Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

namentlich Gehirnentzündung, Ohrenleiden, Syphilis, aber auch Kopfverletzungen
sind es oft, die die Gesundheit des Gehirns untergraben haben. In der
Regel ist die Konstitutionsveränderung durch eine der erwähnten Ursachen
bewirkt, und irgend eine gemütliche Erregung oder geistige Überanstrengung
hat als Gelegenheitsursache den einzelnen Anfall hervorgerufen. Aber selbst
wenn wir psychisch unnormale Individuen vor uns haben, gehören diese, wenn
sie sich gegen das Strafgesetzbuch vergangen haben, doch nicht unter den vollen
Schutz von § 51 des Neichsstrafgesetzbuchs. Es ist noch ein bedeutender
Unterschied zwischen ihnen und den Personen, die von der Nacht der Geistes¬
krankheit umfangen sind. Personen, die an Gehirnerweichung, Verrücktheit,
Tobsucht, Schwermut, Jugendirresein, Altersschwachsinn oder an epileptischen,
neurasihenischem oder hysterischem Irresein, Morphiumsucht, Alkoholzerrüttung
oder an degenerativer oder traumatischer Psychose leiden, müssen selbstver¬
ständlich nach Recht und Gesetz völlig straffrei ausgehen. Unsre, in das
Grenzgebiet zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit zu rechnenden Menschen
sind schwach gegenüber allen Versuchungen, sie unterliegen jeder Verführung
viel leichter als Leute mit rüstigem Gehirn. Aber sie brauchten nicht zu
unterliegen, wenn sie ihre schwache Kraft mehr zusammennehmen würden. Sie
vermögen die Folgen ihrer Handlungen vorauszusehen.

Natürlich kommen nicht alle psychopathisch minderwertigen Personen mit
dem Strafgesetzbuch in Konflikt. Viele von ihnen führen den schweren Kampf
gegen allerlei Anfechtung mit gutem Erfolg. Andre aber vergehen sich immer und
immer wieder gegen die Gesetze, weil sie es am guten Willen zum Widerstand
gegen unsittliche Antriebe fehlen lassen, weil sie energielos, leichtsinnig und
Pflichtvergessen sind. Es könnte keine Ordnung und Sicherheit im Lande auf¬
recht erhalten werden, wollte man alle die Missethaten dieser Leute ungestraft
lassen. Die Furcht vor der Strafe ist mitunter noch das einzige, was sie ge¬
legentlich vor gemeinen Verbrechen zurückschreckt; blieben sie mehreremale
straffrei, so würden sie sich das sehr bald merken, und einige von ihnen würden
ihre Krankheit als einen Freibrief für alle möglichen Schlechtigkeiten und
Niederträchtigkeiten betrachten. Ähnliches beobachten wir ja schon bei einer
Anzahl wirklicher Geisteskranker; namentlich solche mit Verrücktheit, Entartungs¬
irresein, Hebephrenie, Manie sündigen innerhalb und außerhalb der Irrenanstalt
nicht so selten und nicht ganz unbewußt auf Kosten ihrer Psychose. Ver¬
brecherische Irre unternehmen oft die widerwärtigsten Handlungen und gehören
meist zu den unangenehmsten Kranken einer Anstalt; selbstverständlich darf es
für sie unter keinen Umständen eine Strafe geben.

Das deutsche Strafgesetzbuch kennt für eine Anzahl von Verbrechen, z. B.
für Unterschlagung, Betrug und gewisse Fälle des Diebstahls, mildernde Um¬
stünde. Die Anrechnung mildernder Umstände ist jedoch nicht für alle gesetz¬
widrigen Handlungen vorgesehen. Bei Mord, bei Brandstiftung, bei Hoch-


namentlich Gehirnentzündung, Ohrenleiden, Syphilis, aber auch Kopfverletzungen
sind es oft, die die Gesundheit des Gehirns untergraben haben. In der
Regel ist die Konstitutionsveränderung durch eine der erwähnten Ursachen
bewirkt, und irgend eine gemütliche Erregung oder geistige Überanstrengung
hat als Gelegenheitsursache den einzelnen Anfall hervorgerufen. Aber selbst
wenn wir psychisch unnormale Individuen vor uns haben, gehören diese, wenn
sie sich gegen das Strafgesetzbuch vergangen haben, doch nicht unter den vollen
Schutz von § 51 des Neichsstrafgesetzbuchs. Es ist noch ein bedeutender
Unterschied zwischen ihnen und den Personen, die von der Nacht der Geistes¬
krankheit umfangen sind. Personen, die an Gehirnerweichung, Verrücktheit,
Tobsucht, Schwermut, Jugendirresein, Altersschwachsinn oder an epileptischen,
neurasihenischem oder hysterischem Irresein, Morphiumsucht, Alkoholzerrüttung
oder an degenerativer oder traumatischer Psychose leiden, müssen selbstver¬
ständlich nach Recht und Gesetz völlig straffrei ausgehen. Unsre, in das
Grenzgebiet zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit zu rechnenden Menschen
sind schwach gegenüber allen Versuchungen, sie unterliegen jeder Verführung
viel leichter als Leute mit rüstigem Gehirn. Aber sie brauchten nicht zu
unterliegen, wenn sie ihre schwache Kraft mehr zusammennehmen würden. Sie
vermögen die Folgen ihrer Handlungen vorauszusehen.

