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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Franzosen über Goethe

Noth scheinheilige Bemerkung dabei festnageln, er sei weit entfernt, Goethen
diesen Mangel an Vaterlandsliebe zum Vorwurf zu machen. Als Franzose
aus Überzeugung legt Not auf Goethes Begegnung mit Napoleon natürlich
besondres Gewicht, macht aber wie immer dem Dichter den Vorwurf der Un¬
ehrlichreit, da er auch Eckermaun gegenüber gewisse Punkte der Unterredung
geflissentlich verschwiegen habe. Gegen Noth Gründlichkeit spricht, daß er
Talleyrands Schilderung der Begegnung nicht kennt; im übrigen möchten wir
ihm anempfehlen, darüber das betreffende Kapitel in Geigers "Aus Alt-Weimar,"
das er freilich noch nicht kennen konnte, zu lesen und seine Behauptungen
darnach richtig zu stellen.

Die bei Rod sehr unklare Erklärung des "Olympiers" durch den Egoisten
ist ja recht alt; von einer neuen Seite wird das Thema nicht beleuchtet.
Goethes Wesen sei durch das Olympiertnm nicht veredelt, sondern verunstaltet
worden; er habe sich selbst und andern ein Stück des Überirdischen, das er in
sich trage, vorgegaukelt. Im Verein damit wird gegen den Goetheismus zu
Felde gezogen, gegen die Sucht oomvrviiönsii' zu sein, von allem etwas und
doch nichts ganz zu verstehen und nichts der Sache wegen oder ans höherm
Gesichtspunkte zu betreiben, sondern um ein persönliches Vergnügen davon zu
haben, wie Goethe es selbst gemacht habe. n'est xoint I'gmour as I'vocis
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Zersplitterung liegt unleugbar in unsrer Zeit; sie Goethen in die Schuhe zu
schieben, ist aber doch sehr naiv. Und hätte Rod damit Recht -- was würde
Goethe am Ende dafür können, daß seine Epigonen goethischer sind als er
selbst? Er wußte, warum er forschte und beobachtete; ihn trieb es, in der
Erscheinungen Flucht das gemeinsame geistige Band zu entdecken, und so haftete
sein sinnendes Auge auf dem Erhabensten wie dem Unscheinbarsten, wie denn
zu einem herrlichen Tempel nicht Säulen allein, sondern auch Mörtel und
Steine gehören.

Der Hauptvorwurf, den Rod immer wieder gegen Goethe erhebt, ist der
der Unehrlichkeit und Verlogenheit, wenn er ihn auch meist sehr sorgsam und
diplomatisch umkleidet. So findet er in "Dichtung und Wahrheit" keine Spur
von Aufrichtigkeit. Grenzenlose Eitelkeit, die Sucht, mehr und besser zu scheinen,
als er sei, habe den Dichter bei der Abfassung seiner Erinnerungen geleitet
und zugleich die Absicht, auf seine Zeitgenossen, deren Gunst er zu seinem
Kummer nicht mehr wie früher gehabt hätte, von neuem durch seine Persön¬
lichkeit it. h. also durch ein falsches Bild davon) einzuwirken. Aber den
Beweis dafür bleibt Rod schuldig, er scheint sich dabei nur auf seinen Instinkt
verlassen zu haben. Es sei denn, daß man einen Beweis in dem Leipziger
Briefe des Studiengenossen (vielleicht auch Rivalen) Goethes, Moors, erblicken
wollte, den Rod behaglich wiedergiebt, oder in der schiefen Darstellung des


Gedanken eines Franzosen über Goethe

Noth scheinheilige Bemerkung dabei festnageln, er sei weit entfernt, Goethen
diesen Mangel an Vaterlandsliebe zum Vorwurf zu machen. Als Franzose
aus Überzeugung legt Not auf Goethes Begegnung mit Napoleon natürlich
besondres Gewicht, macht aber wie immer dem Dichter den Vorwurf der Un¬
ehrlichreit, da er auch Eckermaun gegenüber gewisse Punkte der Unterredung
geflissentlich verschwiegen habe. Gegen Noth Gründlichkeit spricht, daß er
Talleyrands Schilderung der Begegnung nicht kennt; im übrigen möchten wir
ihm anempfehlen, darüber das betreffende Kapitel in Geigers „Aus Alt-Weimar,"
das er freilich noch nicht kennen konnte, zu lesen und seine Behauptungen
darnach richtig zu stellen.

Die bei Rod sehr unklare Erklärung des „Olympiers" durch den Egoisten
ist ja recht alt; von einer neuen Seite wird das Thema nicht beleuchtet.
Goethes Wesen sei durch das Olympiertnm nicht veredelt, sondern verunstaltet
worden; er habe sich selbst und andern ein Stück des Überirdischen, das er in
sich trage, vorgegaukelt. Im Verein damit wird gegen den Goetheismus zu
Felde gezogen, gegen die Sucht oomvrviiönsii' zu sein, von allem etwas und
doch nichts ganz zu verstehen und nichts der Sache wegen oder ans höherm
Gesichtspunkte zu betreiben, sondern um ein persönliches Vergnügen davon zu
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Zersplitterung liegt unleugbar in unsrer Zeit; sie Goethen in die Schuhe zu
schieben, ist aber doch sehr naiv. Und hätte Rod damit Recht — was würde
Goethe am Ende dafür können, daß seine Epigonen goethischer sind als er
selbst? Er wußte, warum er forschte und beobachtete; ihn trieb es, in der
Erscheinungen Flucht das gemeinsame geistige Band zu entdecken, und so haftete
sein sinnendes Auge auf dem Erhabensten wie dem Unscheinbarsten, wie denn
zu einem herrlichen Tempel nicht Säulen allein, sondern auch Mörtel und
Steine gehören.

