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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

damit zusammenhängenden Dinge in seinem Buche niedergelegt hat. Wir
wüßten nichts, was geeigneter wäre, zur Richtschnur zu dienen und bei dem
nicht enden wollenden Hin- und Herreden über diese Fragen zu selbständigem
Nachdenken zu veranlassen.

Im griechischen Epos setzt sich im ganzen der Wille der Götter oder
eines noch über ihnen stehenden Schicksals durch. Die Tragödie kann, wenn
sie menschlich interessiren will, das nicht einfach annehmen, vielmehr muß der
Mensch sein Schicksal erfüllen, weil er so ist, wie er ist, er gerät in Konflikte
der Pflichten und wird schuldig. Die einzelnen Tragiker dachten darüber ver¬
schieden, aber den Fortschritt der ethischen Gedanken klarzulegen reicht das
Material nicht aus. Wie sich die sittliche Weltordnung mit den Schicksalen
der Menschen verträgt, diese Frage konnte der ätherische Dramatiker nicht um¬
gehen, aber sie zu beantworten ist niemals möglich, wir können also auch in
Griechenland nur ein menschliches Surrogat der Beantwortung finden. Daß
der Schicksalsbegriff den Begriff von Willen und Schuld aufhebe, wie manche
meinen, ist unrichtig. Die Platte Berufung auf den Willen der Götter ist
selten, manche Konflikte entstehen ganz ohne ihre Einwirkung, verdienstliche
Handlungen rechnen die Menschen sich selbst an. Zieht man das sagenhafte
und Wunderbare ab, so bleibt als wesentlicher Bestand der Widerstreit zwischen
Gedanken und Grundsätzen, die zum Inhalt des Lebens gehören. Leiden ist
eine Folge von Schuld, sogar ganze Geschlechter hindurch, aber nicht immer.
Wer jedoch mit Schuld belastet ist, kann in der Regel etwas zu seiner Ver¬
teidigung anführen. Die griechische Tragödie ist also nicht überwiegend
Schicksalstragödie, allerdings auch nicht im modernen Sinne Charaktertragödie,
wenn sie sich auch dieser im Laufe ihrer Entwicklung nähert. Sie stellt an
ihrem durch das Epos gehobnen Stoff das Schicksal der Menschen dar, ihr
Verhältnis zu den Göttern, sie sucht Antworten auf die Rätsel des Lebens.
Daß sie oft "Mitleid und Furcht" erregt, ist zweifellos, daß das aber ihr
eigentlicher Zweck war, kann man Aristoteles nicht glauben. Seine Katharsis
scheint eine erleichternde Entladung von diesen Gefühlen gerade dnrch ihre
Erregung zu bedeuten (also wie Bernays, nicht wie Lessing wollte). Wenn
wir gern Tragödien sehen, müssen wir uns scheinbar freuen, Mitleid zu em¬
pfinden. So haben auch manche andre gedacht. Aber Mitleid ist kein Ver¬
gnügen, sondern eine Traurigkeit, höchstens als Rührseligkeit eine erleichternde
Entladung des Schmerzes. Bisweilen könnte das Angenehme der Empfindung
darin bestehen, daß sich der Zuschauer selbst von dem geschauten Leiden frei
weiß. Aber vieles derartige hat er doch auch erlebt oder wenigstens annähernd
kennen gelernt; sein Mitleid könnte Mitleid mit sich selbst sein: so sind die
Menschen alle, im fremden Unglück beklage ich mein eignes, erlebtes oder
mögliches. Dann macht aber nicht das Mitleid Vergnügen, sondern das
Gemüt fühlt sich erleichtert, weil im Drama die Affekte so ausgesprochen


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

damit zusammenhängenden Dinge in seinem Buche niedergelegt hat. Wir
wüßten nichts, was geeigneter wäre, zur Richtschnur zu dienen und bei dem
nicht enden wollenden Hin- und Herreden über diese Fragen zu selbständigem
Nachdenken zu veranlassen.

Im griechischen Epos setzt sich im ganzen der Wille der Götter oder
eines noch über ihnen stehenden Schicksals durch. Die Tragödie kann, wenn
sie menschlich interessiren will, das nicht einfach annehmen, vielmehr muß der
Mensch sein Schicksal erfüllen, weil er so ist, wie er ist, er gerät in Konflikte
der Pflichten und wird schuldig. Die einzelnen Tragiker dachten darüber ver¬
schieden, aber den Fortschritt der ethischen Gedanken klarzulegen reicht das
Material nicht aus. Wie sich die sittliche Weltordnung mit den Schicksalen
der Menschen verträgt, diese Frage konnte der ätherische Dramatiker nicht um¬
gehen, aber sie zu beantworten ist niemals möglich, wir können also auch in
Griechenland nur ein menschliches Surrogat der Beantwortung finden. Daß
der Schicksalsbegriff den Begriff von Willen und Schuld aufhebe, wie manche
meinen, ist unrichtig. Die Platte Berufung auf den Willen der Götter ist
selten, manche Konflikte entstehen ganz ohne ihre Einwirkung, verdienstliche
Handlungen rechnen die Menschen sich selbst an. Zieht man das sagenhafte
und Wunderbare ab, so bleibt als wesentlicher Bestand der Widerstreit zwischen
Gedanken und Grundsätzen, die zum Inhalt des Lebens gehören. Leiden ist
eine Folge von Schuld, sogar ganze Geschlechter hindurch, aber nicht immer.
Wer jedoch mit Schuld belastet ist, kann in der Regel etwas zu seiner Ver¬
teidigung anführen. Die griechische Tragödie ist also nicht überwiegend
Schicksalstragödie, allerdings auch nicht im modernen Sinne Charaktertragödie,
wenn sie sich auch dieser im Laufe ihrer Entwicklung nähert. Sie stellt an
ihrem durch das Epos gehobnen Stoff das Schicksal der Menschen dar, ihr
Verhältnis zu den Göttern, sie sucht Antworten auf die Rätsel des Lebens.
Daß sie oft „Mitleid und Furcht" erregt, ist zweifellos, daß das aber ihr
eigentlicher Zweck war, kann man Aristoteles nicht glauben. Seine Katharsis
scheint eine erleichternde Entladung von diesen Gefühlen gerade dnrch ihre
Erregung zu bedeuten (also wie Bernays, nicht wie Lessing wollte). Wenn
wir gern Tragödien sehen, müssen wir uns scheinbar freuen, Mitleid zu em¬
pfinden. So haben auch manche andre gedacht. Aber Mitleid ist kein Ver¬
gnügen, sondern eine Traurigkeit, höchstens als Rührseligkeit eine erleichternde
Entladung des Schmerzes. Bisweilen könnte das Angenehme der Empfindung
darin bestehen, daß sich der Zuschauer selbst von dem geschauten Leiden frei
weiß. Aber vieles derartige hat er doch auch erlebt oder wenigstens annähernd
kennen gelernt; sein Mitleid könnte Mitleid mit sich selbst sein: so sind die
Menschen alle, im fremden Unglück beklage ich mein eignes, erlebtes oder
mögliches. Dann macht aber nicht das Mitleid Vergnügen, sondern das
Gemüt fühlt sich erleichtert, weil im Drama die Affekte so ausgesprochen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/153>, abgerufen am 12.12.2024.