Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Über verminderte Zurechnmigsfähigkeit

weisen sei. Diesem würde dadurch die Befugnis erteilt, deu Verurteilten noch
bis auf weiteres in einer für Personen mit verminderter Zurechnungsfähigkeit
bestimmten oder ihr im großen und ganzen entsprechenden Anstalt zurückzuhalten,
bis Garantien sür ein geordnetes Leben außerhalb der Austaltscmfsicht ge¬
wonnen worden sind. Es ist die Ansicht der Mitglieder der Vereinigung,
daß das erkennende Strafgericht die einschlägige Frage dem Vormundschafts-
gericht überweisen soll, damit die Verurteilung selbst den Charakter der Be¬
strafung erhält. Das Vormundschaftsgericht ist die geeignetste Behörde, um
über die für zulässig erklärte Zurückbehaltung zu verfügen, da seine Haupt¬
aufgabe die Fürsorge sür unselbständige Personen ist. Und nach Verbüßung
seiner Strafe soll ein solcher Rückfallsverbrecher, dessen Freilassung ein Unding
ist, in erster Linie Objekt der Fürsorge sein. Es würde der Gerechtigkeit ent¬
sprechen, den zuletzt gedachten Personen, deren Verbrechen ja gesühnt ist, bei
guter Führung den Anstaltsaufenthalt etwas leichter zu gestalten und ihnen
nach und nach ein höheres Maß von Freiheit zu gewähren, wenn sie sich noch
einigermaßen für spätere Entlassung eignen.

Ausländern gegenüber liegt dem Staat eine derartige Fürsorge nach dem
Ablauf der Strafzeit nicht ob. Ihnen gegenüber kommt nur die Sicherung
der Gesellschaft in Betracht. Ausländer würden deshalb in den entsprechenden
Fällen nicht an die fürsorgende Behörde, sondern an die Sicherheitsbehörde,
das ist die Landespolizei, zu überweisen sein, und diese kann dann die Ver¬
weisung aus dem Bundesgebiete verfügen.

Sollten bei der Zurückhaltung psychisch nicht vollständig normaler Nück-
fallsuerbrccher nach ihrer Strafzeit Bedenken wegen der Kosten geltend gemacht
werden, so dürften diese Bedenken deshalb nicht allzuschwer wiegen, weil ein
beträchtlicher Teil der Verpflegungskosten mit den aus der Arbeit der Insassen
gewonnenen Einnahmen gedeckt werden könnte. Niemand dürfte ja zur Arbeit
gezwungen werden; eine mächtige Anregung zur Arbeit würde aber die Aus¬
sicht auf baldige Entlassung bei fleißiger Thätigkeit abgeben, was ja nach
allen Seiten hin gerecht wäre. Verdient ein solcher Mensch, der seine eigent¬
liche Strafzeit abgesessen hat, mehr, als seine Verpflegung dem Staate kostet,
so würde es ihm erlaubt sein müssen, mindestens einen Teil dieses Über¬
schusses für sich oder die Seinen aufzuwenden oder zurückzulegen.

In juristischen Kreisen waren vor einigen Jahren alle psychiatrischen Aus-
sprüche mehr oder weniger in Mißkredit geraten, weil an der geistigen Gesund¬
heit aller Verbrecher im allgemeinen gezweifelt worden war. Es wurden
damals namentlich aus Italien herübergekommne, zum Teil mißverstcmdne
Lehren hin und her besprochen, die von hervorragenden deutscheu Forschern
längst als übertrieben und unrichtig widerlegt worden sind. Den deutschen
Irrenärzten fällt es gar nicht ein, jeden Verbrecher für geistig abnorm zu
halten. Gesunde Menschen, die Unrecht thun, mögen ihre Strafthaten büßen.


