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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Über verminderte Zurechnungsfähigkeit

fangnenanstalt zu verbüßen. Ein bei der That jedoch wenig Zurechnungs¬
fähiger würde auch nach der Heilung in der mildern Anstalt zu bleiben haben.

Jeder Richter, jeder Verwaltungsbeamte, jeder irreucirzliche Sachverständige
und jeder Gefängnisarzt kennt nun eine nicht geringe Anzahl unverbesserlicher
Rückfallsverbrecher. Diese Sorte von Menschen pflegt fast unzähligemale be¬
straft zu werden, ihre Strafverzeichnisfe füllen ganze Seiten aus. Bei den
einen handelt es sich meist um Diebstahl, Landstreicher, Betteln, Beamten¬
beleidigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt, bei den andern um
Körperverletzung, Sittlichkeitsverbrechen, Brandstiftungen oder andres mehr.
Eine kurze Zeit nach ihrer jedesmaligen Entlassung geht es, dann werden sie
von neuem rückfällig und werden zu immer längern und schwerern Strafen
verurteilt. Viele von ihnen bringen eine bedeutend größere Zeit des Lebens
hinter Schloß und Riegel als in der Freiheit zu. Von diesen Rückfallsver¬
brechern gehören nicht wenige ausgesprochen zu den Personen, die an einer
Störung der Geistesthätigkeit leiden, wodurch die freie Willensbestimmung nicht
völlig aufgehoben, aber doch bedeutend beschränkt ist. Viele dieser Rückfalls¬
verbrecher sind schwachsinnige, oder abnorm reizbare, oder sexuell perverse, oder
durch erbliche Belastung entartete Personen. Viele von ihnen sind epileptische
Nervenkranke, deren Krampfanfälle vielleicht selten sind oder in schwer erkenn¬
barer Weise auftreten; viele von ihnen haben ihr Nervensystem durch Trunk
zu Grunde gerichtet. Von den Trinkern im allgemeinen soll übrigens in diesen
Zeilen nicht gesprochen werden; sind sie doch in vieler Beziehung anders zu
beurteilen und anders zu behandeln als die weniger zurechnungsfähigen Personen.

Die Mitglieder der forensisch-psychiatrischen Vereinigung zu Dresden
haben auch überlegt, wie dem Gebaren dieser psychopathischen Rückfallsver¬
brecher zu ihrem eignen und andrer Nutzen zu steuern sei, und möchten
namentlich darauf aufmerksam machen, daß die Betreffenden in den geordneten
Verhältnissen einer geschlossenen Anstalt oft gar nicht so übel sind, in der
Freiheit jedoch großen Schaden anstiften. Es ist doch ganz gewiß widersinnig,
solche Leute immer wieder auf freien Fuß zu setzen, die durch wiederholte Be¬
strafungen gerechten Anlaß zu der Befürchtung gegeben haben, daß sie nach
Verbüßung der erkannten Strafe immer weitere Strafthaten begehen werden.
Die allgemeine Ordnung und Sicherheit macht es nötig, daß hier etwas
energisch vorgegangen wird, nicht gegen alle, aber gegen eine Anzahl, bei denen
die gedachte Störung dauernd ist oder der Natur ihrer Krankheit entsprechend
Periodisch wiederkehrt. Es bedarf hier besondrer Bestimmungen, nach denen
die Entlassung jener Leute in die Freiheit so lange Zeit aufgeschoben werden
kann, als die Befürchtung fortbesteht, daß sie weitere Strafthaten begehen
werden. Zugleich neben der Verurteilung zu einer in gemilderter Weise zu
verbüßenden Freiheitsstrafe möchte in solchen Fällen beschlossen werden, daß der
Verurteilte nach dem Ablauf der Strafzeit dem Vormundschaftsgericht zu über-


Über verminderte Zurechnungsfähigkeit

fangnenanstalt zu verbüßen. Ein bei der That jedoch wenig Zurechnungs¬
fähiger würde auch nach der Heilung in der mildern Anstalt zu bleiben haben.

Jeder Richter, jeder Verwaltungsbeamte, jeder irreucirzliche Sachverständige
und jeder Gefängnisarzt kennt nun eine nicht geringe Anzahl unverbesserlicher
Rückfallsverbrecher. Diese Sorte von Menschen pflegt fast unzähligemale be¬
straft zu werden, ihre Strafverzeichnisfe füllen ganze Seiten aus. Bei den
einen handelt es sich meist um Diebstahl, Landstreicher, Betteln, Beamten¬
beleidigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt, bei den andern um
Körperverletzung, Sittlichkeitsverbrechen, Brandstiftungen oder andres mehr.
Eine kurze Zeit nach ihrer jedesmaligen Entlassung geht es, dann werden sie
von neuem rückfällig und werden zu immer längern und schwerern Strafen
verurteilt. Viele von ihnen bringen eine bedeutend größere Zeit des Lebens
hinter Schloß und Riegel als in der Freiheit zu. Von diesen Rückfallsver¬
brechern gehören nicht wenige ausgesprochen zu den Personen, die an einer
Störung der Geistesthätigkeit leiden, wodurch die freie Willensbestimmung nicht
völlig aufgehoben, aber doch bedeutend beschränkt ist. Viele dieser Rückfalls¬
verbrecher sind schwachsinnige, oder abnorm reizbare, oder sexuell perverse, oder
durch erbliche Belastung entartete Personen. Viele von ihnen sind epileptische
Nervenkranke, deren Krampfanfälle vielleicht selten sind oder in schwer erkenn¬
barer Weise auftreten; viele von ihnen haben ihr Nervensystem durch Trunk
zu Grunde gerichtet. Von den Trinkern im allgemeinen soll übrigens in diesen
Zeilen nicht gesprochen werden; sind sie doch in vieler Beziehung anders zu
beurteilen und anders zu behandeln als die weniger zurechnungsfähigen Personen.