Der Hauptvorwurf, den Rod immer wieder gegen Goethe erhebt, ist der
der Unehrlichkeit und Verlogenheit, wenn er ihn auch meist sehr sorgsam und
diplomatisch umkleidet. So findet er in „Dichtung und Wahrheit" keine Spur
von Aufrichtigkeit. Grenzenlose Eitelkeit, die Sucht, mehr und besser zu scheinen,
als er sei, habe den Dichter bei der Abfassung seiner Erinnerungen geleitet
und zugleich die Absicht, auf seine Zeitgenossen, deren Gunst er zu seinem
Kummer nicht mehr wie früher gehabt hätte, von neuem durch seine Persön¬
lichkeit it. h. also durch ein falsches Bild davon) einzuwirken. Aber den
Beweis dafür bleibt Rod schuldig, er scheint sich dabei nur auf seinen Instinkt
verlassen zu haben. Es sei denn, daß man einen Beweis in dem Leipziger
Briefe des Studiengenossen (vielleicht auch Rivalen) Goethes, Moors, erblicken
wollte, den Rod behaglich wiedergiebt, oder in der schiefen Darstellung des


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[0163] Gedanken eines Franzosen über Goethe Noth scheinheilige Bemerkung dabei festnageln, er sei weit entfernt, Goethen diesen Mangel an Vaterlandsliebe zum Vorwurf zu machen. Als Franzose aus Überzeugung legt Not auf Goethes Begegnung mit Napoleon natürlich besondres Gewicht, macht aber wie immer dem Dichter den Vorwurf der Un¬ ehrlichreit, da er auch Eckermaun gegenüber gewisse Punkte der Unterredung geflissentlich verschwiegen habe. Gegen Noth Gründlichkeit spricht, daß er Talleyrands Schilderung der Begegnung nicht kennt; im übrigen möchten wir ihm anempfehlen, darüber das betreffende Kapitel in Geigers „Aus Alt-Weimar," das er freilich noch nicht kennen konnte, zu lesen und seine Behauptungen darnach richtig zu stellen. Die bei Rod sehr unklare Erklärung des „Olympiers" durch den Egoisten ist ja recht alt; von einer neuen Seite wird das Thema nicht beleuchtet. Goethes Wesen sei durch das Olympiertnm nicht veredelt, sondern verunstaltet worden; er habe sich selbst und andern ein Stück des Überirdischen, das er in sich trage, vorgegaukelt. Im Verein damit wird gegen den Goetheismus zu Felde gezogen, gegen die Sucht oomvrviiönsii' zu sein, von allem etwas und doch nichts ganz zu verstehen und nichts der Sache wegen oder ans höherm Gesichtspunkte zu betreiben, sondern um ein persönliches Vergnügen davon zu haben, wie Goethe es selbst gemacht habe. n'est xoint I'gmour as I'vocis öl 1o souoi Ass r6s«1es>es <mi insvirg.it se xuiäait I'me»tixMö vkörvdörtr: o'vt>g.it ig. MÜS8M0L vA'LvnnsIlL HUS lui og.Ig.it LOH etlort,. Die Neigung zur Zersplitterung liegt unleugbar in unsrer Zeit; sie Goethen in die Schuhe zu schieben, ist aber doch sehr naiv. Und hätte Rod damit Recht — was würde Goethe am Ende dafür können, daß seine Epigonen goethischer sind als er selbst? Er wußte, warum er forschte und beobachtete; ihn trieb es, in der Erscheinungen Flucht das gemeinsame geistige Band zu entdecken, und so haftete sein sinnendes Auge auf dem Erhabensten wie dem Unscheinbarsten, wie denn zu einem herrlichen Tempel nicht Säulen allein, sondern auch Mörtel und Steine gehören. Der Hauptvorwurf, den Rod immer wieder gegen Goethe erhebt, ist der der Unehrlichkeit und Verlogenheit, wenn er ihn auch meist sehr sorgsam und diplomatisch umkleidet. So findet er in „Dichtung und Wahrheit" keine Spur von Aufrichtigkeit. Grenzenlose Eitelkeit, die Sucht, mehr und besser zu scheinen, als er sei, habe den Dichter bei der Abfassung seiner Erinnerungen geleitet und zugleich die Absicht, auf seine Zeitgenossen, deren Gunst er zu seinem Kummer nicht mehr wie früher gehabt hätte, von neuem durch seine Persön¬ lichkeit it. h. also durch ein falsches Bild davon) einzuwirken. Aber den Beweis dafür bleibt Rod schuldig, er scheint sich dabei nur auf seinen Instinkt verlassen zu haben. Es sei denn, daß man einen Beweis in dem Leipziger Briefe des Studiengenossen (vielleicht auch Rivalen) Goethes, Moors, erblicken wollte, den Rod behaglich wiedergiebt, oder in der schiefen Darstellung des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/163>, abgerufen am 12.12.2024.