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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Über verminderte Zurechnungsfähigkeit

leiten in den Gefängnissen einrichten, so würde es nicht ausführbar sein, die
angedeutete psychologische Vehandlungsweise bei einem Teil der Gefängnisinsassen
anzuwenden, dem andern, nicht psychopathischen Teil aber geringere Rücksicht
zu teil werden zu lassen. Hätte man besondre Anstalten für den besprochnen
Zweck, so würde man auch weniger speziell vorgebildete Ärzte, ein kleineres,
im ärztlichen Sinne handelndes Personal brauchen. Ich kann nicht übersehen,
wieviel weniger Zurechnungsfähige in einem Lande wie dem Königreich Sachsen
zur Zeit in Zuchthäusern und Gefängnissen untergebracht sind. Ich bin aber
überzeugt, daß genug da sind, um eine Anstalt recht wohl damit zu begründen.
Allzuviel Insassen dürfte die gedachte Anstalt übrigens gar nicht haben, weil
die leitenden Persönlichkeiten sie dann nicht zu übersehen vermöchten und ge¬
wissenhaft kontrolliren könnten, ob die nötige individualisirende Behandlung
thatsächlich ausgeführt wird.

Auch noch ein andrer Grund würde für besondre Anstalten sprechen, der
nämlich, daß sich mit dem Strafaufenthalt in diesen Aufsichtsanstalten der
Begriff geringrer Entehrung verbindet. Das Ansehen eines Menschen, der in
einem Gefängnis gewesen ist, ist doch für lange Zeit, wenn nicht für immer,
in der öffentlichen Meinung ruinirt. Es wird ihm auch nicht zur Empfehlung
dienen, wenn bekannt wird, daß er in einer der zu gründenden Anstalten ein¬
gesperrt war. Immerhin werden Leute, die die Sachlage kennen, milder ur¬
teilen. Auch der Ruf der unschuldigen Angehörigen eines in einer solchen
Aufsichtsanstalt untergebrachten Verbrechers wird in den Augen vieler weniger
leiden, als wie es bedauernswerterweise der Fall ist, wenn ein Familienglied
im gewöhnlichen Gefängnisse sitzt. Nach und nach würde sich in der Bevölke¬
rung das richtige Urteil von der Bedeutung derartiger Bestrafung schon ein¬
bürgern.

Wir haben bis jetzt nur von der mildern Beurteilung und Bestrafung
derartiger wenig zurechnungsfähiger Personen gesprochen, die zu der Zeit geistig
abnorm waren, wo sie die betreffende strafbare Handlung begingen. Aber auch
bei den Leuten, die erst nach der betreffenden That in einen entsprechenden
psychopathischen Zustand geraten sind, ist gewiß eine mildere Strafvollziehung
angezeigt. Gar nicht so selten stellt sich eine leichte psychische Veränderung
schon während der Untersuchungshaft ein, häufiger entwickelt sie sich erst
während der Strafvollstreckung. In beiden Fällen gehören die Erkrankten
nicht ins Zuchthaus, auch nicht ins gewöhnliche Gefängnis. Steht nicht
baldige Wiederherstellung der Gesundheit in Aussicht, so möchten auch sie in
besondre Abteilungen, besser in die zu gründenden Aufsichtsaustalten überführt
werden, in denen die Disziplin nach den gekennzeichneten, auf Besserung der
Gesundheit berechneten Gesichtspunkten gehandhabt wird. Wird ein solcher in
der Haft oder in der Strafanstalt erkrcmkter Verbrecher dann wieder soweit
gesund, so hätte er den Nest seiner Strafzeit eventuell in der strengern Ge-


Über verminderte Zurechnungsfähigkeit

leiten in den Gefängnissen einrichten, so würde es nicht ausführbar sein, die
angedeutete psychologische Vehandlungsweise bei einem Teil der Gefängnisinsassen
anzuwenden, dem andern, nicht psychopathischen Teil aber geringere Rücksicht
zu teil werden zu lassen. Hätte man besondre Anstalten für den besprochnen
Zweck, so würde man auch weniger speziell vorgebildete Ärzte, ein kleineres,
im ärztlichen Sinne handelndes Personal brauchen. Ich kann nicht übersehen,
wieviel weniger Zurechnungsfähige in einem Lande wie dem Königreich Sachsen
zur Zeit in Zuchthäusern und Gefängnissen untergebracht sind. Ich bin aber
überzeugt, daß genug da sind, um eine Anstalt recht wohl damit zu begründen.
Allzuviel Insassen dürfte die gedachte Anstalt übrigens gar nicht haben, weil
die leitenden Persönlichkeiten sie dann nicht zu übersehen vermöchten und ge¬
wissenhaft kontrolliren könnten, ob die nötige individualisirende Behandlung
thatsächlich ausgeführt wird.

Auch noch ein andrer Grund würde für besondre Anstalten sprechen, der
nämlich, daß sich mit dem Strafaufenthalt in diesen Aufsichtsanstalten der
Begriff geringrer Entehrung verbindet. Das Ansehen eines Menschen, der in
einem Gefängnis gewesen ist, ist doch für lange Zeit, wenn nicht für immer,
in der öffentlichen Meinung ruinirt. Es wird ihm auch nicht zur Empfehlung
dienen, wenn bekannt wird, daß er in einer der zu gründenden Anstalten ein¬
gesperrt war. Immerhin werden Leute, die die Sachlage kennen, milder ur¬
teilen. Auch der Ruf der unschuldigen Angehörigen eines in einer solchen
Aufsichtsanstalt untergebrachten Verbrechers wird in den Augen vieler weniger
leiden, als wie es bedauernswerterweise der Fall ist, wenn ein Familienglied
im gewöhnlichen Gefängnisse sitzt. Nach und nach würde sich in der Bevölke¬
rung das richtige Urteil von der Bedeutung derartiger Bestrafung schon ein¬
bürgern.

