Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Theodor von Bernhardt als Nationalökonom

Wirtschaft im Begriff, in einer falschen Richtung abzutreiben, indem sie den
Kernpunkt alles geschichtlichen Werdens und Geschehens, das Wählen unter
verschiednen Möglichkeiten und den verantwortlichen Entschluß des Menschen
verkennen oder sogar gänzlich verneinen.

Was ist es anders als eine Verneinung, wenn man die Geschichte lediglich
für eine Erfüllung sozialer Notwendigkeiten ausgiebt, in dem Sinne, daß alle
großen Männer nebst ihren Gedanken und Thaten nur das notwendige Produkt
gewisser Massenzustände seien? Demgegenüber hat schon der alte Droysen
darauf hingewiesen, daß geschichtliche Notwendigkeiten immer nur geschichtliche
Möglichkeiten sind, die erfüllt werden oder unerfüllt bleiben können. Wie oft
hat nicht eine große Zeit ein kleines Geschlecht gefunden, wie oft die Geschichte
von versäumten Gelegenheiten und deren verhängnisvollen Folgen für ganze
Völker und Zeiten zu berichten. Und es dürfte doch schwer werden, z. B. die
Eroberung Englands durch die Normannen oder die unselige religiöse Trennung
Deutschlands durch Karl V. als soziale oder gar wirtschaftliche Notwendigkeiten
zu erweisen. Wenn die Vertreter dieser Richtung ihre Anschauung dahin zu¬
sammenfassen, daß die Zukunft im ganzen das Resultat der Vergangenheit im
ganzen sei und nichts andres sein könne, so übersehen sie. daß die einzige
lebendige gestaltende Kraft in der mehr oder weniger bewußt wirkenden Gegen¬
wart liegt, die Vergangenheit nur eine unuuterbrochne Kette solcher auf ein¬
ander folgenden Gegenwarten ist. und daß sich auch die Zukunft je nach dem
Bilde gestaltet, das sich die Gegenwart von ihr macht. Wer möchte das
angesichts der vollzoguen nationalen Einigung der deutschen Nation noch be¬
streikn?

Karl Lamprecht hat des öfter" betont, daß sowohl der Zustand und die
Bestrebungen der Massen wie die Thaten der Führer die Geschichte ausmachten,
und sich in seiner Deutschen Geschichte von zu großer Einseitigkeit frei gehalten.
In seinen in der Zukunft veröffentlichten methodologischen Aufsätzen geht er aber
zu weit, wenn er Bismarck, weil er bei dem vorzeitigen Drängen zum Eintritt
Badens in den Norddeutschen Bund das Wort gebraucht hat: nnclg, t'in-t, von
rvAiwr, zum Vertreter einer diesem Wort entsprechenden Geschichtsauffassung
wacht. Dabei ist denn doch vergessen, daß sich Bismarck bei seiner Ernennung
zum Minister gerade verpflichtet hat, gegen den Strom zu schwimmen, ohne
Budget und ohne Majorität zu regieren, obgleich König Wilhelm ausdrücklich auf
die Gefahren einer solchen Aufgabe mit dem Hinweis auf das Schicksal Karls I.
u"d Straffords aufmerksam gemacht hat. Sein Wirken von 1862 bis 1866
ist ein großes, schließlich siegreiches Ringen gegen die Wogen der öffentlichen
Meinung gewesen, von denen er gewiß nicht getragen wurde. Mau darf aus
"nem gelegentlichen Zitat, das zu einem bestimmten Zweck gebraucht wird,
"och nicht auf eine grundlegende Überzeugung schließen. Es ist ebenso bekannt
wie erklärlich, daß die willensmächtigsteu Staatsmänner jede Hemmung ihres


Theodor von Bernhardt als Nationalökonom

Wirtschaft im Begriff, in einer falschen Richtung abzutreiben, indem sie den
Kernpunkt alles geschichtlichen Werdens und Geschehens, das Wählen unter
verschiednen Möglichkeiten und den verantwortlichen Entschluß des Menschen
verkennen oder sogar gänzlich verneinen.

Was ist es anders als eine Verneinung, wenn man die Geschichte lediglich
für eine Erfüllung sozialer Notwendigkeiten ausgiebt, in dem Sinne, daß alle
großen Männer nebst ihren Gedanken und Thaten nur das notwendige Produkt
gewisser Massenzustände seien? Demgegenüber hat schon der alte Droysen
darauf hingewiesen, daß geschichtliche Notwendigkeiten immer nur geschichtliche
Möglichkeiten sind, die erfüllt werden oder unerfüllt bleiben können. Wie oft
hat nicht eine große Zeit ein kleines Geschlecht gefunden, wie oft die Geschichte
von versäumten Gelegenheiten und deren verhängnisvollen Folgen für ganze
Völker und Zeiten zu berichten. Und es dürfte doch schwer werden, z. B. die
Eroberung Englands durch die Normannen oder die unselige religiöse Trennung
Deutschlands durch Karl V. als soziale oder gar wirtschaftliche Notwendigkeiten
zu erweisen. Wenn die Vertreter dieser Richtung ihre Anschauung dahin zu¬
sammenfassen, daß die Zukunft im ganzen das Resultat der Vergangenheit im
ganzen sei und nichts andres sein könne, so übersehen sie. daß die einzige
lebendige gestaltende Kraft in der mehr oder weniger bewußt wirkenden Gegen¬
wart liegt, die Vergangenheit nur eine unuuterbrochne Kette solcher auf ein¬
ander folgenden Gegenwarten ist. und daß sich auch die Zukunft je nach dem
Bilde gestaltet, das sich die Gegenwart von ihr macht. Wer möchte das
angesichts der vollzoguen nationalen Einigung der deutschen Nation noch be¬
streikn?

