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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Franzosen über Goethe

Verhältnisses zu Herder oder in der Bemerkung Goethes beim Abschiede von
Friederike: "Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben
ist" u. a. Rod behauptet serner, daß Goethe absichtlich verkleinert und ver¬
ringert habe, was ihm von andern Seiten zugeströmt sei, während doch gerade
einer der Hauptvorzüge von "Dichtung und Wahrheit" darin besteht, daß
Goethe sorgsam und offen alle Einflüsse verzeichnet hat, die ihm Nahrung
zugeführt und zur Gestaltung seines Innern beigetragen haben. Gesteht er
nicht selbst, daß, "wenn er alles sagen könnte, was er großen Vorgängern und
Mitlebenden schuldig geworden sei, nicht viel übrig bleiben würde"? In diesem
Geiste hat Goethe seine Entwicklung geschildert.

Daß die Wetzlarer Liebesepisode in "Dichtung und Wahrheit" nicht
Werthersche Leidenschaft atmet, was Rod zum Beweise dessen hervorhebt, daß
sie nicht tiefgehend war, ist natürlich, wenn man bedenkt, daß seit jenen Tagen
mehr als ein Menschenalter verflossen war. Goethe selbst beklagt es, daß,
"was man gedacht, die Bilder, die man gesehen, sich in dem Verstand und in
der Einbildungskraft wieder hervorrufen lassen," daß aber "das Herz nicht so
gefällig ist." Wo aber etwas zu Gunsten des Angeklagten spricht und ihn
doch hie und da als aufrichtig erscheinen läßt, wie das Bild der nächtlichen
Bombe, mit der er die jugendlichen Herzcnsneigungen vergleicht, die in sanftem
Bogen aufsteigt, dann rasch füllt und Ruinen bereitet, da -- ist der Stil mit
dem Dichter durchgegangen! Hätte Rod sich bei uns Rats geholt, so hätten
wir ihm noch einige schöne Angriffspunkte verraten können, so die gewiß nicht
gerechte Beurteilung Mercks und die gewissenlose Verschweigung der Thatsache,
daß Goethes Ahnen väterlicherseits der biedern Schneiderzunft angehörten.
Nein, gerade in der milden Klarheit und Objektivität der Darstellung beruht
der hohe Reiz und Wert der Goethischen Erinnerungen. Freilich, Rousseaus
peinliche und oft protzige Aufrichtigkeit, die Rod wünscht, weist "Dichtung
und Wahrheit" nicht auf, aber darum liegt noch längst kein Grund vor,
"Dichtung" mit "Lüge" zu übersetzen, wie Rod es gern möchte. Goethe
adelte das Gemeine und Unscheinbare; er umgab die ersten Regungen der
kindlichen Phantasie mit der Poesie des gereiften Mannes ("der neue Paris");
er ergänzte die seinem Gedächtnis entschwundnen Episoden durch die Phan¬
tasie -- auf das alles bezieht sich die "Dichtung." An den Schönheiten und
Vorzügen der Erinnerungen ist Rod gefühllos oder absichtlich vorübergegangen;
Goethe sollte ja verurteilt werden, da durften keinerlei Milderungsgründe
gelten.

Im zweiten und dritten Kapitel werden Götz und Werther behandelt.
Am Götz weiß Rod nur längst breitgetretnes auszusetzen: den Mangel an
Einheit und Harmonie und die Adelheidepisode. Hütte er schärfer beobachtet,
so würde er gefunden haben, daß gerade diese Episode, wenn man einmal von
einer romantischen und sentimentalen Krise sprechen will, von der einen zur


Grcnzbotcii IV 1898 20
Gedanken eines Franzosen über Goethe

Verhältnisses zu Herder oder in der Bemerkung Goethes beim Abschiede von
Friederike: „Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben
ist" u. a. Rod behauptet serner, daß Goethe absichtlich verkleinert und ver¬
ringert habe, was ihm von andern Seiten zugeströmt sei, während doch gerade
einer der Hauptvorzüge von „Dichtung und Wahrheit" darin besteht, daß
Goethe sorgsam und offen alle Einflüsse verzeichnet hat, die ihm Nahrung
zugeführt und zur Gestaltung seines Innern beigetragen haben. Gesteht er
nicht selbst, daß, „wenn er alles sagen könnte, was er großen Vorgängern und
Mitlebenden schuldig geworden sei, nicht viel übrig bleiben würde"? In diesem
Geiste hat Goethe seine Entwicklung geschildert.

