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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Airchenpolitik und Zentrum

geistlichen Seelsorge zu gönnen. In Kopf und Herz zieht die Überzeugung
ein, wie nahe wir Christen der verschiednen Bekenntnisse uns doch stehen, daß
wir in der That zu einem Gott beten. Die Parität wird aus einer toten
Nechtsregel zu selbsterruugnem, festem Bestand des Gemüts. Man lernt ferner
vergleichen und abwägen, denn man sieht auch die audern Mächte des
Menschenlebens an der Arbeit, die sonstigen Gemeinschaften z. V. und den
persönlichen Erwerb; man sieht sie weniger stückweise, unvermittelter und näher
beisammen als in der Stadt. Man nimmt wahr, wie sie sich beeinflussen und
durchdringen, im Guten, aber auch im Schlimmen, und wie auch die Geist¬
lichkeit in das Getriebe hineingezogen wird, wie sie sich, das Individuum und
der Stand, dagegen verhält und verhalten soll. Auch das lernt man begreifen,
daß die hierarchische Ordnung für den katholischen Christen ein Heiligtum ist,
merkt aber zugleich, daß sich diese Heilighaltung nicht ans Übergriffe ins Welt¬
liche erstreckt, daß gerade der gute Katholik dagegen sehr eingenommen ist, von
welcher Stufe des geistlichen Amts die Übergriffe ausgehen mögen, daß gerade
er von politisirenden und agitireuden -- auf deutsch: setzenden -- Geistlichen
nichts wissen will. Wird man doch sogar in Elsaß-Lothringen auf Katholiken
stoßen, die sich für ihre Person nur mit Selbstüberwindung in die deutsche
Gegenwart finden, aber der Meinung sind, daß die reichslündische Geistlichkeit
durch ihre Politisirerei, durch ihr welsches Gethue die Seelsorge nicht fördere,
nicht Gottes-, sondern Menschenwerk treibe.

Auf diesem Wege gelangt der Beobachter, wenn er zugleich Gesetz und Ge¬
schichte zu Rate zieht, zu einer Auffassung von Kirchcnhoheit, die von der sonst
üblichen abweicht. Sie wird sich sehr schwer in eine feste Formel bringen, eher
beschreiben und allenfalls unischreiben als begrifflich festsetzen und zerlegen lassen,
denn die Ausdehnung dieser Kirchenhoheit muß nach Zeit und Umständen wechseln
können, und das Hauptgewicht liegt bei ihr mehr in dem, was nach Zeit und
Umständen zu thun oder zu lassen ist, als in der vollkommnen und erschöpfenden
Anweisung, also weniger in der Gesetzgebung als in der Verwaltung. Am meisten
nähert sich dieser Auffassung eine Formulirung, die Emil Kühn in seinen Reichs-
lündischen Zeitfragen Seite 99 aufgestellt hat: "Die richtige Auffassung der
Staatsaufsicht über die katholische Kirche geht nicht auf den Polizeibefehl oder
auf romantisch frömmelnde Macht -- offenbar verdrückt, statt Mache -- aus,
sondern sucht ihr Ziel darin, zwischen der Kirche und den übrigen Mächten
des menschlichen Zusammenlebens im Staate Frieden und Gleichgewicht zu er¬
halten und die Seelsorge fördern zu helfen. Dieses Ziel ist erreichbar, giebt für
Thun und Lassen einen festen Maßstab und kann ebenso wenig zu Kirchen¬
verfolgung wie zu eiteln Liebeswerben führen. Für diese Auffassung ist die
hierarchische Gliederung und Einwirkung etwas Gegebnes, anch als Vermittlerin
aller Zuwendungen, aber nicht so, daß der Staat hinter der Kirche verschwindet.
Streit wird diese Auffassung aufs äußerste vermeiden, aber den aufgenommnen


Airchenpolitik und Zentrum

geistlichen Seelsorge zu gönnen. In Kopf und Herz zieht die Überzeugung
ein, wie nahe wir Christen der verschiednen Bekenntnisse uns doch stehen, daß
wir in der That zu einem Gott beten. Die Parität wird aus einer toten
Nechtsregel zu selbsterruugnem, festem Bestand des Gemüts. Man lernt ferner
vergleichen und abwägen, denn man sieht auch die audern Mächte des
Menschenlebens an der Arbeit, die sonstigen Gemeinschaften z. V. und den
persönlichen Erwerb; man sieht sie weniger stückweise, unvermittelter und näher
beisammen als in der Stadt. Man nimmt wahr, wie sie sich beeinflussen und
durchdringen, im Guten, aber auch im Schlimmen, und wie auch die Geist¬
lichkeit in das Getriebe hineingezogen wird, wie sie sich, das Individuum und
der Stand, dagegen verhält und verhalten soll. Auch das lernt man begreifen,
daß die hierarchische Ordnung für den katholischen Christen ein Heiligtum ist,
merkt aber zugleich, daß sich diese Heilighaltung nicht ans Übergriffe ins Welt¬
liche erstreckt, daß gerade der gute Katholik dagegen sehr eingenommen ist, von
welcher Stufe des geistlichen Amts die Übergriffe ausgehen mögen, daß gerade
er von politisirenden und agitireuden — auf deutsch: setzenden — Geistlichen
nichts wissen will. Wird man doch sogar in Elsaß-Lothringen auf Katholiken
stoßen, die sich für ihre Person nur mit Selbstüberwindung in die deutsche
Gegenwart finden, aber der Meinung sind, daß die reichslündische Geistlichkeit
durch ihre Politisirerei, durch ihr welsches Gethue die Seelsorge nicht fördere,
nicht Gottes-, sondern Menschenwerk treibe.

