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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Polizeidiener oder Schutzleute in den Mittel- und Kleinstädter entsprechen weder
ein Zahl noch an Tüchtigkeit dem Bedürfnis. Sie sind selbst bei unbedeutenden
Auflaufen fast immer in der kläglichsten Lage. Sowohl die Vermehrung als die
bessere Bezahlung und bessere Schulung des Polizeipersonals ist ernstlich zu ver¬
langen. Der Staat hat dabei selbst und unmittelbar das Heft in der Hand zu
behalten, die vielgerühmte Selbstverwaltung ist in England auf diesem Gebiete
längst bankerott geworden, und bei uns ist sie von vornherein bankerott gewesen.
Es wäre im höchsten Grade zu beklagen, wenn man in Preußen glauben sollte,
diese Schwäche der polizeilichen Einrichtungen durch schärferes Schießen und Hauen
wett machen zu können.

Wenn man annähme, der moralische Eindruck, den der Erlaß auf das Volk
mache, wäre insofern von präventivem Wert, als nun der Janhagel sich Hüten
würde, sich der Aufforderung, auseinander zu gehen, zu widersetzen, so wären das
sehr unpraktische Illusionen. Abgesehen davon, daß das Auseinandergehen meist
sehr viel leichter verlangt als selbst beim besten Willen gemacht ist -- ein Um¬
stand, der die Schreckschüsse der einschreitenden Polizei häufig nahe legt --, so
denkt die leichtsinnige, erregte und neugierige Masse, die bei diesen Affairen haupt¬
sächlich in Betracht kommt, an den "Erlaß" überhaupt uicht. Vielleicht könnten
eine Reihe sehr blutig ablaufender Tumulte Eindruck machen, und es fehlt ja nicht
an gedankenlosen oder schlechten Leuten, die den Wunsch nach solchen auch für ein
Zeichen konservativer Gesinnung halten. Wer aber nicht gedankenlos redet und
nicht schlecht ist. der wird diese Pädagogik nicht gut heißen. Will man Eindruck
machen und unnötiges Blutvergießen vermeiden, so sorge man für die rechtzeitige
Bereitschaft möglichst reichlicher tüchtiger Polizeimannschaften und für den intensivsten
Aufklaruugsdienst, d. h. die sorgfältigste Überwachung aller Vorkommnisse und Ver¬
anstaltungen, die zu Tumulten Veranlassung geben können, durch zuverlässige
achtungswürdige Beamte. Die Sünden der preußischen Polizeiverwaltung geben
dem Minister wahrhaftig Grund genug zum praktischen Eingreifen. Mit "Erlassen"
'se wenig gethan, wenn die hohen "Chefs" sich nicht mehr um den praktischen
Dienst tief unten, auf den alles ankommt, kümmern.

Und selbst wenn -- was sehr unwahrscheinlich ist -- der Erlaß die Wirkung
der durch ihn angeblich verbotnen Schreckschüsse haben sollte, so wäre die traurige
"ber ganz sichere Nebenwirkung immer noch tief zu beklagen, daß er viele Tausend
gebildeter, patriotischer Männer in Deutschland unnötig vor den Kopf stößt und
noch viel mehr ganz brave aber leichtgläubige Arbeiter mißtrauisch macht und der
^ozialdemokratie ins Garn treibt.


Bücher über Frankreich.

Obwohl wir im allgemeinen über das Leben
unsrer westlichen Nachbarn besser unterrichtet sind, als sie über uns, so fehlt unsrer
Kenntnis über sie doch selbstverständlich noch sehr vieles, und Bücher, die mit der
Absicht auftreten, hier eine Lücke auszufüllen, find von vornherein unsrer Be¬
achtung wert.

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^ Die Entwicklung der französischen Litteratur seit 1350 von Krich
Meyer (Gotha, Perthes) ist ein solches Buch. Der Verfasser weist darauf hin. va,z
steh die Franzosen viel mehr um. das Treiben ihrer Schriftsteller bekümmern und
wchhafter über das Verhältnis der Tageslitteratur zu deu Erscheinungen der Ver¬
gangenheit nachdenken, als wir es in Bezug auf unsre Litteratur zu thun pflegen
ihnen ist ja auch das Interesse an der Sprache als Form viel großer, und
°/e Fragen des Klassizismus und der Romantik, worüber alljährlich in der Rsvuo
cieux Nonäss Aufsätze erscheinen, sind unserm Publikum höchst gleichgiltig, oder