Über verminderte Zurechnmigsfähigkeit

weisen sei. Diesem würde dadurch die Befugnis erteilt, deu Verurteilten noch
bis auf weiteres in einer für Personen mit verminderter Zurechnungsfähigkeit
bestimmten oder ihr im großen und ganzen entsprechenden Anstalt zurückzuhalten,
bis Garantien sür ein geordnetes Leben außerhalb der Austaltscmfsicht ge¬
wonnen worden sind. Es ist die Ansicht der Mitglieder der Vereinigung,
daß das erkennende Strafgericht die einschlägige Frage dem Vormundschafts-
gericht überweisen soll, damit die Verurteilung selbst den Charakter der Be¬
strafung erhält. Das Vormundschaftsgericht ist die geeignetste Behörde, um
über die für zulässig erklärte Zurückbehaltung zu verfügen, da seine Haupt¬
aufgabe die Fürsorge sür unselbständige Personen ist. Und nach Verbüßung
seiner Strafe soll ein solcher Rückfallsverbrecher, dessen Freilassung ein Unding
ist, in erster Linie Objekt der Fürsorge sein. Es würde der Gerechtigkeit ent¬
sprechen, den zuletzt gedachten Personen, deren Verbrechen ja gesühnt ist, bei
guter Führung den Anstaltsaufenthalt etwas leichter zu gestalten und ihnen
nach und nach ein höheres Maß von Freiheit zu gewähren, wenn sie sich noch
einigermaßen für spätere Entlassung eignen.

Ausländern gegenüber liegt dem Staat eine derartige Fürsorge nach dem
Ablauf der Strafzeit nicht ob. Ihnen gegenüber kommt nur die Sicherung
der Gesellschaft in Betracht. Ausländer würden deshalb in den entsprechenden
Fällen nicht an die fürsorgende Behörde, sondern an die Sicherheitsbehörde,
das ist die Landespolizei, zu überweisen sein, und diese kann dann die Ver¬
weisung aus dem Bundesgebiete verfügen.

Sollten bei der Zurückhaltung psychisch nicht vollständig normaler Nück-
fallsuerbrccher nach ihrer Strafzeit Bedenken wegen der Kosten geltend gemacht
werden, so dürften diese Bedenken deshalb nicht allzuschwer wiegen, weil ein
beträchtlicher Teil der Verpflegungskosten mit den aus der Arbeit der Insassen
gewonnenen Einnahmen gedeckt werden könnte. Niemand dürfte ja zur Arbeit
gezwungen werden; eine mächtige Anregung zur Arbeit würde aber die Aus¬
sicht auf baldige Entlassung bei fleißiger Thätigkeit abgeben, was ja nach
allen Seiten hin gerecht wäre. Verdient ein solcher Mensch, der seine eigent¬
liche Strafzeit abgesessen hat, mehr, als seine Verpflegung dem Staate kostet,
so würde es ihm erlaubt sein müssen, mindestens einen Teil dieses Über¬
schusses für sich oder die Seinen aufzuwenden oder zurückzulegen.

