Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.Die Sozialpolitik der nächsten Zeit neuen Männer vom Tische des Bundesrath oder die preußischen Minister? Gerade bei dieser Frage erscheinen die Sozialisten, selbst wenn man die Die Sozialpolitik der nächsten Zeit neuen Männer vom Tische des Bundesrath oder die preußischen Minister? Gerade bei dieser Frage erscheinen die Sozialisten, selbst wenn man die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0024" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228972"/> <fw type="header" place="top"> Die Sozialpolitik der nächsten Zeit</fw><lb/> <p xml:id="ID_32" prev="#ID_31"> neuen Männer vom Tische des Bundesrath oder die preußischen Minister?<lb/> Oder werden wir auch hier unsre Hoffnung auf den Kaiser allein setzen müssen,<lb/> wie man vor 1890 alles vom Kanzler erwartete? Und wie stehts dann mit<lb/> den Aussichten der Sozialpolitik in der nächsten Zeit?</p><lb/> <p xml:id="ID_33" next="#ID_34"> Gerade bei dieser Frage erscheinen die Sozialisten, selbst wenn man die<lb/> Sozialdemokraten ganz äußeren Spiel läßt, als arge Sünder. Sie haben alles<lb/> gethan, alles zu verderben. Die Natur der sozialen Probleme und Ideale<lb/> legte den verständigen Arbeiter- und Vaterlandsfreunden doch wahrhaftig die<lb/> größte Zurückhaltung und Vorsicht bei der Formulirung sozialpolitischer<lb/> Forderungen nahe, und vollends die Vertreter der Sozialwissenschaft hätten<lb/> sich sagen müssen, daß die ihren Lehrsätzen eigentümliche Unbestimmtheit und<lb/> Dehnbarkeit bei ihrer besondern agitatorischen Kraft in den ungebildeten Klaffen<lb/> Vorstellungen und Ansprüche wachrufen müßte, die in der Theorie arbeiter¬<lb/> freundlich und gemeinnützig scheinende Reformen praktisch als arbeiter- und<lb/> gemeingefährlich erkennen kniffen und es den verantwortlichen Leitern der<lb/> Politik unmöglich machen, darauf einzugehen. Der Mangel an dieser Vorsicht<lb/> und Zurückhaltung hat den Kathedersozialismus zum wirksamen Förderer der<lb/> sozialdemokratischen Gesinnung unter unsern Industriearbeitern gemacht, und<lb/> seinen Übertreibungen und Einseitigkeiten ist es zum guten Teile zuzuschreiben,<lb/> daß der Kaiser und die verbündeten Regierungen seit 1890 trotz der Leistungen<lb/> unsrer Arbeitergesetzgebung mit einer zunehmenden politischen und sozialen<lb/> Entartung der Bevölkerung zu rechnen haben, statt verstündigere, maßvollere<lb/> und zufriednere Anschauungen zu finden. Nicht weniger nachteilig und<lb/> dabei noch allgemeiner haben die sozialistischen Einseitigkeiten und Über¬<lb/> treibungen dadurch gewirkt, daß sie zwar für den Staat sittliche Ziele und<lb/> auch gelegentlich und theoretisch von den Staatsbürgern ein sittlicheres Ver¬<lb/> halten verlangten, namentlich als Pflicht gegen das sogenannte Ganze, praktisch<lb/> aber durch das übereifrige und besonders agitatorisch wirkende Eintreten für die<lb/> sozialpolitische, d. h. durch den Staat zu leistende Hilfe bei den Einzelnen das<lb/> soziale Pflichtgefühl noch mehr verkümmerten, als das durch die Manchester-<lb/> doktriu schon vorher geschehen war. Man hat den Klassenkampf zur Haupt¬<lb/> sache und den Klasfenhaß den Massen zur Tugend gemacht, man hat den<lb/> Einzelnen überhaupt nicht mehr kennen wollen, sondern nur noch die Klasse,<lb/> die Schicht und leichtfertig konstruirte Typen, man hat das individuelle Glück<lb/> und seine so unendlich verschiednen Voraussetzungen ganz vergessen, und man<lb/> ist schließlich zu der ungeheuerlichen und sehr verhängnisvollen Albernheit ge¬<lb/> kommen, die Zufriedenheit dem Menschen als Fehler und Unglück anzurechnen,<lb/> ja das Wort und den Begriff völlig auszulöschen in dem sonst so gewaltig<lb/> angeschwollnen Sprachschatze der modernen Sozialwissenschaft. Mit unverzeih¬<lb/> licher Unduldsamkeit und Selbstgerechtigkeit find dabei bis heute alle Mah¬<lb/> nungen, von Einseitigkeiten und Übertreibungen abzulassen, zurückgewiesen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0024]
Die Sozialpolitik der nächsten Zeit
neuen Männer vom Tische des Bundesrath oder die preußischen Minister?
