Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Theodor von Bernhard! als Nationalökonom

Willens, die sich aus den Verhältnissen ergiebt, am tiefsten empfinden und
dann ihrer Empfindung einen entsprechend starken, selbst leidenschaftlichen Aus¬
druck geben. Wir erinnern hier an die vielfachen Klagen Friedrich Wilhelms I.
und des Ministers Stein über die Beamten. Wie Lamprecht dem Wirken
einer beherrschenden großen Persönlichkeit gerecht wird, das wird sich in
seinem nächsten Bande der Deutschen Geschichte zeigen in der Art und Weise,
wie er sich mit der Person des Großen Kurfürsten abfindet. Hier ist ein
großer Regent und Staatsmann, der seine Erfolge fast sämtlich der Summe
der Verhältnisse abtrotzen muß, nicht im persönlichen Interesse, sondern weil
er sich verantwortlich fühlte vor "Gott und der Posteritüt." Die Persönlich¬
keiten der deutschen Geschichte vor dem dreißigjährigen Kriege stehen uns ferner;
wir kennen sie weniger, und ihr Wirken ragt zu wenig in die Gegenwart
hinein, als daß ihre Kämpfe und Bestrebungen uns noch sehr erwärmen
könnten. Erst mit 1648 beginnt die neue deutsche Geschichte. Der große
Krieg macht in der deutscheu Geschichte einen Abschnitt wie die Völkerwande¬
rung in der europäischen.

Unstreitig haben aber die Lamprechtschen Auffassungen Anlaß zu Mißver¬
ständnissen gegeben; zumal bei den historischen Volkswirtschaftslehrern verflüchtigt
sich die wenn auch beschränkte Willensfreiheit und mit ihr der Einfluß der
Persönlichkeit mitunter völlig. Mit der Einführung der geschichtlichen und
sozialen Notwendigkeit aller Entwicklung kehrt dann auf einem Umwege oder
Schleichwege der Fatalismus der Manchesterschule im geschichtlichen Kleide
in die Theorie zurück. Da ja die menschliche, mit Bewußtsein ausgeübte Ab¬
sicht doch an der durch die Vergangenheit und den Zustand bestimmten
"natürlichen" Entwicklung nichts ändern kann, so wird gefolgert, daß man
eben alle Dinge am besten dieser ihrer natürlichen Entwicklung überläßt.
Damit ist man dann glücklich wieder beim laisssr aller und laisssr t^ire und bei
der automatisch selbstthätigen Korrektur aller gesellschaftlichen Übel angelangt.

Vor dieser falschen, überhaupt schon von Rotteck angebahnten, dann von
Gervinus durchgeführten historischen Methode möchten wir als Warnungstafel
den echten Historiker Bernhardi aufstellen; sein Buch ist ein wahrhaft er¬
quickendes Stahlbad für den schlaffen Fatalismus solcher Anschauungen. Sollten
wir ihn mit andern Autoren zusammenstellen, so wüßten wir von seinen Zeit¬
genossen nur den einzigen, Carlyle. Dieser in England, jener in Deutschland
stehen in der Zeit der höchsten Blüte des Freisinns als die Propheten einer
neuen Zeit, die den menschlichen Geist und Willen wieder in sein Recht als
Herrn über die Güterwelt einsetzen. Der Engländer ist gewaltig, absonderlich,
oft barock, der Deutsche gründlich, tief in die Natur der Dinge eindringend,
gerecht auch gegen die Gegner, fein, kritisch, mitunter beißend sarkastisch. Viele
Gedanken sind beiden dem Inhalt nach gemeinsam, wenn auch ganz verschieden
ausgedrückt. Ihre Nachfolger in der Ausbildung und Entwicklung der von


Theodor von Bernhard! als Nationalökonom

Willens, die sich aus den Verhältnissen ergiebt, am tiefsten empfinden und
dann ihrer Empfindung einen entsprechend starken, selbst leidenschaftlichen Aus¬
druck geben. Wir erinnern hier an die vielfachen Klagen Friedrich Wilhelms I.
und des Ministers Stein über die Beamten. Wie Lamprecht dem Wirken
einer beherrschenden großen Persönlichkeit gerecht wird, das wird sich in
seinem nächsten Bande der Deutschen Geschichte zeigen in der Art und Weise,
wie er sich mit der Person des Großen Kurfürsten abfindet. Hier ist ein
großer Regent und Staatsmann, der seine Erfolge fast sämtlich der Summe
der Verhältnisse abtrotzen muß, nicht im persönlichen Interesse, sondern weil
er sich verantwortlich fühlte vor „Gott und der Posteritüt." Die Persönlich¬
keiten der deutschen Geschichte vor dem dreißigjährigen Kriege stehen uns ferner;
wir kennen sie weniger, und ihr Wirken ragt zu wenig in die Gegenwart
hinein, als daß ihre Kämpfe und Bestrebungen uns noch sehr erwärmen
könnten. Erst mit 1648 beginnt die neue deutsche Geschichte. Der große
Krieg macht in der deutscheu Geschichte einen Abschnitt wie die Völkerwande¬
rung in der europäischen.

