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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Theodor von Bernhardt als Nationalökonom

Kann es die Staatsgewalt gar nicht vermeiden, bestimmend auf die wirt¬
schaftlichen Verhältnisse einzuwirken, indem sie Gesetze erläßt, die sich ans sach¬
lichen Besitz beziehen und auf Rechte und Pflichten, die an solchen Besitz ge¬
knüpft sind, so muß auch verlangt werden, daß sie die wirtschaftlichen Folgen
der gesetzlichen Anordnungen erwogen habe, daß sie sich Rechenschaft gebe von
dem Wesen dessen, was sie thut, und dabei auch in dieser Beziehung einen be¬
stimmten, klar erkannten Zweck im Interesse des Ganzen und der Zukunft mit
Bewußtsein verfolge!

Damit ist nun von Bernhardi die Notwendigkeit des Fortschritts vom
reinen Rechtsstaat zum sozialrechtlichen Kulturstaat bestimmt bezeichnet, wie er
sich im Deutschen Reiche in ausgesprochner Weise seit dem Jahre 1880 an¬
gebahnt hat. Die Übereinstimmung mit Treitschkes und Ratzenhofers An¬
schauungen ist dabei ganz augenfällig.

Gerade die Rückwirkung der wirtschaftlichen Verhältnisse auf die gesell¬
schaftlichen Zustände überhaupt verlangt gebieterisch eine bewußte Einwirkung
auf sie. insofern man an den gesellschaftlichen Verein überhaupt größere Anforde¬
rungen stellt, als die beschränkte rechnende Selbstsucht unmittelbar verlangt.
Bernhardi nennt das die große Frage, die nie zu umgehen sei, wo es sich um
die Lösung gesellschaftlicher Probleme handle, und stellt sie an den Anfang
und an das Ende seines Werks: Soll der Staat überhaupt nebst seiner Gesetz¬
gebung dem Eudämonismus des Einzelnen und der Gegenwart dienstbar sein?
Darf er umgekehrt das Dasein des Einzelnen in der Weise der Alten dem
Staatsleben an sich unterordnen, selbst aufopfern? Oder hat er die Bestim¬
mung, inmitten der Gesellschaft diese als eine ewige Gesamtheit und die
bleibenden und höchsten Interessen der Menschheit -- das Prinzip des
Strebens, der Entwicklung zu vertreten? Es ist merkwürdig, wie selbst da.
wo man sich diese Frage weder gestellt noch beantwortet hat und sich, von
einem willkürlich gewählten Punkt ausgehend, in Einzelheiten bewegt, doch
immer die ganze Erörterung von der Vorstellung beherrscht wird, die man
sich, mitunter unbestimmt genug, von dem Wesen des Staats und der Gesell¬
schaft und von dem natürlichen Inhalt ihres Daseins macht. Das liegt in
der Natur der Dinge.

Der Manchesterschule wird ausführlich nachgewiesen, daß eine doppelte
Ansicht von der Gesellschaft in Beziehung auf das Ganze der Volks- und Stants-
wirtschgft in unvermitteltem Widerspruch ihren Lehren zu Grunde liegt: eng¬
herziger Eudämonismus und eine mittelalterliche Ansicht vom Staat!

Wir haben diesen Paragraphen vorweg genommen, er unterrichtet uns
°'N besten über den Standpunkt und über die Anschauungsweise Bernhardls.
Die Ergebnisse seiner Untersuchungen über die Neinertragslehre und die Ver¬
teilung des Bodens ergeben sich folgerichtig aus diesen Obersätzen. Immer
wieder betont er die Bedeutung der Frage: Von welcher Ansicht des Verhält-


Grenzboten IV 1893
Theodor von Bernhardt als Nationalökonom

Kann es die Staatsgewalt gar nicht vermeiden, bestimmend auf die wirt¬
schaftlichen Verhältnisse einzuwirken, indem sie Gesetze erläßt, die sich ans sach¬
lichen Besitz beziehen und auf Rechte und Pflichten, die an solchen Besitz ge¬
knüpft sind, so muß auch verlangt werden, daß sie die wirtschaftlichen Folgen
der gesetzlichen Anordnungen erwogen habe, daß sie sich Rechenschaft gebe von
dem Wesen dessen, was sie thut, und dabei auch in dieser Beziehung einen be¬
stimmten, klar erkannten Zweck im Interesse des Ganzen und der Zukunft mit
Bewußtsein verfolge!

Damit ist nun von Bernhardi die Notwendigkeit des Fortschritts vom
reinen Rechtsstaat zum sozialrechtlichen Kulturstaat bestimmt bezeichnet, wie er
sich im Deutschen Reiche in ausgesprochner Weise seit dem Jahre 1880 an¬
gebahnt hat. Die Übereinstimmung mit Treitschkes und Ratzenhofers An¬
schauungen ist dabei ganz augenfällig.