Karl Lamprecht hat des öfter» betont, daß sowohl der Zustand und die
Bestrebungen der Massen wie die Thaten der Führer die Geschichte ausmachten,
und sich in seiner Deutschen Geschichte von zu großer Einseitigkeit frei gehalten.
In seinen in der Zukunft veröffentlichten methodologischen Aufsätzen geht er aber
zu weit, wenn er Bismarck, weil er bei dem vorzeitigen Drängen zum Eintritt
Badens in den Norddeutschen Bund das Wort gebraucht hat: nnclg, t'in-t, von
rvAiwr, zum Vertreter einer diesem Wort entsprechenden Geschichtsauffassung
wacht. Dabei ist denn doch vergessen, daß sich Bismarck bei seiner Ernennung
zum Minister gerade verpflichtet hat, gegen den Strom zu schwimmen, ohne
Budget und ohne Majorität zu regieren, obgleich König Wilhelm ausdrücklich auf
die Gefahren einer solchen Aufgabe mit dem Hinweis auf das Schicksal Karls I.
u»d Straffords aufmerksam gemacht hat. Sein Wirken von 1862 bis 1866
ist ein großes, schließlich siegreiches Ringen gegen die Wogen der öffentlichen
Meinung gewesen, von denen er gewiß nicht getragen wurde. Mau darf aus
"nem gelegentlichen Zitat, das zu einem bestimmten Zweck gebraucht wird,
"och nicht auf eine grundlegende Überzeugung schließen. Es ist ebenso bekannt
wie erklärlich, daß die willensmächtigsteu Staatsmänner jede Hemmung ihres