In juristischen Kreisen waren vor einigen Jahren alle psychiatrischen Aus-
sprüche mehr oder weniger in Mißkredit geraten, weil an der geistigen Gesund¬
heit aller Verbrecher im allgemeinen gezweifelt worden war. Es wurden
damals namentlich aus Italien herübergekommne, zum Teil mißverstcmdne
Lehren hin und her besprochen, die von hervorragenden deutscheu Forschern
längst als übertrieben und unrichtig widerlegt worden sind. Den deutschen
Irrenärzten fällt es gar nicht ein, jeden Verbrecher für geistig abnorm zu
halten. Gesunde Menschen, die Unrecht thun, mögen ihre Strafthaten büßen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0203" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229152"/>
          <fw type="header" place="top"> Über verminderte Zurechnmigsfähigkeit</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_518" prev="#ID_517"> weisen sei. Diesem würde dadurch die Befugnis erteilt, deu Verurteilten noch<lb/>
bis auf weiteres in einer für Personen mit verminderter Zurechnungsfähigkeit<lb/>
bestimmten oder ihr im großen und ganzen entsprechenden Anstalt zurückzuhalten,<lb/>
bis Garantien sür ein geordnetes Leben außerhalb der Austaltscmfsicht ge¬<lb/>
wonnen worden sind. Es ist die Ansicht der Mitglieder der Vereinigung,<lb/>
daß das erkennende Strafgericht die einschlägige Frage dem Vormundschafts-<lb/>
gericht überweisen soll, damit die Verurteilung selbst den Charakter der Be¬<lb/>
strafung erhält. Das Vormundschaftsgericht ist die geeignetste Behörde, um<lb/>
über die für zulässig erklärte Zurückbehaltung zu verfügen, da seine Haupt¬<lb/>
aufgabe die Fürsorge sür unselbständige Personen ist. Und nach Verbüßung<lb/>
seiner Strafe soll ein solcher Rückfallsverbrecher, dessen Freilassung ein Unding<lb/>
ist, in erster Linie Objekt der Fürsorge sein. Es würde der Gerechtigkeit ent¬<lb/>
sprechen, den zuletzt gedachten Personen, deren Verbrechen ja gesühnt ist, bei<lb/>
guter Führung den Anstaltsaufenthalt etwas leichter zu gestalten und ihnen<lb/>
nach und nach ein höheres Maß von Freiheit zu gewähren, wenn sie sich noch<lb/>
einigermaßen für spätere Entlassung eignen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_519"> Ausländern gegenüber liegt dem Staat eine derartige Fürsorge nach dem<lb/>
Ablauf der Strafzeit nicht ob. Ihnen gegenüber kommt nur die Sicherung<lb/>
der Gesellschaft in Betracht. Ausländer würden deshalb in den entsprechenden<lb/>
Fällen nicht an die fürsorgende Behörde, sondern an die Sicherheitsbehörde,<lb/>
das ist die Landespolizei, zu überweisen sein, und diese kann dann die Ver¬<lb/>
weisung aus dem Bundesgebiete verfügen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_520"> Sollten bei der Zurückhaltung psychisch nicht vollständig normaler Nück-<lb/>
fallsuerbrccher nach ihrer Strafzeit Bedenken wegen der Kosten geltend gemacht<lb/>
werden, so dürften diese Bedenken deshalb nicht allzuschwer wiegen, weil ein<lb/>
beträchtlicher Teil der Verpflegungskosten mit den aus der Arbeit der Insassen<lb/>
gewonnenen Einnahmen gedeckt werden könnte. Niemand dürfte ja zur Arbeit<lb/>
gezwungen werden; eine mächtige Anregung zur Arbeit würde aber die Aus¬<lb/>
sicht auf baldige Entlassung bei fleißiger Thätigkeit abgeben, was ja nach<lb/>
allen Seiten hin gerecht wäre. Verdient ein solcher Mensch, der seine eigent¬<lb/>
liche Strafzeit abgesessen hat, mehr, als seine Verpflegung dem Staate kostet,<lb/>
so würde es ihm erlaubt sein müssen, mindestens einen Teil dieses Über¬<lb/>
schusses für sich oder die Seinen aufzuwenden oder zurückzulegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_521" next="#ID_522"> In juristischen Kreisen waren vor einigen Jahren alle psychiatrischen Aus-<lb/>
sprüche mehr oder weniger in Mißkredit geraten, weil an der geistigen Gesund¬<lb/>