Natürlich kommen nicht alle psychopathisch minderwertigen Personen mit
dem Strafgesetzbuch in Konflikt. Viele von ihnen führen den schweren Kampf
gegen allerlei Anfechtung mit gutem Erfolg. Andre aber vergehen sich immer und
immer wieder gegen die Gesetze, weil sie es am guten Willen zum Widerstand
gegen unsittliche Antriebe fehlen lassen, weil sie energielos, leichtsinnig und
Pflichtvergessen sind. Es könnte keine Ordnung und Sicherheit im Lande auf¬
recht erhalten werden, wollte man alle die Missethaten dieser Leute ungestraft
lassen. Die Furcht vor der Strafe ist mitunter noch das einzige, was sie ge¬
legentlich vor gemeinen Verbrechen zurückschreckt; blieben sie mehreremale
straffrei, so würden sie sich das sehr bald merken, und einige von ihnen würden
ihre Krankheit als einen Freibrief für alle möglichen Schlechtigkeiten und
Niederträchtigkeiten betrachten. Ähnliches beobachten wir ja schon bei einer
Anzahl wirklicher Geisteskranker; namentlich solche mit Verrücktheit, Entartungs¬
irresein, Hebephrenie, Manie sündigen innerhalb und außerhalb der Irrenanstalt
nicht so selten und nicht ganz unbewußt auf Kosten ihrer Psychose. Ver¬
brecherische Irre unternehmen oft die widerwärtigsten Handlungen und gehören
meist zu den unangenehmsten Kranken einer Anstalt; selbstverständlich darf es
für sie unter keinen Umständen eine Strafe geben.