Auf diesem Wege gelangt der Beobachter, wenn er zugleich Gesetz und Ge¬
schichte zu Rate zieht, zu einer Auffassung von Kirchcnhoheit, die von der sonst
üblichen abweicht. Sie wird sich sehr schwer in eine feste Formel bringen, eher
beschreiben und allenfalls unischreiben als begrifflich festsetzen und zerlegen lassen,
denn die Ausdehnung dieser Kirchenhoheit muß nach Zeit und Umständen wechseln
können, und das Hauptgewicht liegt bei ihr mehr in dem, was nach Zeit und
Umständen zu thun oder zu lassen ist, als in der vollkommnen und erschöpfenden
Anweisung, also weniger in der Gesetzgebung als in der Verwaltung. Am meisten
nähert sich dieser Auffassung eine Formulirung, die Emil Kühn in seinen Reichs-
lündischen Zeitfragen Seite 99 aufgestellt hat: „Die richtige Auffassung der
Staatsaufsicht über die katholische Kirche geht nicht auf den Polizeibefehl oder
auf romantisch frömmelnde Macht — offenbar verdrückt, statt Mache — aus,
sondern sucht ihr Ziel darin, zwischen der Kirche und den übrigen Mächten
des menschlichen Zusammenlebens im Staate Frieden und Gleichgewicht zu er¬
halten und die Seelsorge fördern zu helfen. Dieses Ziel ist erreichbar, giebt für
Thun und Lassen einen festen Maßstab und kann ebenso wenig zu Kirchen¬
verfolgung wie zu eiteln Liebeswerben führen. Für diese Auffassung ist die
hierarchische Gliederung und Einwirkung etwas Gegebnes, anch als Vermittlerin
aller Zuwendungen, aber nicht so, daß der Staat hinter der Kirche verschwindet.
Streit wird diese Auffassung aufs äußerste vermeiden, aber den aufgenommnen


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[0184] Airchenpolitik und Zentrum geistlichen Seelsorge zu gönnen. In Kopf und Herz zieht die Überzeugung ein, wie nahe wir Christen der verschiednen Bekenntnisse uns doch stehen, daß wir in der That zu einem Gott beten. Die Parität wird aus einer toten Nechtsregel zu selbsterruugnem, festem Bestand des Gemüts. Man lernt ferner vergleichen und abwägen, denn man sieht auch die audern Mächte des Menschenlebens an der Arbeit, die sonstigen Gemeinschaften z. V. und den persönlichen Erwerb; man sieht sie weniger stückweise, unvermittelter und näher beisammen als in der Stadt. Man nimmt wahr, wie sie sich beeinflussen und durchdringen, im Guten, aber auch im Schlimmen, und wie auch die Geist¬ lichkeit in das Getriebe hineingezogen wird, wie sie sich, das Individuum und der Stand, dagegen verhält und verhalten soll. Auch das lernt man begreifen, daß die hierarchische Ordnung für den katholischen Christen ein Heiligtum ist, merkt aber zugleich, daß sich diese Heilighaltung nicht ans Übergriffe ins Welt¬ liche erstreckt, daß gerade der gute Katholik dagegen sehr eingenommen ist, von welcher Stufe des geistlichen Amts die Übergriffe ausgehen mögen, daß gerade er von politisirenden und agitireuden — auf deutsch: setzenden — Geistlichen nichts wissen will. Wird man doch sogar in Elsaß-Lothringen auf Katholiken stoßen, die sich für ihre Person nur mit Selbstüberwindung in die deutsche Gegenwart finden, aber der Meinung sind, daß die reichslündische Geistlichkeit durch ihre Politisirerei, durch ihr welsches Gethue die Seelsorge nicht fördere, nicht Gottes-, sondern Menschenwerk treibe. Auf diesem Wege gelangt der Beobachter, wenn er zugleich Gesetz und Ge¬ schichte zu Rate zieht, zu einer Auffassung von Kirchcnhoheit, die von der sonst üblichen abweicht. Sie wird sich sehr schwer in eine feste Formel bringen, eher beschreiben und allenfalls unischreiben als begrifflich festsetzen und zerlegen lassen, denn die Ausdehnung dieser Kirchenhoheit muß nach Zeit und Umständen wechseln können, und das Hauptgewicht liegt bei ihr mehr in dem, was nach Zeit und Umständen zu thun oder zu lassen ist, als in der vollkommnen und erschöpfenden Anweisung, also weniger in der Gesetzgebung als in der Verwaltung. Am meisten nähert sich dieser Auffassung eine Formulirung, die Emil Kühn in seinen Reichs- lündischen Zeitfragen Seite 99 aufgestellt hat: „Die richtige Auffassung der Staatsaufsicht über die katholische Kirche geht nicht auf den Polizeibefehl oder auf romantisch frömmelnde Macht — offenbar verdrückt, statt Mache — aus, sondern sucht ihr Ziel darin, zwischen der Kirche und den übrigen Mächten des menschlichen Zusammenlebens im Staate Frieden und Gleichgewicht zu er¬ halten und die Seelsorge fördern zu helfen. Dieses Ziel ist erreichbar, giebt für Thun und Lassen einen festen Maßstab und kann ebenso wenig zu Kirchen¬ verfolgung wie zu eiteln Liebeswerben führen. Für diese Auffassung ist die hierarchische Gliederung und Einwirkung etwas Gegebnes, anch als Vermittlerin aller Zuwendungen, aber nicht so, daß der Staat hinter der Kirche verschwindet. Streit wird diese Auffassung aufs äußerste vermeiden, aber den aufgenommnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/184>, abgerufen am 24.07.2024.