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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Rirchenpolitik und Zentrum

durchfechten, ohne Furcht vor Gespenstern." Eine ähnliche Auffassung liegt
auch dem an Gedanken und Beobachtungen reichen Aufsatz zu Grunde, in dem
Gustav Rümelin nach beinahe zwanzigjährigen Schweigen seine vielgeschmähte
Politik als württembergischer Kultusminister gerechtfertigt hat (Reden und
Aufsätze II, S. 205 ff.).

Daß die geschilderte Kenntnis der katholischen Kirche unter uns Prote¬
stanten mehr als vereinzelt vorkomme, wird nicht behauptet werden können,
noch weniger, daß sie als Grundlage für das Verhältnis zur katholischen
Kirche gelte. Ihr Aufkommen und ihre Verbreitung sind schon durch den
städtischen Zug verhindert worden, der unsre geistige und politische Entwicklung
kennzeichnet. Dieser prägt sich schon lauge aus, und kein Teil Deutschlands
ist, trotz gewisser Gradunterschiede, davon ausgenommen. Es wirken aber
noch andre Hindernisse mit, der katholischen Kirche näher zu treten und ihrer
Wirksamkeit gerecht zu werden. Davon sind hier zwei zu erwähnen. Das
erste Hindernis, mit dem städtischen Zug unsrer Lebensanschauung innerlich
verwandt und ebenso wenig landschaftlich beschränkt, ist die "moderne" Bildung
unsrer sogenannten bessern Klassen. Von den einen wird sie ebenso über¬
schwenglich gepriesen wie von den andern, der Minderzahl, leidenschaftlich an¬
geklagt. Wir führen ein besonders schroffes Urteil an. Lagarde schreibt an
einer Stelle seiner Deutschen Schriften: "Unsre Jugend beherrscht keine Sprache,
sie kennt keine Litteratur, sie hat nicht einmal die Hauptwerke unsrer großen
Dichter wirklich in Ruhe gelesen und zu verstehen gesucht: aber sie hat die
Quintessenz alles dessen, was je gewesen ist, in der Form von Urteilen zuge¬
fertigt erhalten. . ." Wir denken, das Ganze in Betracht gezogen, milder,
aber der letzte Satz des Lagardeschen Urteils ist unsers Erachtens unanfecht¬
bar, und er trifft, was vor allem die Anführung rechtfertigt, die Sache, um
die es sich hier handelt- Wer über alles fertige Urteile zugetragen erhalten
und in sich aufgenommen hat, ist wenig geneigt, zu beobachten, und büßt auch
an der Fähigkeit dazu ein. Beobachtung aber, eifrige, unmittelbare, mit Ver¬
ständnis und vorurteilslos geübte Beobachtung ist das erste Erfordernis dessen,
der sich mit dem Leben der katholischen Kirche vertraut machen will. Ihre Macht
über die Gemüter, ihre psychische Macht erschließt sich nur dem, der psycho¬
logisch verfährt; mit den dialektischen Mitteln der modernen Bildung kann
man über das kirchliche Leben wohl sprechen und absprechen, mit "Angefertigten"
Argumenten und mit eignen, aber hineindringen kann man nicht, das Thor
bleibt verschlossen -- für jeden, der nicht aus der gewohnten Geistesbahn un¬
ierte und nicht zugleich das Abc jedes neuen Verständnisses, eben die Be¬
obachtung, zu Hilfe nimmt. Das zweite Hindernis des rechten Verständnisses
findet sich erfahrungsmäßig häufiger bei den Bewohnern der ältern Teile
Preußens als sonst im protestantischen Deutschland. Es ist der Mangel an
sozialem Sinn, die Gleichgiltigkeit oder sogar die Abneigung gegen die Ab-


Rirchenpolitik und Zentrum

durchfechten, ohne Furcht vor Gespenstern." Eine ähnliche Auffassung liegt
auch dem an Gedanken und Beobachtungen reichen Aufsatz zu Grunde, in dem
Gustav Rümelin nach beinahe zwanzigjährigen Schweigen seine vielgeschmähte
Politik als württembergischer Kultusminister gerechtfertigt hat (Reden und
Aufsätze II, S. 205 ff.).

Daß die geschilderte Kenntnis der katholischen Kirche unter uns Prote¬
stanten mehr als vereinzelt vorkomme, wird nicht behauptet werden können,
noch weniger, daß sie als Grundlage für das Verhältnis zur katholischen
Kirche gelte. Ihr Aufkommen und ihre Verbreitung sind schon durch den
städtischen Zug verhindert worden, der unsre geistige und politische Entwicklung
kennzeichnet. Dieser prägt sich schon lauge aus, und kein Teil Deutschlands
ist, trotz gewisser Gradunterschiede, davon ausgenommen. Es wirken aber
noch andre Hindernisse mit, der katholischen Kirche näher zu treten und ihrer
Wirksamkeit gerecht zu werden. Davon sind hier zwei zu erwähnen. Das
erste Hindernis, mit dem städtischen Zug unsrer Lebensanschauung innerlich
verwandt und ebenso wenig landschaftlich beschränkt, ist die „moderne" Bildung
unsrer sogenannten bessern Klassen. Von den einen wird sie ebenso über¬
schwenglich gepriesen wie von den andern, der Minderzahl, leidenschaftlich an¬
geklagt. Wir führen ein besonders schroffes Urteil an. Lagarde schreibt an
einer Stelle seiner Deutschen Schriften: „Unsre Jugend beherrscht keine Sprache,
sie kennt keine Litteratur, sie hat nicht einmal die Hauptwerke unsrer großen
Dichter wirklich in Ruhe gelesen und zu verstehen gesucht: aber sie hat die
Quintessenz alles dessen, was je gewesen ist, in der Form von Urteilen zuge¬
fertigt erhalten. . ." Wir denken, das Ganze in Betracht gezogen, milder,
aber der letzte Satz des Lagardeschen Urteils ist unsers Erachtens unanfecht¬
bar, und er trifft, was vor allem die Anführung rechtfertigt, die Sache, um
die es sich hier handelt- Wer über alles fertige Urteile zugetragen erhalten
und in sich aufgenommen hat, ist wenig geneigt, zu beobachten, und büßt auch
an der Fähigkeit dazu ein. Beobachtung aber, eifrige, unmittelbare, mit Ver¬
ständnis und vorurteilslos geübte Beobachtung ist das erste Erfordernis dessen,
der sich mit dem Leben der katholischen Kirche vertraut machen will. Ihre Macht
über die Gemüter, ihre psychische Macht erschließt sich nur dem, der psycho¬
logisch verfährt; mit den dialektischen Mitteln der modernen Bildung kann
man über das kirchliche Leben wohl sprechen und absprechen, mit „Angefertigten"
Argumenten und mit eignen, aber hineindringen kann man nicht, das Thor
bleibt verschlossen — für jeden, der nicht aus der gewohnten Geistesbahn un¬
ierte und nicht zugleich das Abc jedes neuen Verständnisses, eben die Be¬
obachtung, zu Hilfe nimmt. Das zweite Hindernis des rechten Verständnisses
findet sich erfahrungsmäßig häufiger bei den Bewohnern der ältern Teile
Preußens als sonst im protestantischen Deutschland. Es ist der Mangel an
sozialem Sinn, die Gleichgiltigkeit oder sogar die Abneigung gegen die Ab-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/185>, abgerufen am 04.07.2024.