Das deutsche Strafgesetzbuch kennt für eine Anzahl von Verbrechen, z. B.
für Unterschlagung, Betrug und gewisse Fälle des Diebstahls, mildernde Um¬
stünde. Die Anrechnung mildernder Umstände ist jedoch nicht für alle gesetz¬
widrigen Handlungen vorgesehen. Bei Mord, bei Brandstiftung, bei Hoch-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0198" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229147"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_504" prev="#ID_503"> namentlich Gehirnentzündung, Ohrenleiden, Syphilis, aber auch Kopfverletzungen<lb/>
sind es oft, die die Gesundheit des Gehirns untergraben haben. In der<lb/>
Regel ist die Konstitutionsveränderung durch eine der erwähnten Ursachen<lb/>
bewirkt, und irgend eine gemütliche Erregung oder geistige Überanstrengung<lb/>
hat als Gelegenheitsursache den einzelnen Anfall hervorgerufen. Aber selbst<lb/>
wenn wir psychisch unnormale Individuen vor uns haben, gehören diese, wenn<lb/>
sie sich gegen das Strafgesetzbuch vergangen haben, doch nicht unter den vollen<lb/>
Schutz von § 51 des Neichsstrafgesetzbuchs. Es ist noch ein bedeutender<lb/>
Unterschied zwischen ihnen und den Personen, die von der Nacht der Geistes¬<lb/>
krankheit umfangen sind. Personen, die an Gehirnerweichung, Verrücktheit,<lb/>
Tobsucht, Schwermut, Jugendirresein, Altersschwachsinn oder an epileptischen,<lb/>
neurasihenischem oder hysterischem Irresein, Morphiumsucht, Alkoholzerrüttung<lb/>
oder an degenerativer oder traumatischer Psychose leiden, müssen selbstver¬<lb/>
ständlich nach Recht und Gesetz völlig straffrei ausgehen. Unsre, in das<lb/>
Grenzgebiet zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit zu rechnenden Menschen<lb/>
sind schwach gegenüber allen Versuchungen, sie unterliegen jeder Verführung<lb/>
viel leichter als Leute mit rüstigem Gehirn. Aber sie brauchten nicht zu<lb/>
unterliegen, wenn sie ihre schwache Kraft mehr zusammennehmen würden. Sie<lb/>
vermögen die Folgen ihrer Handlungen vorauszusehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_505"> Natürlich kommen nicht alle psychopathisch minderwertigen Personen mit<lb/>
dem Strafgesetzbuch in Konflikt. Viele von ihnen führen den schweren Kampf<lb/>
gegen allerlei Anfechtung mit gutem Erfolg. Andre aber vergehen sich immer und<lb/>
immer wieder gegen die Gesetze, weil sie es am guten Willen zum Widerstand<lb/>
gegen unsittliche Antriebe fehlen lassen, weil sie energielos, leichtsinnig und<lb/>
Pflichtvergessen sind. Es könnte keine Ordnung und Sicherheit im Lande auf¬<lb/>
recht erhalten werden, wollte man alle die Missethaten dieser Leute ungestraft<lb/>
lassen. Die Furcht vor der Strafe ist mitunter noch das einzige, was sie ge¬<lb/>
legentlich vor gemeinen Verbrechen zurückschreckt; blieben sie mehreremale<lb/>
straffrei, so würden sie sich das sehr bald merken, und einige von ihnen würden<lb/>
ihre Krankheit als einen Freibrief für alle möglichen Schlechtigkeiten und<lb/>
Niederträchtigkeiten betrachten. Ähnliches beobachten wir ja schon bei einer<lb/>
Anzahl wirklicher Geisteskranker; namentlich solche mit Verrücktheit, Entartungs¬<lb/>
irresein, Hebephrenie, Manie sündigen innerhalb und außerhalb der Irrenanstalt<lb/>
nicht so selten und nicht ganz unbewußt auf Kosten ihrer Psychose. Ver¬<lb/>
brecherische Irre unternehmen oft die widerwärtigsten Handlungen und gehören<lb/>
meist zu den unangenehmsten Kranken einer Anstalt; selbstverständlich darf es<lb/>
für sie unter keinen Umständen eine Strafe geben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_506" next="#ID_507"> Das deutsche Strafgesetzbuch kennt für eine Anzahl von Verbrechen, z. B.<lb/>
für Unterschlagung, Betrug und gewisse Fälle des Diebstahls, mildernde Um¬<lb/>
stünde. Die Anrechnung mildernder Umstände ist jedoch nicht für alle gesetz¬<lb/>
widrigen Handlungen vorgesehen.  Bei Mord, bei Brandstiftung, bei Hoch-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0198] namentlich Gehirnentzündung, Ohrenleiden, Syphilis, aber auch Kopfverletzungen sind es oft, die die Gesundheit des Gehirns untergraben haben. In der Regel ist die Konstitutionsveränderung durch eine der erwähnten Ursachen bewirkt, und irgend eine gemütliche Erregung oder geistige Überanstrengung hat als Gelegenheitsursache den einzelnen Anfall hervorgerufen. Aber selbst wenn wir psychisch unnormale Individuen vor uns haben, gehören diese, wenn sie sich gegen das Strafgesetzbuch vergangen haben, doch nicht unter den vollen Schutz von § 51 des Neichsstrafgesetzbuchs. Es ist noch ein bedeutender Unterschied zwischen ihnen und den Personen, die von der Nacht der Geistes¬ krankheit umfangen sind. Personen, die an Gehirnerweichung, Verrücktheit, Tobsucht, Schwermut, Jugendirresein, Altersschwachsinn oder an epileptischen, neurasihenischem oder hysterischem Irresein, Morphiumsucht, Alkoholzerrüttung oder an degenerativer oder traumatischer Psychose leiden, müssen selbstver¬ ständlich nach Recht und Gesetz völlig straffrei ausgehen. Unsre, in das Grenzgebiet zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit zu rechnenden Menschen sind schwach gegenüber allen Versuchungen, sie unterliegen jeder Verführung viel leichter als Leute mit rüstigem Gehirn. Aber sie brauchten nicht zu unterliegen, wenn sie ihre schwache Kraft mehr zusammennehmen würden. Sie vermögen die Folgen ihrer Handlungen vorauszusehen. Natürlich kommen nicht alle psychopathisch minderwertigen Personen mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt. Viele von ihnen führen den schweren Kampf gegen allerlei Anfechtung mit gutem Erfolg. Andre aber vergehen sich immer und immer wieder gegen die Gesetze, weil sie es am guten Willen zum Widerstand gegen unsittliche Antriebe fehlen lassen, weil sie energielos, leichtsinnig und Pflichtvergessen sind. Es könnte keine Ordnung und Sicherheit im Lande auf¬ recht erhalten werden, wollte man alle die Missethaten dieser Leute ungestraft lassen. Die Furcht vor der Strafe ist mitunter noch das einzige, was sie ge¬ legentlich vor gemeinen Verbrechen zurückschreckt; blieben sie mehreremale straffrei, so würden sie sich das sehr bald merken, und einige von ihnen würden ihre Krankheit als einen Freibrief für alle möglichen Schlechtigkeiten und Niederträchtigkeiten betrachten. Ähnliches beobachten wir ja schon bei einer Anzahl wirklicher Geisteskranker; namentlich solche mit Verrücktheit, Entartungs¬ irresein, Hebephrenie, Manie sündigen innerhalb und außerhalb der Irrenanstalt nicht so selten und nicht ganz unbewußt auf Kosten ihrer Psychose. Ver¬ brecherische Irre unternehmen oft die widerwärtigsten Handlungen und gehören meist zu den unangenehmsten Kranken einer Anstalt; selbstverständlich darf es für sie unter keinen Umständen eine Strafe geben. Das deutsche Strafgesetzbuch kennt für eine Anzahl von Verbrechen, z. B. für Unterschlagung, Betrug und gewisse Fälle des Diebstahls, mildernde Um¬ stünde. Die Anrechnung mildernder Umstände ist jedoch nicht für alle gesetz¬ widrigen Handlungen vorgesehen. Bei Mord, bei Brandstiftung, bei Hoch-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/198
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/198>, abgerufen am 04.07.2024.