Daß die Wetzlarer Liebesepisode in „Dichtung und Wahrheit" nicht
Werthersche Leidenschaft atmet, was Rod zum Beweise dessen hervorhebt, daß
sie nicht tiefgehend war, ist natürlich, wenn man bedenkt, daß seit jenen Tagen
mehr als ein Menschenalter verflossen war. Goethe selbst beklagt es, daß,
„was man gedacht, die Bilder, die man gesehen, sich in dem Verstand und in
der Einbildungskraft wieder hervorrufen lassen," daß aber „das Herz nicht so
gefällig ist." Wo aber etwas zu Gunsten des Angeklagten spricht und ihn
doch hie und da als aufrichtig erscheinen läßt, wie das Bild der nächtlichen
Bombe, mit der er die jugendlichen Herzcnsneigungen vergleicht, die in sanftem
Bogen aufsteigt, dann rasch füllt und Ruinen bereitet, da — ist der Stil mit
dem Dichter durchgegangen! Hätte Rod sich bei uns Rats geholt, so hätten
wir ihm noch einige schöne Angriffspunkte verraten können, so die gewiß nicht
gerechte Beurteilung Mercks und die gewissenlose Verschweigung der Thatsache,
daß Goethes Ahnen väterlicherseits der biedern Schneiderzunft angehörten.
Nein, gerade in der milden Klarheit und Objektivität der Darstellung beruht
der hohe Reiz und Wert der Goethischen Erinnerungen. Freilich, Rousseaus
peinliche und oft protzige Aufrichtigkeit, die Rod wünscht, weist „Dichtung
und Wahrheit" nicht auf, aber darum liegt noch längst kein Grund vor,
„Dichtung" mit „Lüge" zu übersetzen, wie Rod es gern möchte. Goethe
adelte das Gemeine und Unscheinbare; er umgab die ersten Regungen der
kindlichen Phantasie mit der Poesie des gereiften Mannes („der neue Paris");
er ergänzte die seinem Gedächtnis entschwundnen Episoden durch die Phan¬
tasie — auf das alles bezieht sich die „Dichtung." An den Schönheiten und
Vorzügen der Erinnerungen ist Rod gefühllos oder absichtlich vorübergegangen;
Goethe sollte ja verurteilt werden, da durften keinerlei Milderungsgründe
gelten.

Im zweiten und dritten Kapitel werden Götz und Werther behandelt.
Am Götz weiß Rod nur längst breitgetretnes auszusetzen: den Mangel an
Einheit und Harmonie und die Adelheidepisode. Hütte er schärfer beobachtet,
so würde er gefunden haben, daß gerade diese Episode, wenn man einmal von
einer romantischen und sentimentalen Krise sprechen will, von der einen zur


Grcnzbotcii IV 1898 20
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[0164] Gedanken eines Franzosen über Goethe Verhältnisses zu Herder oder in der Bemerkung Goethes beim Abschiede von Friederike: „Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist" u. a. Rod behauptet serner, daß Goethe absichtlich verkleinert und ver¬ ringert habe, was ihm von andern Seiten zugeströmt sei, während doch gerade einer der Hauptvorzüge von „Dichtung und Wahrheit" darin besteht, daß Goethe sorgsam und offen alle Einflüsse verzeichnet hat, die ihm Nahrung zugeführt und zur Gestaltung seines Innern beigetragen haben. Gesteht er nicht selbst, daß, „wenn er alles sagen könnte, was er großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden sei, nicht viel übrig bleiben würde"? In diesem Geiste hat Goethe seine Entwicklung geschildert. Daß die Wetzlarer Liebesepisode in „Dichtung und Wahrheit" nicht Werthersche Leidenschaft atmet, was Rod zum Beweise dessen hervorhebt, daß sie nicht tiefgehend war, ist natürlich, wenn man bedenkt, daß seit jenen Tagen mehr als ein Menschenalter verflossen war. Goethe selbst beklagt es, daß, „was man gedacht, die Bilder, die man gesehen, sich in dem Verstand und in der Einbildungskraft wieder hervorrufen lassen," daß aber „das Herz nicht so gefällig ist." Wo aber etwas zu Gunsten des Angeklagten spricht und ihn doch hie und da als aufrichtig erscheinen läßt, wie das Bild der nächtlichen Bombe, mit der er die jugendlichen Herzcnsneigungen vergleicht, die in sanftem Bogen aufsteigt, dann rasch füllt und Ruinen bereitet, da — ist der Stil mit dem Dichter durchgegangen! Hätte Rod sich bei uns Rats geholt, so hätten wir ihm noch einige schöne Angriffspunkte verraten können, so die gewiß nicht gerechte Beurteilung Mercks und die gewissenlose Verschweigung der Thatsache, daß Goethes Ahnen väterlicherseits der biedern Schneiderzunft angehörten. Nein, gerade in der milden Klarheit und Objektivität der Darstellung beruht der hohe Reiz und Wert der Goethischen Erinnerungen. Freilich, Rousseaus peinliche und oft protzige Aufrichtigkeit, die Rod wünscht, weist „Dichtung und Wahrheit" nicht auf, aber darum liegt noch längst kein Grund vor, „Dichtung" mit „Lüge" zu übersetzen, wie Rod es gern möchte. Goethe adelte das Gemeine und Unscheinbare; er umgab die ersten Regungen der kindlichen Phantasie mit der Poesie des gereiften Mannes („der neue Paris"); er ergänzte die seinem Gedächtnis entschwundnen Episoden durch die Phan¬ tasie — auf das alles bezieht sich die „Dichtung." An den Schönheiten und Vorzügen der Erinnerungen ist Rod gefühllos oder absichtlich vorübergegangen; Goethe sollte ja verurteilt werden, da durften keinerlei Milderungsgründe gelten. Im zweiten und dritten Kapitel werden Götz und Werther behandelt. Am Götz weiß Rod nur längst breitgetretnes auszusetzen: den Mangel an Einheit und Harmonie und die Adelheidepisode. Hütte er schärfer beobachtet, so würde er gefunden haben, daß gerade diese Episode, wenn man einmal von einer romantischen und sentimentalen Krise sprechen will, von der einen zur Grcnzbotcii IV 1898 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/164>, abgerufen am 12.12.2024.