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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Münchner Plaudereien

vermehre. Du mit deinem Adlerblick wirst das Rätsel lösen." Eine Weile
steht der sinnend, plötzlich nimmt er ihren Kopf zwischen seine Hände, küßt sie
auf Augen und Mund und ruft: "Helene, Göttin, Goldkind, du hast mir das
erlösende Wort auf die Lippen gelegt, ich habe den Punkt gefunden, von dem
aus ich die politische Welt aus den Angeln heben werde. Was du mir an
deinen Sperlingen gezeigt hast, das ist das grausame, eherne Gesetz, das die
Mehrheit der Menschen zu Hunger und Elend verurteilt, und von dem die
Menschheit zu befreien der Sozialismus berufen ist. In diesem Zeichen werde
ich siegen, und dieses Zeichen verdanke ich dir." So also entstand das be¬
rühmte Antwortschreiben des Breslauer Jsraeliten Lasset an das Zentral¬
komitee vom 1. März 1863 und das Gesetz, auf das heute die Tausende von
Arbeitern schwören, während uns der Verfasser in einigen weitern Bemerkungen,
die beherzigt zu werden verdienen, auf den Unterschied von Menschen und
Sperlingen hinweist.

Seit Januar 1867 war Fürst Hohenlohe Minister des Äußern; der Ver¬
fasser, sein warmer Verehrer, wurde gleich darauf sein vortragender Rat. Ende
Februar 1870 wurde das Ministerium Hohenlohe gestürzt, und im Juli brach
der Krieg aus. Der Verfasser bringt über diese ganze Zeit sehr viel Be¬
achtenswertes. Er selbst war schon früh liberal gerichtet und folgte mit
Teilnahme der Bewegung von 1843; für die preußische Hegemonie gewannen
ihn erst die Erfahrungen des Jahres 1866. Die Art, wie nun Bayern ohne
Verletzung des Prager Friedens an Norddeutschland angegliedert werden
könnte (Südbund, Militärkonvention, Zollparlament), beschäftigte seine Gedanken
vielfach; er ist ein guter Bayer und möchte nicht mehr aufgeben, als notwendig
ist. Hohenlohes Verdienste um die deutsche Sache sowohl wie um sein engeres
Vaterland in einer für jeden kleindeutsch gerichteten Bayern schweren Zeit werden
von ihm zugleich mit einer Polemik gegen Sybels sechsten Band in Helles Licht
gesetzt. Oster wird Bismarcks gedacht. Der Verfasser wurde 1868 zu ihm
geschickt und rühmt seine vorurteilsfreie Einsicht auch in die bayrischen An¬
gelegenheiten. Während man sonst in Berlin Zweifel nicht in den guten
Willen, aber in die Leistungsfähigkeit der bayrischen Verbündeten gesetzt Hütte,
sei Bismcirck niemals mißtrauisch gewesen, und sein Verdienst sei es auch, daß
der Kriegsminister von Pranckh nicht durch einen sogenannten national ge¬
sinnten General ersetzt worden wäre. In einer Aufzeichnung giebt er Äuße¬
rungen Bismarcks über die Leiden des Krieges wieder, deren Eindruck ihn
ganz persönlich und menschlich zwänge, Frieden mit Frankreich zu halten,
solange es ginge. Man hat ja ähnliches öfter gelesen, aber es ist von
Wichtigkeit, wenn, wie in unserm Falle, ein bedeutender und sehr selbständiger
Gewährsmann durch solche Zeugnisse bewegt wird. Über die Ereignisse in
Bayern kurz vor dem Ausbruche des französischen Krieges und bis zur Kaiser¬
proklamation, über des Königs Verhalten und den bekannten Brief haben wir


Münchner Plaudereien

vermehre. Du mit deinem Adlerblick wirst das Rätsel lösen." Eine Weile
steht der sinnend, plötzlich nimmt er ihren Kopf zwischen seine Hände, küßt sie
auf Augen und Mund und ruft: „Helene, Göttin, Goldkind, du hast mir das
erlösende Wort auf die Lippen gelegt, ich habe den Punkt gefunden, von dem
aus ich die politische Welt aus den Angeln heben werde. Was du mir an
deinen Sperlingen gezeigt hast, das ist das grausame, eherne Gesetz, das die
Mehrheit der Menschen zu Hunger und Elend verurteilt, und von dem die
Menschheit zu befreien der Sozialismus berufen ist. In diesem Zeichen werde
ich siegen, und dieses Zeichen verdanke ich dir." So also entstand das be¬
rühmte Antwortschreiben des Breslauer Jsraeliten Lasset an das Zentral¬
komitee vom 1. März 1863 und das Gesetz, auf das heute die Tausende von
Arbeitern schwören, während uns der Verfasser in einigen weitern Bemerkungen,
die beherzigt zu werden verdienen, auf den Unterschied von Menschen und
Sperlingen hinweist.

