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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Theodor von Bernhard! als Nationalökonom

englische Lehre hat für die Unternehmer etwas überaus bequemes, indem sie
den arbeitenden Klassen allein die Sorge für die Gestaltung ihrer Lage zu¬
weist. Sie sollen selber zusehen, wie sie bestehen in dem Wettbewerb um
einen möglichst großen Anteil an dem Gewinn. Eine Vereinigung der Arbeiter,
um gemeinsam einen höhern Lohn zu erringen, wurde damals als ein heilloser
Unfug abgelehnt, aus dem nichts als allgemeine Verarmung hervorgehen
könne. Das Verhältnis zwischen Arbeitern und Unternehmern soll ganz dem
freien Wettbewerb überlassen bleiben und keine Einmischung der Gesetzgebung
erlaubt sein. Das schloß nicht aus, daß die Unternehmer gegen etwaige Ge¬
waltsamkeiten der Arbeiter die Staatshilfe für sich in Anspruch nahmen und
ihre Fabriken in festungsartiger Weise armirten. Die Arbeiter haben sich da¬
durch zu helfen, daß sie bei ihrer Vermehrung mit dem Kapital Schritt halten;
wenn sie es darin versehen, so ist niemand verpflichtet, ihnen in ihren selbst¬
verschuldeten Verlegenheiten beizustehen.

Wie in den übrigen Ausführungen der Manchesterschule, so liegt auch
hierin ein Korn Wahrheit, wie Bernhardt gerecht genug ist, anzuerkennen,
denn bei der billigsten Verteilung des Gewinns wird doch immer die Gefahr
der Übervölkerung bestehen bleiben, und nur ein allgemein verbreitetes Gefühl
der menschlichen Würde und eine diesem Gefühl und echter, d. h. der Charakter¬
bildung entstammende Besonnenheit, ein moralischer Verzicht, können ihr be¬
gegnen. Aber die Lehre giebt ein völlig verzerrtes Bild der Wirklichkeit, indem
sie nur die eine Seite des Problems sieht und von weiter nichts wissen will,
und zwar gerade von den Dingen nicht, die zu ihren Interessen nicht passen.
Ebenso einseitig ist es, wenn gezeigt wird, wie ein kapitalreiches Land, obgleich
Arbeit dort teuer ist und die Edelmetalle einen geringern Tauschwert haben
als anderswo, den Wettbewerb mit andern Ländern, in denen die Arbeit wohl¬
feil ist, in Bezug auf industrielle Erzeugnisse auf dem Weltmarkt dennoch be¬
stehen kann, wenn aber nichts davon verlautet, was für Zustände sich aus
diesem Wettbewerb für die innern Verhältnisse des Landes ergeben müssen.
Die sehr bedenkliche Seite der englischen Volkswirtschaft im ganzen, die ge¬
zwungen ist, für einen sich immer mehr erweiternden Markt zu arbeiten, für
Bedürfnisse, die erst aufgesucht und hervorgerufen werden müssen, wird gar
nicht erwähnt.

Nicht aus dem, was der Einzelne in den Verkehr hineinwirft und zum
Nationalvermögen beiträgt, sondern aus den Teilen, die der Einzelne daraus
herauszieht, wird das Nationalvermögen und Einkommen fälschlich berechnet.
Infolge aller dieser Einseitigkeiten gelangen die Engländer dazu, den lebendigen
Organismus der Gesellschaft als einen einförmigen Mechanismus anzusehen,
worin es auf das Ansammeln von Kapital ankommt, nach Maßgabe dessen
sich die Bevölkerung zu regeln hat, während in der Wirklichkeit die wirtschaft¬
liche Lage neben dem Reichtum der Natur weit mehr abhängt von der Er-


Grenzboten IV 1898 2t)
Theodor von Bernhard! als Nationalökonom

englische Lehre hat für die Unternehmer etwas überaus bequemes, indem sie
den arbeitenden Klassen allein die Sorge für die Gestaltung ihrer Lage zu¬
weist. Sie sollen selber zusehen, wie sie bestehen in dem Wettbewerb um
einen möglichst großen Anteil an dem Gewinn. Eine Vereinigung der Arbeiter,
um gemeinsam einen höhern Lohn zu erringen, wurde damals als ein heilloser
Unfug abgelehnt, aus dem nichts als allgemeine Verarmung hervorgehen
könne. Das Verhältnis zwischen Arbeitern und Unternehmern soll ganz dem
freien Wettbewerb überlassen bleiben und keine Einmischung der Gesetzgebung
erlaubt sein. Das schloß nicht aus, daß die Unternehmer gegen etwaige Ge¬
waltsamkeiten der Arbeiter die Staatshilfe für sich in Anspruch nahmen und
ihre Fabriken in festungsartiger Weise armirten. Die Arbeiter haben sich da¬
durch zu helfen, daß sie bei ihrer Vermehrung mit dem Kapital Schritt halten;
wenn sie es darin versehen, so ist niemand verpflichtet, ihnen in ihren selbst¬
verschuldeten Verlegenheiten beizustehen.