Unstreitig haben aber die Lamprechtschen Auffassungen Anlaß zu Mißver¬
ständnissen gegeben; zumal bei den historischen Volkswirtschaftslehrern verflüchtigt
sich die wenn auch beschränkte Willensfreiheit und mit ihr der Einfluß der
Persönlichkeit mitunter völlig. Mit der Einführung der geschichtlichen und
sozialen Notwendigkeit aller Entwicklung kehrt dann auf einem Umwege oder
Schleichwege der Fatalismus der Manchesterschule im geschichtlichen Kleide
in die Theorie zurück. Da ja die menschliche, mit Bewußtsein ausgeübte Ab¬
sicht doch an der durch die Vergangenheit und den Zustand bestimmten
„natürlichen" Entwicklung nichts ändern kann, so wird gefolgert, daß man
eben alle Dinge am besten dieser ihrer natürlichen Entwicklung überläßt.
Damit ist man dann glücklich wieder beim laisssr aller und laisssr t^ire und bei
der automatisch selbstthätigen Korrektur aller gesellschaftlichen Übel angelangt.

Vor dieser falschen, überhaupt schon von Rotteck angebahnten, dann von
Gervinus durchgeführten historischen Methode möchten wir als Warnungstafel
den echten Historiker Bernhardi aufstellen; sein Buch ist ein wahrhaft er¬
quickendes Stahlbad für den schlaffen Fatalismus solcher Anschauungen. Sollten
wir ihn mit andern Autoren zusammenstellen, so wüßten wir von seinen Zeit¬
genossen nur den einzigen, Carlyle. Dieser in England, jener in Deutschland
stehen in der Zeit der höchsten Blüte des Freisinns als die Propheten einer
neuen Zeit, die den menschlichen Geist und Willen wieder in sein Recht als
Herrn über die Güterwelt einsetzen. Der Engländer ist gewaltig, absonderlich,
oft barock, der Deutsche gründlich, tief in die Natur der Dinge eindringend,
gerecht auch gegen die Gegner, fein, kritisch, mitunter beißend sarkastisch. Viele
Gedanken sind beiden dem Inhalt nach gemeinsam, wenn auch ganz verschieden
ausgedrückt. Ihre Nachfolger in der Ausbildung und Entwicklung der von