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0127" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229075"/>
            <fw type="header" place="top"> Theodor von Bernhardt als Nationalökonom</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_265" prev="#ID_264"> Wirtschaft im Begriff, in einer falschen Richtung abzutreiben, indem sie den<lb/>
Kernpunkt alles geschichtlichen Werdens und Geschehens, das Wählen unter<lb/>
verschiednen Möglichkeiten und den verantwortlichen Entschluß des Menschen<lb/>
verkennen oder sogar gänzlich verneinen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_266"> Was ist es anders als eine Verneinung, wenn man die Geschichte lediglich<lb/>
für eine Erfüllung sozialer Notwendigkeiten ausgiebt, in dem Sinne, daß alle<lb/>
großen Männer nebst ihren Gedanken und Thaten nur das notwendige Produkt<lb/>
gewisser Massenzustände seien? Demgegenüber hat schon der alte Droysen<lb/>
darauf hingewiesen, daß geschichtliche Notwendigkeiten immer nur geschichtliche<lb/>
Möglichkeiten sind, die erfüllt werden oder unerfüllt bleiben können. Wie oft<lb/>
hat nicht eine große Zeit ein kleines Geschlecht gefunden, wie oft die Geschichte<lb/>
von versäumten Gelegenheiten und deren verhängnisvollen Folgen für ganze<lb/>
Völker und Zeiten zu berichten. Und es dürfte doch schwer werden, z. B. die<lb/>
Eroberung Englands durch die Normannen oder die unselige religiöse Trennung<lb/>
Deutschlands durch Karl V. als soziale oder gar wirtschaftliche Notwendigkeiten<lb/>
zu erweisen. Wenn die Vertreter dieser Richtung ihre Anschauung dahin zu¬<lb/>
sammenfassen, daß die Zukunft im ganzen das Resultat der Vergangenheit im<lb/>
ganzen sei und nichts andres sein könne, so übersehen sie. daß die einzige<lb/>
lebendige gestaltende Kraft in der mehr oder weniger bewußt wirkenden Gegen¬<lb/>
wart liegt, die Vergangenheit nur eine unuuterbrochne Kette solcher auf ein¬<lb/>
ander folgenden Gegenwarten ist. und daß sich auch die Zukunft je nach dem<lb/>
Bilde gestaltet, das sich die Gegenwart von ihr macht. Wer möchte das<lb/>
angesichts der vollzoguen nationalen Einigung der deutschen Nation noch be¬<lb/>
streikn?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_267" next="#ID_268"> Karl Lamprecht hat des öfter» betont, daß sowohl der Zustand und die<lb/>
Bestrebungen der Massen wie die Thaten der Führer die Geschichte ausmachten,<lb/>
und sich in seiner Deutschen Geschichte von zu großer Einseitigkeit frei gehalten.<lb/>
In seinen in der Zukunft veröffentlichten methodologischen Aufsätzen geht er aber<lb/>
zu weit, wenn er Bismarck, weil er bei dem vorzeitigen Drängen zum Eintritt<lb/>
Badens in den Norddeutschen Bund das Wort gebraucht hat: nnclg, t'in-t, von<lb/>
rvAiwr, zum Vertreter einer diesem Wort entsprechenden Geschichtsauffassung<lb/>
wacht. Dabei ist denn doch vergessen, daß sich Bismarck bei seiner Ernennung<lb/>
zum Minister gerade verpflichtet hat, gegen den Strom zu schwimmen, ohne<lb/>
Budget und ohne Majorität zu regieren, obgleich König Wilhelm ausdrücklich auf<lb/>
die Gefahren einer solchen Aufgabe mit dem Hinweis auf das Schicksal Karls I.<lb/>
u»d Straffords aufmerksam gemacht hat. Sein Wirken von 1862 bis 1866<lb/>
ist ein großes, schließlich siegreiches Ringen gegen die Wogen der öffentlichen<lb/>
Meinung gewesen, von denen er gewiß nicht getragen wurde. Mau darf aus<lb/>
"nem gelegentlichen Zitat, das zu einem bestimmten Zweck gebraucht wird,<lb/>
"och nicht auf eine grundlegende Überzeugung schließen. Es ist ebenso bekannt<lb/>
wie erklärlich, daß die willensmächtigsteu Staatsmänner jede Hemmung ihres</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0127] Theodor von Bernhardt als Nationalökonom Wirtschaft im Begriff, in einer falschen Richtung abzutreiben, indem sie den Kernpunkt alles geschichtlichen Werdens und Geschehens, das Wählen unter verschiednen Möglichkeiten und den verantwortlichen Entschluß des Menschen verkennen oder sogar gänzlich verneinen. Was ist es anders als eine Verneinung, wenn man die Geschichte lediglich für eine Erfüllung sozialer Notwendigkeiten ausgiebt, in dem Sinne, daß alle großen Männer nebst ihren Gedanken und Thaten nur das notwendige Produkt gewisser Massenzustände seien? Demgegenüber hat schon der alte Droysen darauf hingewiesen, daß geschichtliche Notwendigkeiten immer nur geschichtliche Möglichkeiten sind, die erfüllt werden oder unerfüllt bleiben können. Wie oft hat nicht eine große Zeit ein kleines Geschlecht gefunden, wie oft die Geschichte von versäumten Gelegenheiten und deren verhängnisvollen Folgen für ganze Völker und Zeiten zu berichten. Und es dürfte doch schwer werden, z. B. die Eroberung Englands durch die Normannen oder die unselige religiöse Trennung Deutschlands durch Karl V. als soziale oder gar wirtschaftliche Notwendigkeiten zu erweisen. Wenn die Vertreter dieser Richtung ihre Anschauung dahin zu¬ sammenfassen, daß die Zukunft im ganzen das Resultat der Vergangenheit im ganzen sei und nichts andres sein könne, so übersehen sie. daß die einzige lebendige gestaltende Kraft in der mehr oder weniger bewußt wirkenden Gegen¬ wart liegt, die Vergangenheit nur eine unuuterbrochne Kette solcher auf ein¬ ander folgenden Gegenwarten ist. und daß sich auch die Zukunft je nach dem Bilde gestaltet, das sich die Gegenwart von ihr macht. Wer möchte das angesichts der vollzoguen nationalen Einigung der deutschen Nation noch be¬ streikn? Karl Lamprecht hat des öfter» betont, daß sowohl der Zustand und die Bestrebungen der Massen wie die Thaten der Führer die Geschichte ausmachten, und sich in seiner Deutschen Geschichte von zu großer Einseitigkeit frei gehalten. In seinen in der Zukunft veröffentlichten methodologischen Aufsätzen geht er aber zu weit, wenn er Bismarck, weil er bei dem vorzeitigen Drängen zum Eintritt Badens in den Norddeutschen Bund das Wort gebraucht hat: nnclg, t'in-t, von rvAiwr, zum Vertreter einer diesem Wort entsprechenden Geschichtsauffassung wacht. Dabei ist denn doch vergessen, daß sich Bismarck bei seiner Ernennung zum Minister gerade verpflichtet hat, gegen den Strom zu schwimmen, ohne Budget und ohne Majorität zu regieren, obgleich König Wilhelm ausdrücklich auf die Gefahren einer solchen Aufgabe mit dem Hinweis auf das Schicksal Karls I. u»d Straffords aufmerksam gemacht hat. Sein Wirken von 1862 bis 1866 ist ein großes, schließlich siegreiches Ringen gegen die Wogen der öffentlichen Meinung gewesen, von denen er gewiß nicht getragen wurde. Mau darf aus "nem gelegentlichen Zitat, das zu einem bestimmten Zweck gebraucht wird, "och nicht auf eine grundlegende Überzeugung schließen. Es ist ebenso bekannt wie erklärlich, daß die willensmächtigsteu Staatsmänner jede Hemmung ihres

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/127
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/127>, abgerufen am 04.07.2024.