Gerade die Rückwirkung der wirtschaftlichen Verhältnisse auf die gesell¬
schaftlichen Zustände überhaupt verlangt gebieterisch eine bewußte Einwirkung
auf sie. insofern man an den gesellschaftlichen Verein überhaupt größere Anforde¬
rungen stellt, als die beschränkte rechnende Selbstsucht unmittelbar verlangt.
Bernhardi nennt das die große Frage, die nie zu umgehen sei, wo es sich um
die Lösung gesellschaftlicher Probleme handle, und stellt sie an den Anfang
und an das Ende seines Werks: Soll der Staat überhaupt nebst seiner Gesetz¬
gebung dem Eudämonismus des Einzelnen und der Gegenwart dienstbar sein?
Darf er umgekehrt das Dasein des Einzelnen in der Weise der Alten dem
Staatsleben an sich unterordnen, selbst aufopfern? Oder hat er die Bestim¬
mung, inmitten der Gesellschaft diese als eine ewige Gesamtheit und die
bleibenden und höchsten Interessen der Menschheit — das Prinzip des
Strebens, der Entwicklung zu vertreten? Es ist merkwürdig, wie selbst da.
wo man sich diese Frage weder gestellt noch beantwortet hat und sich, von
einem willkürlich gewählten Punkt ausgehend, in Einzelheiten bewegt, doch
immer die ganze Erörterung von der Vorstellung beherrscht wird, die man
sich, mitunter unbestimmt genug, von dem Wesen des Staats und der Gesell¬
schaft und von dem natürlichen Inhalt ihres Daseins macht. Das liegt in
der Natur der Dinge.

Der Manchesterschule wird ausführlich nachgewiesen, daß eine doppelte
Ansicht von der Gesellschaft in Beziehung auf das Ganze der Volks- und Stants-
wirtschgft in unvermitteltem Widerspruch ihren Lehren zu Grunde liegt: eng¬
herziger Eudämonismus und eine mittelalterliche Ansicht vom Staat!

Wir haben diesen Paragraphen vorweg genommen, er unterrichtet uns
°'N besten über den Standpunkt und über die Anschauungsweise Bernhardls.
Die Ergebnisse seiner Untersuchungen über die Neinertragslehre und die Ver¬
teilung des Bodens ergeben sich folgerichtig aus diesen Obersätzen. Immer
wieder betont er die Bedeutung der Frage: Von welcher Ansicht des Verhält-


Grenzboten IV 1893
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[0133] Theodor von Bernhardt als Nationalökonom Kann es die Staatsgewalt gar nicht vermeiden, bestimmend auf die wirt¬ schaftlichen Verhältnisse einzuwirken, indem sie Gesetze erläßt, die sich ans sach¬ lichen Besitz beziehen und auf Rechte und Pflichten, die an solchen Besitz ge¬ knüpft sind, so muß auch verlangt werden, daß sie die wirtschaftlichen Folgen der gesetzlichen Anordnungen erwogen habe, daß sie sich Rechenschaft gebe von dem Wesen dessen, was sie thut, und dabei auch in dieser Beziehung einen be¬ stimmten, klar erkannten Zweck im Interesse des Ganzen und der Zukunft mit Bewußtsein verfolge! Damit ist nun von Bernhardi die Notwendigkeit des Fortschritts vom reinen Rechtsstaat zum sozialrechtlichen Kulturstaat bestimmt bezeichnet, wie er sich im Deutschen Reiche in ausgesprochner Weise seit dem Jahre 1880 an¬ gebahnt hat. Die Übereinstimmung mit Treitschkes und Ratzenhofers An¬ schauungen ist dabei ganz augenfällig. Gerade die Rückwirkung der wirtschaftlichen Verhältnisse auf die gesell¬ schaftlichen Zustände überhaupt verlangt gebieterisch eine bewußte Einwirkung auf sie. insofern man an den gesellschaftlichen Verein überhaupt größere Anforde¬ rungen stellt, als die beschränkte rechnende Selbstsucht unmittelbar verlangt. Bernhardi nennt das die große Frage, die nie zu umgehen sei, wo es sich um die Lösung gesellschaftlicher Probleme handle, und stellt sie an den Anfang und an das Ende seines Werks: Soll der Staat überhaupt nebst seiner Gesetz¬ gebung dem Eudämonismus des Einzelnen und der Gegenwart dienstbar sein? Darf er umgekehrt das Dasein des Einzelnen in der Weise der Alten dem Staatsleben an sich unterordnen, selbst aufopfern? Oder hat er die Bestim¬ mung, inmitten der Gesellschaft diese als eine ewige Gesamtheit und die bleibenden und höchsten Interessen der Menschheit — das Prinzip des Strebens, der Entwicklung zu vertreten? Es ist merkwürdig, wie selbst da. wo man sich diese Frage weder gestellt noch beantwortet hat und sich, von einem willkürlich gewählten Punkt ausgehend, in Einzelheiten bewegt, doch immer die ganze Erörterung von der Vorstellung beherrscht wird, die man sich, mitunter unbestimmt genug, von dem Wesen des Staats und der Gesell¬ schaft und von dem natürlichen Inhalt ihres Daseins macht. Das liegt in der Natur der Dinge. Der Manchesterschule wird ausführlich nachgewiesen, daß eine doppelte Ansicht von der Gesellschaft in Beziehung auf das Ganze der Volks- und Stants- wirtschgft in unvermitteltem Widerspruch ihren Lehren zu Grunde liegt: eng¬ herziger Eudämonismus und eine mittelalterliche Ansicht vom Staat! Wir haben diesen Paragraphen vorweg genommen, er unterrichtet uns °'N besten über den Standpunkt und über die Anschauungsweise Bernhardls. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen über die Neinertragslehre und die Ver¬ teilung des Bodens ergeben sich folgerichtig aus diesen Obersätzen. Immer wieder betont er die Bedeutung der Frage: Von welcher Ansicht des Verhält- Grenzboten IV 1893

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/133>, abgerufen am 04.07.2024.