Seit Januar 1867 war Fürst Hohenlohe Minister des Äußern; der Ver¬
fasser, sein warmer Verehrer, wurde gleich darauf sein vortragender Rat. Ende
Februar 1870 wurde das Ministerium Hohenlohe gestürzt, und im Juli brach
der Krieg aus. Der Verfasser bringt über diese ganze Zeit sehr viel Be¬
achtenswertes. Er selbst war schon früh liberal gerichtet und folgte mit
Teilnahme der Bewegung von 1843; für die preußische Hegemonie gewannen
ihn erst die Erfahrungen des Jahres 1866. Die Art, wie nun Bayern ohne
Verletzung des Prager Friedens an Norddeutschland angegliedert werden
könnte (Südbund, Militärkonvention, Zollparlament), beschäftigte seine Gedanken
vielfach; er ist ein guter Bayer und möchte nicht mehr aufgeben, als notwendig
ist. Hohenlohes Verdienste um die deutsche Sache sowohl wie um sein engeres
Vaterland in einer für jeden kleindeutsch gerichteten Bayern schweren Zeit werden
von ihm zugleich mit einer Polemik gegen Sybels sechsten Band in Helles Licht
gesetzt. Oster wird Bismarcks gedacht. Der Verfasser wurde 1868 zu ihm
geschickt und rühmt seine vorurteilsfreie Einsicht auch in die bayrischen An¬
gelegenheiten. Während man sonst in Berlin Zweifel nicht in den guten
Willen, aber in die Leistungsfähigkeit der bayrischen Verbündeten gesetzt Hütte,
sei Bismcirck niemals mißtrauisch gewesen, und sein Verdienst sei es auch, daß
der Kriegsminister von Pranckh nicht durch einen sogenannten national ge¬
sinnten General ersetzt worden wäre. In einer Aufzeichnung giebt er Äuße¬
rungen Bismarcks über die Leiden des Krieges wieder, deren Eindruck ihn
ganz persönlich und menschlich zwänge, Frieden mit Frankreich zu halten,
solange es ginge. Man hat ja ähnliches öfter gelesen, aber es ist von
Wichtigkeit, wenn, wie in unserm Falle, ein bedeutender und sehr selbständiger
Gewährsmann durch solche Zeugnisse bewegt wird. Über die Ereignisse in
Bayern kurz vor dem Ausbruche des französischen Krieges und bis zur Kaiser¬
proklamation, über des Königs Verhalten und den bekannten Brief haben wir


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[0217] Münchner Plaudereien vermehre. Du mit deinem Adlerblick wirst das Rätsel lösen." Eine Weile steht der sinnend, plötzlich nimmt er ihren Kopf zwischen seine Hände, küßt sie auf Augen und Mund und ruft: „Helene, Göttin, Goldkind, du hast mir das erlösende Wort auf die Lippen gelegt, ich habe den Punkt gefunden, von dem aus ich die politische Welt aus den Angeln heben werde. Was du mir an deinen Sperlingen gezeigt hast, das ist das grausame, eherne Gesetz, das die Mehrheit der Menschen zu Hunger und Elend verurteilt, und von dem die Menschheit zu befreien der Sozialismus berufen ist. In diesem Zeichen werde ich siegen, und dieses Zeichen verdanke ich dir." So also entstand das be¬ rühmte Antwortschreiben des Breslauer Jsraeliten Lasset an das Zentral¬ komitee vom 1. März 1863 und das Gesetz, auf das heute die Tausende von Arbeitern schwören, während uns der Verfasser in einigen weitern Bemerkungen, die beherzigt zu werden verdienen, auf den Unterschied von Menschen und Sperlingen hinweist. Seit Januar 1867 war Fürst Hohenlohe Minister des Äußern; der Ver¬ fasser, sein warmer Verehrer, wurde gleich darauf sein vortragender Rat. Ende Februar 1870 wurde das Ministerium Hohenlohe gestürzt, und im Juli brach der Krieg aus. Der Verfasser bringt über diese ganze Zeit sehr viel Be¬ achtenswertes. Er selbst war schon früh liberal gerichtet und folgte mit Teilnahme der Bewegung von 1843; für die preußische Hegemonie gewannen ihn erst die Erfahrungen des Jahres 1866. Die Art, wie nun Bayern ohne Verletzung des Prager Friedens an Norddeutschland angegliedert werden könnte (Südbund, Militärkonvention, Zollparlament), beschäftigte seine Gedanken vielfach; er ist ein guter Bayer und möchte nicht mehr aufgeben, als notwendig ist. Hohenlohes Verdienste um die deutsche Sache sowohl wie um sein engeres Vaterland in einer für jeden kleindeutsch gerichteten Bayern schweren Zeit werden von ihm zugleich mit einer Polemik gegen Sybels sechsten Band in Helles Licht gesetzt. Oster wird Bismarcks gedacht. Der Verfasser wurde 1868 zu ihm geschickt und rühmt seine vorurteilsfreie Einsicht auch in die bayrischen An¬ gelegenheiten. Während man sonst in Berlin Zweifel nicht in den guten Willen, aber in die Leistungsfähigkeit der bayrischen Verbündeten gesetzt Hütte, sei Bismcirck niemals mißtrauisch gewesen, und sein Verdienst sei es auch, daß der Kriegsminister von Pranckh nicht durch einen sogenannten national ge¬ sinnten General ersetzt worden wäre. In einer Aufzeichnung giebt er Äuße¬ rungen Bismarcks über die Leiden des Krieges wieder, deren Eindruck ihn ganz persönlich und menschlich zwänge, Frieden mit Frankreich zu halten, solange es ginge. Man hat ja ähnliches öfter gelesen, aber es ist von Wichtigkeit, wenn, wie in unserm Falle, ein bedeutender und sehr selbständiger Gewährsmann durch solche Zeugnisse bewegt wird. Über die Ereignisse in Bayern kurz vor dem Ausbruche des französischen Krieges und bis zur Kaiser¬ proklamation, über des Königs Verhalten und den bekannten Brief haben wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/217>, abgerufen am 24.07.2024.