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0128" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229076"/>
            <fw type="header" place="top"> Theodor von Bernhard! als Nationalökonom</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_268" prev="#ID_267"> Willens, die sich aus den Verhältnissen ergiebt, am tiefsten empfinden und<lb/>
dann ihrer Empfindung einen entsprechend starken, selbst leidenschaftlichen Aus¬<lb/>
druck geben. Wir erinnern hier an die vielfachen Klagen Friedrich Wilhelms I.<lb/>
und des Ministers Stein über die Beamten. Wie Lamprecht dem Wirken<lb/>
einer beherrschenden großen Persönlichkeit gerecht wird, das wird sich in<lb/>
seinem nächsten Bande der Deutschen Geschichte zeigen in der Art und Weise,<lb/>
wie er sich mit der Person des Großen Kurfürsten abfindet. Hier ist ein<lb/>
großer Regent und Staatsmann, der seine Erfolge fast sämtlich der Summe<lb/>
der Verhältnisse abtrotzen muß, nicht im persönlichen Interesse, sondern weil<lb/>
er sich verantwortlich fühlte vor &#x201E;Gott und der Posteritüt." Die Persönlich¬<lb/>
keiten der deutschen Geschichte vor dem dreißigjährigen Kriege stehen uns ferner;<lb/>
wir kennen sie weniger, und ihr Wirken ragt zu wenig in die Gegenwart<lb/>
hinein, als daß ihre Kämpfe und Bestrebungen uns noch sehr erwärmen<lb/>
könnten. Erst mit 1648 beginnt die neue deutsche Geschichte. Der große<lb/>
Krieg macht in der deutscheu Geschichte einen Abschnitt wie die Völkerwande¬<lb/>
rung in der europäischen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_269"> Unstreitig haben aber die Lamprechtschen Auffassungen Anlaß zu Mißver¬<lb/>
ständnissen gegeben; zumal bei den historischen Volkswirtschaftslehrern verflüchtigt<lb/>
sich die wenn auch beschränkte Willensfreiheit und mit ihr der Einfluß der<lb/>
Persönlichkeit mitunter völlig. Mit der Einführung der geschichtlichen und<lb/>
sozialen Notwendigkeit aller Entwicklung kehrt dann auf einem Umwege oder<lb/>
Schleichwege der Fatalismus der Manchesterschule im geschichtlichen Kleide<lb/>
in die Theorie zurück. Da ja die menschliche, mit Bewußtsein ausgeübte Ab¬<lb/>
sicht doch an der durch die Vergangenheit und den Zustand bestimmten<lb/>
&#x201E;natürlichen" Entwicklung nichts ändern kann, so wird gefolgert, daß man<lb/>
eben alle Dinge am besten dieser ihrer natürlichen Entwicklung überläßt.<lb/>
Damit ist man dann glücklich wieder beim laisssr aller und laisssr t^ire und bei<lb/>
der automatisch selbstthätigen Korrektur aller gesellschaftlichen Übel angelangt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_270" next="#ID_271"> Vor dieser falschen, überhaupt schon von Rotteck angebahnten, dann von<lb/>
Gervinus durchgeführten historischen Methode möchten wir als Warnungstafel<lb/>
den echten Historiker Bernhardi aufstellen; sein Buch ist ein wahrhaft er¬<lb/>
quickendes Stahlbad für den schlaffen Fatalismus solcher Anschauungen. Sollten<lb/>
wir ihn mit andern Autoren zusammenstellen, so wüßten wir von seinen Zeit¬<lb/>
genossen nur den einzigen, Carlyle. Dieser in England, jener in Deutschland<lb/>
stehen in der Zeit der höchsten Blüte des Freisinns als die Propheten einer<lb/>
neuen Zeit, die den menschlichen Geist und Willen wieder in sein Recht als<lb/>
Herrn über die Güterwelt einsetzen. Der Engländer ist gewaltig, absonderlich,<lb/>
oft barock, der Deutsche gründlich, tief in die Natur der Dinge eindringend,<lb/>
gerecht auch gegen die Gegner, fein, kritisch, mitunter beißend sarkastisch. Viele<lb/>
Gedanken sind beiden dem Inhalt nach gemeinsam, wenn auch ganz verschieden<lb/>
ausgedrückt.  Ihre Nachfolger in der Ausbildung und Entwicklung der von</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0128] Theodor von Bernhard! als Nationalökonom Willens, die sich aus den Verhältnissen ergiebt, am tiefsten empfinden und dann ihrer Empfindung einen entsprechend starken, selbst leidenschaftlichen Aus¬ druck geben. Wir erinnern hier an die vielfachen Klagen Friedrich Wilhelms I. und des Ministers Stein über die Beamten. Wie Lamprecht dem Wirken einer beherrschenden großen Persönlichkeit gerecht wird, das wird sich in seinem nächsten Bande der Deutschen Geschichte zeigen in der Art und Weise, wie er sich mit der Person des Großen Kurfürsten abfindet. Hier ist ein großer Regent und Staatsmann, der seine Erfolge fast sämtlich der Summe der Verhältnisse abtrotzen muß, nicht im persönlichen Interesse, sondern weil er sich verantwortlich fühlte vor „Gott und der Posteritüt." Die Persönlich¬ keiten der deutschen Geschichte vor dem dreißigjährigen Kriege stehen uns ferner; wir kennen sie weniger, und ihr Wirken ragt zu wenig in die Gegenwart hinein, als daß ihre Kämpfe und Bestrebungen uns noch sehr erwärmen könnten. Erst mit 1648 beginnt die neue deutsche Geschichte. Der große Krieg macht in der deutscheu Geschichte einen Abschnitt wie die Völkerwande¬ rung in der europäischen. Unstreitig haben aber die Lamprechtschen Auffassungen Anlaß zu Mißver¬ ständnissen gegeben; zumal bei den historischen Volkswirtschaftslehrern verflüchtigt sich die wenn auch beschränkte Willensfreiheit und mit ihr der Einfluß der Persönlichkeit mitunter völlig. Mit der Einführung der geschichtlichen und sozialen Notwendigkeit aller Entwicklung kehrt dann auf einem Umwege oder Schleichwege der Fatalismus der Manchesterschule im geschichtlichen Kleide in die Theorie zurück. Da ja die menschliche, mit Bewußtsein ausgeübte Ab¬ sicht doch an der durch die Vergangenheit und den Zustand bestimmten „natürlichen" Entwicklung nichts ändern kann, so wird gefolgert, daß man eben alle Dinge am besten dieser ihrer natürlichen Entwicklung überläßt. Damit ist man dann glücklich wieder beim laisssr aller und laisssr t^ire und bei der automatisch selbstthätigen Korrektur aller gesellschaftlichen Übel angelangt. Vor dieser falschen, überhaupt schon von Rotteck angebahnten, dann von Gervinus durchgeführten historischen Methode möchten wir als Warnungstafel den echten Historiker Bernhardi aufstellen; sein Buch ist ein wahrhaft er¬ quickendes Stahlbad für den schlaffen Fatalismus solcher Anschauungen. Sollten wir ihn mit andern Autoren zusammenstellen, so wüßten wir von seinen Zeit¬ genossen nur den einzigen, Carlyle. Dieser in England, jener in Deutschland stehen in der Zeit der höchsten Blüte des Freisinns als die Propheten einer neuen Zeit, die den menschlichen Geist und Willen wieder in sein Recht als Herrn über die Güterwelt einsetzen. Der Engländer ist gewaltig, absonderlich, oft barock, der Deutsche gründlich, tief in die Natur der Dinge eindringend, gerecht auch gegen die Gegner, fein, kritisch, mitunter beißend sarkastisch. Viele Gedanken sind beiden dem Inhalt nach gemeinsam, wenn auch ganz verschieden ausgedrückt. Ihre Nachfolger in der Ausbildung und Entwicklung der von

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/128
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/128>, abgerufen am 12.12.2024.