Oder werden wir auch hier unsre Hoffnung auf den Kaiser allein setzen müssen,
wie man vor 1890 alles vom Kanzler erwartete? Und wie stehts dann mit
den Aussichten der Sozialpolitik in der nächsten Zeit?
Gerade bei dieser Frage erscheinen die Sozialisten, selbst wenn man die
Sozialdemokraten ganz äußeren Spiel läßt, als arge Sünder. Sie haben alles
gethan, alles zu verderben. Die Natur der sozialen Probleme und Ideale
legte den verständigen Arbeiter- und Vaterlandsfreunden doch wahrhaftig die
größte Zurückhaltung und Vorsicht bei der Formulirung sozialpolitischer
Forderungen nahe, und vollends die Vertreter der Sozialwissenschaft hätten
sich sagen müssen, daß die ihren Lehrsätzen eigentümliche Unbestimmtheit und
Dehnbarkeit bei ihrer besondern agitatorischen Kraft in den ungebildeten Klaffen
Vorstellungen und Ansprüche wachrufen müßte, die in der Theorie arbeiter¬
freundlich und gemeinnützig scheinende Reformen praktisch als arbeiter- und
gemeingefährlich erkennen kniffen und es den verantwortlichen Leitern der
Politik unmöglich machen, darauf einzugehen. Der Mangel an dieser Vorsicht
und Zurückhaltung hat den Kathedersozialismus zum wirksamen Förderer der
sozialdemokratischen Gesinnung unter unsern Industriearbeitern gemacht, und
seinen Übertreibungen und Einseitigkeiten ist es zum guten Teile zuzuschreiben,
daß der Kaiser und die verbündeten Regierungen seit 1890 trotz der Leistungen
unsrer Arbeitergesetzgebung mit einer zunehmenden politischen und sozialen
Entartung der Bevölkerung zu rechnen haben, statt verstündigere, maßvollere
und zufriednere Anschauungen zu finden. Nicht weniger nachteilig und
dabei noch allgemeiner haben die sozialistischen Einseitigkeiten und Über¬
treibungen dadurch gewirkt, daß sie zwar für den Staat sittliche Ziele und
auch gelegentlich und theoretisch von den Staatsbürgern ein sittlicheres Ver¬
halten verlangten, namentlich als Pflicht gegen das sogenannte Ganze, praktisch
aber durch das übereifrige und besonders agitatorisch wirkende Eintreten für die
sozialpolitische, d. h. durch den Staat zu leistende Hilfe bei den Einzelnen das
soziale Pflichtgefühl noch mehr verkümmerten, als das durch die Manchester-
doktriu schon vorher geschehen war. Man hat den Klassenkampf zur Haupt¬
sache und den Klasfenhaß den Massen zur Tugend gemacht, man hat den
Einzelnen überhaupt nicht mehr kennen wollen, sondern nur noch die Klasse,
die Schicht und leichtfertig konstruirte Typen, man hat das individuelle Glück
und seine so unendlich verschiednen Voraussetzungen ganz vergessen, und man
ist schließlich zu der ungeheuerlichen und sehr verhängnisvollen Albernheit ge¬
kommen, die Zufriedenheit dem Menschen als Fehler und Unglück anzurechnen,
ja das Wort und den Begriff völlig auszulöschen in dem sonst so gewaltig
angeschwollnen Sprachschatze der modernen Sozialwissenschaft. Mit unverzeih¬
licher Unduldsamkeit und Selbstgerechtigkeit find dabei bis heute alle Mah¬
nungen, von Einseitigkeiten und Übertreibungen abzulassen, zurückgewiesen
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