Wir haben bis jetzt nur von der mildern Beurteilung und Bestrafung
derartiger wenig zurechnungsfähiger Personen gesprochen, die zu der Zeit geistig
abnorm waren, wo sie die betreffende strafbare Handlung begingen. Aber auch
bei den Leuten, die erst nach der betreffenden That in einen entsprechenden
psychopathischen Zustand geraten sind, ist gewiß eine mildere Strafvollziehung
angezeigt. Gar nicht so selten stellt sich eine leichte psychische Veränderung
schon während der Untersuchungshaft ein, häufiger entwickelt sie sich erst
während der Strafvollstreckung. In beiden Fällen gehören die Erkrankten
nicht ins Zuchthaus, auch nicht ins gewöhnliche Gefängnis. Steht nicht
baldige Wiederherstellung der Gesundheit in Aussicht, so möchten auch sie in
besondre Abteilungen, besser in die zu gründenden Aufsichtsaustalten überführt
werden, in denen die Disziplin nach den gekennzeichneten, auf Besserung der
Gesundheit berechneten Gesichtspunkten gehandhabt wird. Wird ein solcher in
der Haft oder in der Strafanstalt erkrcmkter Verbrecher dann wieder soweit
gesund, so hätte er den Nest seiner Strafzeit eventuell in der strengern Ge-


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[0201] Über verminderte Zurechnungsfähigkeit leiten in den Gefängnissen einrichten, so würde es nicht ausführbar sein, die angedeutete psychologische Vehandlungsweise bei einem Teil der Gefängnisinsassen anzuwenden, dem andern, nicht psychopathischen Teil aber geringere Rücksicht zu teil werden zu lassen. Hätte man besondre Anstalten für den besprochnen Zweck, so würde man auch weniger speziell vorgebildete Ärzte, ein kleineres, im ärztlichen Sinne handelndes Personal brauchen. Ich kann nicht übersehen, wieviel weniger Zurechnungsfähige in einem Lande wie dem Königreich Sachsen zur Zeit in Zuchthäusern und Gefängnissen untergebracht sind. Ich bin aber überzeugt, daß genug da sind, um eine Anstalt recht wohl damit zu begründen. Allzuviel Insassen dürfte die gedachte Anstalt übrigens gar nicht haben, weil die leitenden Persönlichkeiten sie dann nicht zu übersehen vermöchten und ge¬ wissenhaft kontrolliren könnten, ob die nötige individualisirende Behandlung thatsächlich ausgeführt wird. Auch noch ein andrer Grund würde für besondre Anstalten sprechen, der nämlich, daß sich mit dem Strafaufenthalt in diesen Aufsichtsanstalten der Begriff geringrer Entehrung verbindet. Das Ansehen eines Menschen, der in einem Gefängnis gewesen ist, ist doch für lange Zeit, wenn nicht für immer, in der öffentlichen Meinung ruinirt. Es wird ihm auch nicht zur Empfehlung dienen, wenn bekannt wird, daß er in einer der zu gründenden Anstalten ein¬ gesperrt war. Immerhin werden Leute, die die Sachlage kennen, milder ur¬ teilen. Auch der Ruf der unschuldigen Angehörigen eines in einer solchen Aufsichtsanstalt untergebrachten Verbrechers wird in den Augen vieler weniger leiden, als wie es bedauernswerterweise der Fall ist, wenn ein Familienglied im gewöhnlichen Gefängnisse sitzt. Nach und nach würde sich in der Bevölke¬ rung das richtige Urteil von der Bedeutung derartiger Bestrafung schon ein¬ bürgern. Wir haben bis jetzt nur von der mildern Beurteilung und Bestrafung derartiger wenig zurechnungsfähiger Personen gesprochen, die zu der Zeit geistig abnorm waren, wo sie die betreffende strafbare Handlung begingen. Aber auch bei den Leuten, die erst nach der betreffenden That in einen entsprechenden psychopathischen Zustand geraten sind, ist gewiß eine mildere Strafvollziehung angezeigt. Gar nicht so selten stellt sich eine leichte psychische Veränderung schon während der Untersuchungshaft ein, häufiger entwickelt sie sich erst während der Strafvollstreckung. In beiden Fällen gehören die Erkrankten nicht ins Zuchthaus, auch nicht ins gewöhnliche Gefängnis. Steht nicht baldige Wiederherstellung der Gesundheit in Aussicht, so möchten auch sie in besondre Abteilungen, besser in die zu gründenden Aufsichtsaustalten überführt werden, in denen die Disziplin nach den gekennzeichneten, auf Besserung der Gesundheit berechneten Gesichtspunkten gehandhabt wird. Wird ein solcher in der Haft oder in der Strafanstalt erkrcmkter Verbrecher dann wieder soweit gesund, so hätte er den Nest seiner Strafzeit eventuell in der strengern Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/201>, abgerufen am 24.07.2024.