heit aller Verbrecher im allgemeinen gezweifelt worden war. Es wurden<lb/>
damals namentlich aus Italien herübergekommne, zum Teil mißverstcmdne<lb/>
Lehren hin und her besprochen, die von hervorragenden deutscheu Forschern<lb/>
längst als übertrieben und unrichtig widerlegt worden sind. Den deutschen<lb/>
Irrenärzten fällt es gar nicht ein, jeden Verbrecher für geistig abnorm zu<lb/>
halten. Gesunde Menschen, die Unrecht thun, mögen ihre Strafthaten büßen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0203] Über verminderte Zurechnmigsfähigkeit weisen sei. Diesem würde dadurch die Befugnis erteilt, deu Verurteilten noch bis auf weiteres in einer für Personen mit verminderter Zurechnungsfähigkeit bestimmten oder ihr im großen und ganzen entsprechenden Anstalt zurückzuhalten, bis Garantien sür ein geordnetes Leben außerhalb der Austaltscmfsicht ge¬ wonnen worden sind. Es ist die Ansicht der Mitglieder der Vereinigung, daß das erkennende Strafgericht die einschlägige Frage dem Vormundschafts- gericht überweisen soll, damit die Verurteilung selbst den Charakter der Be¬ strafung erhält. Das Vormundschaftsgericht ist die geeignetste Behörde, um über die für zulässig erklärte Zurückbehaltung zu verfügen, da seine Haupt¬ aufgabe die Fürsorge sür unselbständige Personen ist. Und nach Verbüßung seiner Strafe soll ein solcher Rückfallsverbrecher, dessen Freilassung ein Unding ist, in erster Linie Objekt der Fürsorge sein. Es würde der Gerechtigkeit ent¬ sprechen, den zuletzt gedachten Personen, deren Verbrechen ja gesühnt ist, bei guter Führung den Anstaltsaufenthalt etwas leichter zu gestalten und ihnen nach und nach ein höheres Maß von Freiheit zu gewähren, wenn sie sich noch einigermaßen für spätere Entlassung eignen. Ausländern gegenüber liegt dem Staat eine derartige Fürsorge nach dem Ablauf der Strafzeit nicht ob. Ihnen gegenüber kommt nur die Sicherung der Gesellschaft in Betracht. Ausländer würden deshalb in den entsprechenden Fällen nicht an die fürsorgende Behörde, sondern an die Sicherheitsbehörde, das ist die Landespolizei, zu überweisen sein, und diese kann dann die Ver¬ weisung aus dem Bundesgebiete verfügen. Sollten bei der Zurückhaltung psychisch nicht vollständig normaler Nück- fallsuerbrccher nach ihrer Strafzeit Bedenken wegen der Kosten geltend gemacht werden, so dürften diese Bedenken deshalb nicht allzuschwer wiegen, weil ein beträchtlicher Teil der Verpflegungskosten mit den aus der Arbeit der Insassen gewonnenen Einnahmen gedeckt werden könnte. Niemand dürfte ja zur Arbeit gezwungen werden; eine mächtige Anregung zur Arbeit würde aber die Aus¬ sicht auf baldige Entlassung bei fleißiger Thätigkeit abgeben, was ja nach allen Seiten hin gerecht wäre. Verdient ein solcher Mensch, der seine eigent¬ liche Strafzeit abgesessen hat, mehr, als seine Verpflegung dem Staate kostet, so würde es ihm erlaubt sein müssen, mindestens einen Teil dieses Über¬ schusses für sich oder die Seinen aufzuwenden oder zurückzulegen. In juristischen Kreisen waren vor einigen Jahren alle psychiatrischen Aus- sprüche mehr oder weniger in Mißkredit geraten, weil an der geistigen Gesund¬ heit aller Verbrecher im allgemeinen gezweifelt worden war. Es wurden damals namentlich aus Italien herübergekommne, zum Teil mißverstcmdne Lehren hin und her besprochen, die von hervorragenden deutscheu Forschern längst als übertrieben und unrichtig widerlegt worden sind. Den deutschen Irrenärzten fällt es gar nicht ein, jeden Verbrecher für geistig abnorm zu halten. Gesunde Menschen, die Unrecht thun, mögen ihre Strafthaten büßen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/203
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/203>, abgerufen am 24.07.2024.