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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die strategische Bedeutung der schweizerischen Festungswerke

von dem Alpenlande aus, gleichsam aus dem Herzen Europas, Unternehmungen
vorbereitet und geleitet werden, die die Ruhe und Sicherheit andrer Staaten
gefährden. Das Asylrecht, das die Schweiz politischen Sündern gewähren
darf, hält man dort noch vielfach für ein unantastbares Gut; seitdem aber die
schweizerische Gastfreundschaft von äußerst anrüchigen Elementen genossen und
auf gefährliche Art mißbraucht worden ist, ist man in Bern etwas vorsichtiger
geworden und überläßt die Prinzipienreiterei unverantwortlichen Schmeichlern
der Menge. Eine loyale Haltung des Bundes deu Mächten gegenüber wirkt
jedenfalls ebensoviel wie einige Schweizer Regimenter. Trotz dieser besondern
Lage des Landes, die eine wirksame militärische Aktion von vornherein in
Zweifel zieht, hat es ein von Jahr zu Jahr wachsendes Militärbudget aus¬
zuweisen, das den Militäretat mancher europäischen Großmacht im Verhältnis
übertrifft und wenigstens hinter unserm deutschen nicht zurückbleibt. So be¬
trugen, um nur ein schlagendes Beispiel anzuführen, 1892 die vom Bunde zu
zahlenden Summen allein sechsunddreißig Millionen Franken ohne Nachtragö-
kredite und Beisteuern der Kantone, Gemeinden und des einzelnen Wehr¬
mannes.

Woher mag nur diese fieberhafte Thätigkeit rühren, die unsre Nachbarn
jenseits des Schwäbischen Meeres auf militärischem Gebiete entwickeln? Ein
hervorragender schweizerischer Militär selbst hat einmal gesagt: "Unsre Neu¬
tralität ist genau soviel wert als unsre Bajonette." Das heißt mit andern
Worten, "wenn wir sie uicht verteidigen können, wird sie niemand respektiren."
Das hat die Helvetia während der französischen Revolutionskriege und zur Zeit
des ersten Napoleon bitter erfahren. Infolge ihrer ungenügenden Wehrverhält¬
nisse war damals jeder Gedanke an Widerstand ausgeschlossen. Die Kontribu¬
tionen und Vrandschatzungen betrugen in den drei Jahren von 1798 bis 1801
gegen hundertsechzig Millionen Franken, wobei man den weit höhern Geld¬
wert und die geringere Bevölkerungsziffer wie den geringern Umfang des
Landes in jener Zeit in Rechnung ziehen muß. Im Kriege von 1870/71
bewahrten die deutschen Siege den eidgenössischen Boden vor einer bewaffneten
französischen Invasion; es galt, nur die Armee Bourbackis, einen völlig kriegs¬
unbrauchbaren, halb verhungerten Menschenhaufen von achtzigtausend Mann
vom Untergange zu retten und die gegen Frankreich gelegnen Grenzdistrikte
vor Exzessen einzelner Banden zu sichern. Über zwanzigtausend gut bewaffnete
und schlagfertige Schweizer waren aber doch zur Lösung dieser nicht gerade
dankbaren Aufgabe notwendig, und man muß die Selbstentsagung des Generals
Herzog bewundern, der allen Anfeindungen des Parlamentarismus und des
militärischen Dilettantismus zum Trotze diese Aufgabe löste. Der Zweck aller
schweizerischen Rüstungen ist nur die Defensive, keiner bewaffneten Macht den
Durchmarsch durch das Land zu gewähren, oder auch nur in Grenzdistrikten
einen Augenblick eine solche zu dulden, bestimmte Neutralität zu wahren und


Die strategische Bedeutung der schweizerischen Festungswerke

von dem Alpenlande aus, gleichsam aus dem Herzen Europas, Unternehmungen
vorbereitet und geleitet werden, die die Ruhe und Sicherheit andrer Staaten
gefährden. Das Asylrecht, das die Schweiz politischen Sündern gewähren
darf, hält man dort noch vielfach für ein unantastbares Gut; seitdem aber die
schweizerische Gastfreundschaft von äußerst anrüchigen Elementen genossen und
auf gefährliche Art mißbraucht worden ist, ist man in Bern etwas vorsichtiger
geworden und überläßt die Prinzipienreiterei unverantwortlichen Schmeichlern
der Menge. Eine loyale Haltung des Bundes deu Mächten gegenüber wirkt
jedenfalls ebensoviel wie einige Schweizer Regimenter. Trotz dieser besondern
Lage des Landes, die eine wirksame militärische Aktion von vornherein in
Zweifel zieht, hat es ein von Jahr zu Jahr wachsendes Militärbudget aus¬
zuweisen, das den Militäretat mancher europäischen Großmacht im Verhältnis
übertrifft und wenigstens hinter unserm deutschen nicht zurückbleibt. So be¬
trugen, um nur ein schlagendes Beispiel anzuführen, 1892 die vom Bunde zu
zahlenden Summen allein sechsunddreißig Millionen Franken ohne Nachtragö-
kredite und Beisteuern der Kantone, Gemeinden und des einzelnen Wehr¬
mannes.

Woher mag nur diese fieberhafte Thätigkeit rühren, die unsre Nachbarn
jenseits des Schwäbischen Meeres auf militärischem Gebiete entwickeln? Ein
hervorragender schweizerischer Militär selbst hat einmal gesagt: „Unsre Neu¬
tralität ist genau soviel wert als unsre Bajonette." Das heißt mit andern
Worten, „wenn wir sie uicht verteidigen können, wird sie niemand respektiren."
Das hat die Helvetia während der französischen Revolutionskriege und zur Zeit
des ersten Napoleon bitter erfahren. Infolge ihrer ungenügenden Wehrverhält¬
nisse war damals jeder Gedanke an Widerstand ausgeschlossen. Die Kontribu¬
tionen und Vrandschatzungen betrugen in den drei Jahren von 1798 bis 1801
gegen hundertsechzig Millionen Franken, wobei man den weit höhern Geld¬
wert und die geringere Bevölkerungsziffer wie den geringern Umfang des
Landes in jener Zeit in Rechnung ziehen muß. Im Kriege von 1870/71
bewahrten die deutschen Siege den eidgenössischen Boden vor einer bewaffneten
französischen Invasion; es galt, nur die Armee Bourbackis, einen völlig kriegs¬
unbrauchbaren, halb verhungerten Menschenhaufen von achtzigtausend Mann
vom Untergange zu retten und die gegen Frankreich gelegnen Grenzdistrikte
vor Exzessen einzelner Banden zu sichern. Über zwanzigtausend gut bewaffnete
und schlagfertige Schweizer waren aber doch zur Lösung dieser nicht gerade
dankbaren Aufgabe notwendig, und man muß die Selbstentsagung des Generals
Herzog bewundern, der allen Anfeindungen des Parlamentarismus und des
militärischen Dilettantismus zum Trotze diese Aufgabe löste. Der Zweck aller
schweizerischen Rüstungen ist nur die Defensive, keiner bewaffneten Macht den
Durchmarsch durch das Land zu gewähren, oder auch nur in Grenzdistrikten
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/187>, abgerufen am 04.07.2024.