Die Mitglieder der forensisch-psychiatrischen Vereinigung zu Dresden
haben auch überlegt, wie dem Gebaren dieser psychopathischen Rückfallsver¬
brecher zu ihrem eignen und andrer Nutzen zu steuern sei, und möchten
namentlich darauf aufmerksam machen, daß die Betreffenden in den geordneten
Verhältnissen einer geschlossenen Anstalt oft gar nicht so übel sind, in der
Freiheit jedoch großen Schaden anstiften. Es ist doch ganz gewiß widersinnig,
solche Leute immer wieder auf freien Fuß zu setzen, die durch wiederholte Be¬
strafungen gerechten Anlaß zu der Befürchtung gegeben haben, daß sie nach
Verbüßung der erkannten Strafe immer weitere Strafthaten begehen werden.
Die allgemeine Ordnung und Sicherheit macht es nötig, daß hier etwas
energisch vorgegangen wird, nicht gegen alle, aber gegen eine Anzahl, bei denen
die gedachte Störung dauernd ist oder der Natur ihrer Krankheit entsprechend
Periodisch wiederkehrt. Es bedarf hier besondrer Bestimmungen, nach denen
die Entlassung jener Leute in die Freiheit so lange Zeit aufgeschoben werden
kann, als die Befürchtung fortbesteht, daß sie weitere Strafthaten begehen
werden. Zugleich neben der Verurteilung zu einer in gemilderter Weise zu
verbüßenden Freiheitsstrafe möchte in solchen Fällen beschlossen werden, daß der
Verurteilte nach dem Ablauf der Strafzeit dem Vormundschaftsgericht zu über-


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[0202] Über verminderte Zurechnungsfähigkeit fangnenanstalt zu verbüßen. Ein bei der That jedoch wenig Zurechnungs¬ fähiger würde auch nach der Heilung in der mildern Anstalt zu bleiben haben. Jeder Richter, jeder Verwaltungsbeamte, jeder irreucirzliche Sachverständige und jeder Gefängnisarzt kennt nun eine nicht geringe Anzahl unverbesserlicher Rückfallsverbrecher. Diese Sorte von Menschen pflegt fast unzähligemale be¬ straft zu werden, ihre Strafverzeichnisfe füllen ganze Seiten aus. Bei den einen handelt es sich meist um Diebstahl, Landstreicher, Betteln, Beamten¬ beleidigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt, bei den andern um Körperverletzung, Sittlichkeitsverbrechen, Brandstiftungen oder andres mehr. Eine kurze Zeit nach ihrer jedesmaligen Entlassung geht es, dann werden sie von neuem rückfällig und werden zu immer längern und schwerern Strafen verurteilt. Viele von ihnen bringen eine bedeutend größere Zeit des Lebens hinter Schloß und Riegel als in der Freiheit zu. Von diesen Rückfallsver¬ brechern gehören nicht wenige ausgesprochen zu den Personen, die an einer Störung der Geistesthätigkeit leiden, wodurch die freie Willensbestimmung nicht völlig aufgehoben, aber doch bedeutend beschränkt ist. Viele dieser Rückfalls¬ verbrecher sind schwachsinnige, oder abnorm reizbare, oder sexuell perverse, oder durch erbliche Belastung entartete Personen. Viele von ihnen sind epileptische Nervenkranke, deren Krampfanfälle vielleicht selten sind oder in schwer erkenn¬ barer Weise auftreten; viele von ihnen haben ihr Nervensystem durch Trunk zu Grunde gerichtet. Von den Trinkern im allgemeinen soll übrigens in diesen Zeilen nicht gesprochen werden; sind sie doch in vieler Beziehung anders zu beurteilen und anders zu behandeln als die weniger zurechnungsfähigen Personen. Die Mitglieder der forensisch-psychiatrischen Vereinigung zu Dresden haben auch überlegt, wie dem Gebaren dieser psychopathischen Rückfallsver¬ brecher zu ihrem eignen und andrer Nutzen zu steuern sei, und möchten namentlich darauf aufmerksam machen, daß die Betreffenden in den geordneten Verhältnissen einer geschlossenen Anstalt oft gar nicht so übel sind, in der Freiheit jedoch großen Schaden anstiften. Es ist doch ganz gewiß widersinnig, solche Leute immer wieder auf freien Fuß zu setzen, die durch wiederholte Be¬ strafungen gerechten Anlaß zu der Befürchtung gegeben haben, daß sie nach Verbüßung der erkannten Strafe immer weitere Strafthaten begehen werden. Die allgemeine Ordnung und Sicherheit macht es nötig, daß hier etwas energisch vorgegangen wird, nicht gegen alle, aber gegen eine Anzahl, bei denen die gedachte Störung dauernd ist oder der Natur ihrer Krankheit entsprechend Periodisch wiederkehrt. Es bedarf hier besondrer Bestimmungen, nach denen die Entlassung jener Leute in die Freiheit so lange Zeit aufgeschoben werden kann, als die Befürchtung fortbesteht, daß sie weitere Strafthaten begehen werden. Zugleich neben der Verurteilung zu einer in gemilderter Weise zu verbüßenden Freiheitsstrafe möchte in solchen Fällen beschlossen werden, daß der Verurteilte nach dem Ablauf der Strafzeit dem Vormundschaftsgericht zu über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/202>, abgerufen am 12.12.2024.