Wie in den übrigen Ausführungen der Manchesterschule, so liegt auch
hierin ein Korn Wahrheit, wie Bernhardt gerecht genug ist, anzuerkennen,
denn bei der billigsten Verteilung des Gewinns wird doch immer die Gefahr
der Übervölkerung bestehen bleiben, und nur ein allgemein verbreitetes Gefühl
der menschlichen Würde und eine diesem Gefühl und echter, d. h. der Charakter¬
bildung entstammende Besonnenheit, ein moralischer Verzicht, können ihr be¬
gegnen. Aber die Lehre giebt ein völlig verzerrtes Bild der Wirklichkeit, indem
sie nur die eine Seite des Problems sieht und von weiter nichts wissen will,
und zwar gerade von den Dingen nicht, die zu ihren Interessen nicht passen.
Ebenso einseitig ist es, wenn gezeigt wird, wie ein kapitalreiches Land, obgleich
Arbeit dort teuer ist und die Edelmetalle einen geringern Tauschwert haben
als anderswo, den Wettbewerb mit andern Ländern, in denen die Arbeit wohl¬
feil ist, in Bezug auf industrielle Erzeugnisse auf dem Weltmarkt dennoch be¬
stehen kann, wenn aber nichts davon verlautet, was für Zustände sich aus
diesem Wettbewerb für die innern Verhältnisse des Landes ergeben müssen.
Die sehr bedenkliche Seite der englischen Volkswirtschaft im ganzen, die ge¬
zwungen ist, für einen sich immer mehr erweiternden Markt zu arbeiten, für
Bedürfnisse, die erst aufgesucht und hervorgerufen werden müssen, wird gar
nicht erwähnt.

Nicht aus dem, was der Einzelne in den Verkehr hineinwirft und zum
Nationalvermögen beiträgt, sondern aus den Teilen, die der Einzelne daraus
herauszieht, wird das Nationalvermögen und Einkommen fälschlich berechnet.
Infolge aller dieser Einseitigkeiten gelangen die Engländer dazu, den lebendigen
Organismus der Gesellschaft als einen einförmigen Mechanismus anzusehen,
worin es auf das Ansammeln von Kapital ankommt, nach Maßgabe dessen
sich die Bevölkerung zu regeln hat, während in der Wirklichkeit die wirtschaft¬
liche Lage neben dem Reichtum der Natur weit mehr abhängt von der Er-


Grenzboten IV 1898 2t)
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[0244] Theodor von Bernhard! als Nationalökonom englische Lehre hat für die Unternehmer etwas überaus bequemes, indem sie den arbeitenden Klassen allein die Sorge für die Gestaltung ihrer Lage zu¬ weist. Sie sollen selber zusehen, wie sie bestehen in dem Wettbewerb um einen möglichst großen Anteil an dem Gewinn. Eine Vereinigung der Arbeiter, um gemeinsam einen höhern Lohn zu erringen, wurde damals als ein heilloser Unfug abgelehnt, aus dem nichts als allgemeine Verarmung hervorgehen könne. Das Verhältnis zwischen Arbeitern und Unternehmern soll ganz dem freien Wettbewerb überlassen bleiben und keine Einmischung der Gesetzgebung erlaubt sein. Das schloß nicht aus, daß die Unternehmer gegen etwaige Ge¬ waltsamkeiten der Arbeiter die Staatshilfe für sich in Anspruch nahmen und ihre Fabriken in festungsartiger Weise armirten. Die Arbeiter haben sich da¬ durch zu helfen, daß sie bei ihrer Vermehrung mit dem Kapital Schritt halten; wenn sie es darin versehen, so ist niemand verpflichtet, ihnen in ihren selbst¬ verschuldeten Verlegenheiten beizustehen. Wie in den übrigen Ausführungen der Manchesterschule, so liegt auch hierin ein Korn Wahrheit, wie Bernhardt gerecht genug ist, anzuerkennen, denn bei der billigsten Verteilung des Gewinns wird doch immer die Gefahr der Übervölkerung bestehen bleiben, und nur ein allgemein verbreitetes Gefühl der menschlichen Würde und eine diesem Gefühl und echter, d. h. der Charakter¬ bildung entstammende Besonnenheit, ein moralischer Verzicht, können ihr be¬ gegnen. Aber die Lehre giebt ein völlig verzerrtes Bild der Wirklichkeit, indem sie nur die eine Seite des Problems sieht und von weiter nichts wissen will, und zwar gerade von den Dingen nicht, die zu ihren Interessen nicht passen. Ebenso einseitig ist es, wenn gezeigt wird, wie ein kapitalreiches Land, obgleich Arbeit dort teuer ist und die Edelmetalle einen geringern Tauschwert haben als anderswo, den Wettbewerb mit andern Ländern, in denen die Arbeit wohl¬ feil ist, in Bezug auf industrielle Erzeugnisse auf dem Weltmarkt dennoch be¬ stehen kann, wenn aber nichts davon verlautet, was für Zustände sich aus diesem Wettbewerb für die innern Verhältnisse des Landes ergeben müssen. Die sehr bedenkliche Seite der englischen Volkswirtschaft im ganzen, die ge¬ zwungen ist, für einen sich immer mehr erweiternden Markt zu arbeiten, für Bedürfnisse, die erst aufgesucht und hervorgerufen werden müssen, wird gar nicht erwähnt. Nicht aus dem, was der Einzelne in den Verkehr hineinwirft und zum Nationalvermögen beiträgt, sondern aus den Teilen, die der Einzelne daraus herauszieht, wird das Nationalvermögen und Einkommen fälschlich berechnet. Infolge aller dieser Einseitigkeiten gelangen die Engländer dazu, den lebendigen Organismus der Gesellschaft als einen einförmigen Mechanismus anzusehen, worin es auf das Ansammeln von Kapital ankommt, nach Maßgabe dessen sich die Bevölkerung zu regeln hat, während in der Wirklichkeit die wirtschaft¬ liche Lage neben dem Reichtum der Natur weit mehr abhängt von der Er- Grenzboten IV 1898 2t)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/244>, abgerufen am 25.07.2024.