nach der Verschiedenheit und Wichtigkeit der betreffenden
Sozialbildungen. Als bestimmende Regel für die notwendigen stellt sie den
Satz auf, daß die Entfaltung ihres Lebens vom Staat nicht verkümmert
werden dürfe, und daß ihre eigne Meinung über die ihnen zukommende Freiheit
berücksichtigt werden müsse. Außerdem sind die sozialen Bildungen und Ein¬
flüsse, die von der Zentrumsauffasfuug bevorzugt werden, andre als die, die
beispielsweise von der im zweiten Abschnitt charakterisirten altpreußischen
Staatsgesinnuug vorangestellt werden. In erster Reihe steht für die Zentrums¬
auffasfuug die katholische Kirche. Sie verlangt zwar nach ihrem Programm
formell für die katholische Kirche nur Parität, aber, da die Kirche eben darnach
frei sein und das ihr zukommende Maß von Freiheit selbst bestimmen soll, so
laust die rechtliche Parität thatsächlich auf vollständige Unabhängigkeit vom
Staate hinaus. Das ist auch die wahre Meinung. Aber noch mehr. Die
uichtkirchlichen Gemeinschaften sollen, wenn ihr Dasein berechtigt ist, nach der
Meinung des Zentrums ebenfalls Freiheit der Bewegung haben, ihnen gegen¬
über soll zwar die Einwirkung des Staats größer sein, und der Staat ihnen
sowohl die Grenze als das Gesetz des Handelns vorschreiben dürfen, aber das
wichtigere: das Handeln selbst, die Lebensbcthütigung, die Ausführung und
Verwaltung, darauf soll wieder, wenn und wieweit Katholiken beteiligt sind,
die katholische Kirche Beschlag legen. Nicht unmittelbar, aber auf Umwegen,
durch die Vereinsform. Daher die eifrige Vereinsthütigkeit der katholischen
Geistlichkeit, daher die katholischen Bauern-, Handwerker-, Gesellenvereine usw.
Diese Vereinigungen sind an und für sich gewiß etwas gutes, dem Zentrum
jedoch nur denn, wenn sie ausschließlich aus Katholiken bestehen und die geist¬
liche Direktive anerkennen. Das steht nicht im Zentrnmsprogramm, aber da
springt als Bundesgenosse der jährliche Katholikentag ein, mit seinen vielen


ltirchenpolitik und Zentrum

Seligkeit dagegen mehr ansinnen. Etwas andres ist die Pose des Patriotismus,
die das Zentrum als Neophyt der „staatserhaltenden" Parteien so gern an¬
nimmt. Diese Pose steht niemand gut, dem Zentrum aber noch schlechter als
andern, und unter diesen hat ein Teil das wohlerworbne Recht, dem Zentrum
— von dessen Wählern sprechen wir nicht — erst noch weitere Proben abzu¬
verlangen.

Nicht in dem Patriotismus also liegt das Unterscheidende des Zentrums,
sondern in der Staatsauffassung. Die Staatsauffassung des Zentrums ist
anders als die Staatsgesinnung, von der die Gründung des Reichs vor¬
bereitet und geleitet worden ist. Die Zentrumsauffassung legt auf das Be¬
sondre im Volksleben, auf dessen soziale Disferenzirungen, wenn der Ausdruck
gestattet ist, das entscheidende Gewicht und setzt ihrer Zusammenfassung und
Beherrschung durch den Staat ganz andre Schranken, als früher gemeingiltig
waren, indem sie zugleich deren Überschreitung als Staatsomnipotenz verurteilt.
Die Grenzen, die der Staat wahren soll, steckt die Zentrumsauffassung bald
enger, bald weiter, je nach der Verschiedenheit und Wichtigkeit der betreffenden
Sozialbildungen. Als bestimmende Regel für die notwendigen stellt sie den
Satz auf, daß die Entfaltung ihres Lebens vom Staat nicht verkümmert
werden dürfe, und daß ihre eigne Meinung über die ihnen zukommende Freiheit
berücksichtigt werden müsse. Außerdem sind die sozialen Bildungen und Ein¬
flüsse, die von der Zentrumsauffasfuug bevorzugt werden, andre als die, die
beispielsweise von der im zweiten Abschnitt charakterisirten altpreußischen
Staatsgesinnuug vorangestellt werden. In erster Reihe steht für die Zentrums¬
auffasfuug die katholische Kirche. Sie verlangt zwar nach ihrem Programm
formell für die katholische Kirche nur Parität, aber, da die Kirche eben darnach
frei sein und das ihr zukommende Maß von Freiheit selbst bestimmen soll, so
laust die rechtliche Parität thatsächlich auf vollständige Unabhängigkeit vom
Staate hinaus. Das ist auch die wahre Meinung. Aber noch mehr. Die
uichtkirchlichen Gemeinschaften sollen, wenn ihr Dasein berechtigt ist, nach der
Meinung des Zentrums ebenfalls Freiheit der Bewegung haben, ihnen gegen¬
über soll zwar die Einwirkung des Staats größer sein, und der Staat ihnen
sowohl die Grenze als das Gesetz des Handelns vorschreiben dürfen, aber das
wichtigere: das Handeln selbst, die Lebensbcthütigung, die Ausführung und
Verwaltung, darauf soll wieder, wenn und wieweit Katholiken beteiligt sind,
die katholische Kirche Beschlag legen. Nicht unmittelbar, aber auf Umwegen,
durch die Vereinsform. Daher die eifrige Vereinsthütigkeit der katholischen
Geistlichkeit, daher die katholischen Bauern-, Handwerker-, Gesellenvereine usw.
Diese Vereinigungen sind an und für sich gewiß etwas gutes, dem Zentrum
jedoch nur denn, wenn sie ausschließlich aus Katholiken bestehen und die geist¬
liche Direktive anerkennen. Das steht nicht im Zentrnmsprogramm, aber da
springt als Bundesgenosse der jährliche Katholikentag ein, mit seinen vielen


