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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Franzosen über Goethe

ausdrücke -- aber vielleicht sei das auch seine ganze Größe! So schließt
Roth Buch mit einem schmalen Lobe Goethes, das nach allem, was von ihm
gesagt wurde, wie Hohn klingt. Damit ist -- wir müssen dies Bild noch¬
mals anwenden -- der Prozeß beendet, und man begreift nicht, daß der hohe
Gerichtshof, nachdem er mit strenger Parteilichkeit alle Verdachtsgründe zu¬
sammengetragen, zweifelhafte und falsche Zeugen vernommen, die unzähligen
Entlastungszeugen dagegen nicht hat zu Worte kommen lassen, nicht den Mut
gewonnen hat, den Angeklagten zur höchsten Strafe zu verurteilen, sondern
ihm gewissermaßen mildernde Umstünde zugebilligt hat.

Not hat seinen Sturmlauf gegen Goethe in ein Jubiläumsjahr gelegt:
gerade vor fünfundzwanzig Jahren, im Jahre 1373, erfolgte der Angriff des
jüngern Dumas auf Goethe, einer der schmählichsten, die jemals unternommen
wurden. Dumas hatte der französischen Faustübersetzuug des Deutschen Bacharach
eine von Gift und Galle strotzende Einleitung mit auf den Weg gegeben, worin
Goethe schlechthin als ein Lump gekennzeichnet wurde, und die mit dem Satze
schloß, Goethe möge ein großer Künstler gewesen sein, niemals aber ein großer
Mensch. Dumas beurteilte und verurteilte Goethe, obgleich er, wie er selbst
zugab, überhaupt kein Deutsch verstand, und verwarf den zweiten Teil des
"Faust," indem er unverkennbar aus der bei allem guten Willen doch sehr
mangelhaften französische" Übersetzung Blaze de Burys schöpfte. Die einsichtigen
Franzosen, soweit die Revaucheidee ihr Urteil nicht getrübt hatte, waren über
diese Perfidie ihres Landsmanns entrüstet, und die Hsvus as8 äeux irionclss
schrieb sogar, daß Dumas Einleitung allem, was schicklich sei, ins Gesicht schlage.
Not hat nun den Kampf wieder aufgenommen, allerdings wohlweislich nicht
mit Dumasscher Unverschämtheit, sondern in vorsichtigerer, darum aber vielleicht
noch verwerflicherer Form. Es sind, "nur mit ein wenig andern Worten,"
im wesentlichen dieselben Vorwürfe, zum Teil zweifellos Dumas entlehnt:
Goethe ist unehrlich und heuchlerisch gewesen; seine Schöpfungen sind zum
größten Teil nicht "Bruchstücke einer großen Konfession," sondern aus einer
künstlich erzeugten Stimmung heraus geboren; sein Weg führt über gebrochne
Herzen und Ruinen; er hat die armen Frauen, die er im Leben geliebt oder
zu lieben vorgegeben hat, gleichsam als Saiten benutzt, um die Riesenharfe
seiner Dichtung damit zu bespannen, wie im Geibelschen Liede der Meermann
aus des unglücklichen Pagen Gebeinen die Laute zimmert. Und dieselbe Rsvuö
ass äoux monclös, die Dumas damals abfertigte, veröffentlicht nun Roth Essai
vor seinem Erscheinen in Buchform und singt ihm dann ein Loblied! Ja ja,
die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Zeitschriften! In der Rovns ass
äeux mcmäos weht jetzt ein etwas andrer Wind; Herr Brunetiere, der mit
der Zeit schwärzer geworden ist und zu den Juliner des Papstes zählen soll,
führt heute darin das Szepter, und die Klerikalen haben sich ja von jeher
bemüht, dem großen Heiden eins am Zeuge zu flicken.


Gedanken eines Franzosen über Goethe

ausdrücke — aber vielleicht sei das auch seine ganze Größe! So schließt
Roth Buch mit einem schmalen Lobe Goethes, das nach allem, was von ihm
gesagt wurde, wie Hohn klingt. Damit ist — wir müssen dies Bild noch¬
mals anwenden — der Prozeß beendet, und man begreift nicht, daß der hohe
Gerichtshof, nachdem er mit strenger Parteilichkeit alle Verdachtsgründe zu¬
sammengetragen, zweifelhafte und falsche Zeugen vernommen, die unzähligen
Entlastungszeugen dagegen nicht hat zu Worte kommen lassen, nicht den Mut
gewonnen hat, den Angeklagten zur höchsten Strafe zu verurteilen, sondern
ihm gewissermaßen mildernde Umstünde zugebilligt hat.

Not hat seinen Sturmlauf gegen Goethe in ein Jubiläumsjahr gelegt:
gerade vor fünfundzwanzig Jahren, im Jahre 1373, erfolgte der Angriff des
jüngern Dumas auf Goethe, einer der schmählichsten, die jemals unternommen
wurden. Dumas hatte der französischen Faustübersetzuug des Deutschen Bacharach
eine von Gift und Galle strotzende Einleitung mit auf den Weg gegeben, worin
Goethe schlechthin als ein Lump gekennzeichnet wurde, und die mit dem Satze
schloß, Goethe möge ein großer Künstler gewesen sein, niemals aber ein großer
Mensch. Dumas beurteilte und verurteilte Goethe, obgleich er, wie er selbst
zugab, überhaupt kein Deutsch verstand, und verwarf den zweiten Teil des
„Faust," indem er unverkennbar aus der bei allem guten Willen doch sehr
mangelhaften französische« Übersetzung Blaze de Burys schöpfte. Die einsichtigen
Franzosen, soweit die Revaucheidee ihr Urteil nicht getrübt hatte, waren über
diese Perfidie ihres Landsmanns entrüstet, und die Hsvus as8 äeux irionclss
schrieb sogar, daß Dumas Einleitung allem, was schicklich sei, ins Gesicht schlage.
Not hat nun den Kampf wieder aufgenommen, allerdings wohlweislich nicht
mit Dumasscher Unverschämtheit, sondern in vorsichtigerer, darum aber vielleicht
noch verwerflicherer Form. Es sind, „nur mit ein wenig andern Worten,"
im wesentlichen dieselben Vorwürfe, zum Teil zweifellos Dumas entlehnt:
Goethe ist unehrlich und heuchlerisch gewesen; seine Schöpfungen sind zum
größten Teil nicht „Bruchstücke einer großen Konfession," sondern aus einer
künstlich erzeugten Stimmung heraus geboren; sein Weg führt über gebrochne
Herzen und Ruinen; er hat die armen Frauen, die er im Leben geliebt oder
zu lieben vorgegeben hat, gleichsam als Saiten benutzt, um die Riesenharfe
seiner Dichtung damit zu bespannen, wie im Geibelschen Liede der Meermann
aus des unglücklichen Pagen Gebeinen die Laute zimmert. Und dieselbe Rsvuö
ass äoux monclös, die Dumas damals abfertigte, veröffentlicht nun Roth Essai
vor seinem Erscheinen in Buchform und singt ihm dann ein Loblied! Ja ja,
die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Zeitschriften! In der Rovns ass
äeux mcmäos weht jetzt ein etwas andrer Wind; Herr Brunetiere, der mit
der Zeit schwärzer geworden ist und zu den Juliner des Papstes zählen soll,
führt heute darin das Szepter, und die Klerikalen haben sich ja von jeher
bemüht, dem großen Heiden eins am Zeuge zu flicken.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/170>, abgerufen am 12.12.2024.