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[0259] ltirchenpolitik und Zentrum Seligkeit dagegen mehr ansinnen. Etwas andres ist die Pose des Patriotismus, die das Zentrum als Neophyt der „staatserhaltenden" Parteien so gern an¬ nimmt. Diese Pose steht niemand gut, dem Zentrum aber noch schlechter als andern, und unter diesen hat ein Teil das wohlerworbne Recht, dem Zentrum — von dessen Wählern sprechen wir nicht — erst noch weitere Proben abzu¬ verlangen. Nicht in dem Patriotismus also liegt das Unterscheidende des Zentrums, sondern in der Staatsauffassung. Die Staatsauffassung des Zentrums ist anders als die Staatsgesinnung, von der die Gründung des Reichs vor¬ bereitet und geleitet worden ist. Die Zentrumsauffassung legt auf das Be¬ sondre im Volksleben, auf dessen soziale Disferenzirungen, wenn der Ausdruck gestattet ist, das entscheidende Gewicht und setzt ihrer Zusammenfassung und Beherrschung durch den Staat ganz andre Schranken, als früher gemeingiltig waren, indem sie zugleich deren Überschreitung als Staatsomnipotenz verurteilt. Die Grenzen, die der Staat wahren soll, steckt die Zentrumsauffassung bald enger, bald weiter, je nach der Verschiedenheit und Wichtigkeit der betreffenden Sozialbildungen. Als bestimmende Regel für die notwendigen stellt sie den Satz auf, daß die Entfaltung ihres Lebens vom Staat nicht verkümmert werden dürfe, und daß ihre eigne Meinung über die ihnen zukommende Freiheit berücksichtigt werden müsse. Außerdem sind die sozialen Bildungen und Ein¬ flüsse, die von der Zentrumsauffasfuug bevorzugt werden, andre als die, die beispielsweise von der im zweiten Abschnitt charakterisirten altpreußischen Staatsgesinnuug vorangestellt werden. In erster Reihe steht für die Zentrums¬ auffasfuug die katholische Kirche. Sie verlangt zwar nach ihrem Programm formell für die katholische Kirche nur Parität, aber, da die Kirche eben darnach frei sein und das ihr zukommende Maß von Freiheit selbst bestimmen soll, so laust die rechtliche Parität thatsächlich auf vollständige Unabhängigkeit vom Staate hinaus. Das ist auch die wahre Meinung. Aber noch mehr. Die uichtkirchlichen Gemeinschaften sollen, wenn ihr Dasein berechtigt ist, nach der Meinung des Zentrums ebenfalls Freiheit der Bewegung haben, ihnen gegen¬ über soll zwar die Einwirkung des Staats größer sein, und der Staat ihnen sowohl die Grenze als das Gesetz des Handelns vorschreiben dürfen, aber das wichtigere: das Handeln selbst, die Lebensbcthütigung, die Ausführung und Verwaltung, darauf soll wieder, wenn und wieweit Katholiken beteiligt sind, die katholische Kirche Beschlag legen. Nicht unmittelbar, aber auf Umwegen, durch die Vereinsform. Daher die eifrige Vereinsthütigkeit der katholischen Geistlichkeit, daher die katholischen Bauern-, Handwerker-, Gesellenvereine usw. Diese Vereinigungen sind an und für sich gewiß etwas gutes, dem Zentrum jedoch nur denn, wenn sie ausschließlich aus Katholiken bestehen und die geist¬ liche Direktive anerkennen. Das steht nicht im Zentrnmsprogramm, aber da springt als Bundesgenosse der jährliche Katholikentag ein, mit seinen vielen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/259>, abgerufen am 12.12.2024.