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Polizeidiener oder Schutzleute in den Mittel- und Kleinstädter entsprechen weder
ein Zahl noch an Tüchtigkeit dem Bedürfnis. Sie sind selbst bei unbedeutenden
Auflaufen fast immer in der kläglichsten Lage. Sowohl die Vermehrung als die
bessere Bezahlung und bessere Schulung des Polizeipersonals ist ernstlich zu ver¬
langen. Der Staat hat dabei selbst und unmittelbar das Heft in der Hand zu
behalten, die vielgerühmte Selbstverwaltung ist in England auf diesem Gebiete
längst bankerott geworden, und bei uns ist sie von vornherein bankerott gewesen.
Es wäre im höchsten Grade zu beklagen, wenn man in Preußen glauben sollte,
diese Schwäche der polizeilichen Einrichtungen durch schärferes Schießen und Hauen
wett machen zu können.

Wenn man annähme, der moralische Eindruck, den der Erlaß auf das Volk
mache, wäre insofern von präventivem Wert, als nun der Janhagel sich Hüten
würde, sich der Aufforderung, auseinander zu gehen, zu widersetzen, so wären das
sehr unpraktische Illusionen. Abgesehen davon, daß das Auseinandergehen meist
sehr viel leichter verlangt als selbst beim besten Willen gemacht ist — ein Um¬
stand, der die Schreckschüsse der einschreitenden Polizei häufig nahe legt —, so
denkt die leichtsinnige, erregte und neugierige Masse, die bei diesen Affairen haupt¬
sächlich in Betracht kommt, an den „Erlaß" überhaupt uicht. Vielleicht könnten
eine Reihe sehr blutig ablaufender Tumulte Eindruck machen, und es fehlt ja nicht
an gedankenlosen oder schlechten Leuten, die den Wunsch nach solchen auch für ein
Zeichen konservativer Gesinnung halten. Wer aber nicht gedankenlos redet und
nicht schlecht ist. der wird diese Pädagogik nicht gut heißen. Will man Eindruck
machen und unnötiges Blutvergießen vermeiden, so sorge man für die rechtzeitige
Bereitschaft möglichst reichlicher tüchtiger Polizeimannschaften und für den intensivsten
Aufklaruugsdienst, d. h. die sorgfältigste Überwachung aller Vorkommnisse und Ver¬
anstaltungen, die zu Tumulten Veranlassung geben können, durch zuverlässige
achtungswürdige Beamte. Die Sünden der preußischen Polizeiverwaltung geben
dem Minister wahrhaftig Grund genug zum praktischen Eingreifen. Mit „Erlassen"
'se wenig gethan, wenn die hohen „Chefs" sich nicht mehr um den praktischen
Dienst tief unten, auf den alles ankommt, kümmern.

Und selbst wenn — was sehr unwahrscheinlich ist — der Erlaß die Wirkung
der durch ihn angeblich verbotnen Schreckschüsse haben sollte, so wäre die traurige
"ber ganz sichere Nebenwirkung immer noch tief zu beklagen, daß er viele Tausend
gebildeter, patriotischer Männer in Deutschland unnötig vor den Kopf stößt und
noch viel mehr ganz brave aber leichtgläubige Arbeiter mißtrauisch macht und der
^ozialdemokratie ins Garn treibt.


Bücher über Frankreich.

Obwohl wir im allgemeinen über das Leben
unsrer westlichen Nachbarn besser unterrichtet sind, als sie über uns, so fehlt unsrer
Kenntnis über sie doch selbstverständlich noch sehr vieles, und Bücher, die mit der
Absicht auftreten, hier eine Lücke auszufüllen, find von vornherein unsrer Be¬
achtung wert.

...>.
^ Die Entwicklung der französischen Litteratur seit 1350 von Krich
Meyer (Gotha, Perthes) ist ein solches Buch. Der Verfasser weist darauf hin. va,z
steh die Franzosen viel mehr um. das Treiben ihrer Schriftsteller bekümmern und
wchhafter über das Verhältnis der Tageslitteratur zu deu Erscheinungen der Ver¬
gangenheit nachdenken, als wir es in Bezug auf unsre Litteratur zu thun pflegen
ihnen ist ja auch das Interesse an der Sprache als Form viel großer, und
°/e Fragen des Klassizismus und der Romantik, worüber alljährlich in der Rsvuo
cieux Nonäss Aufsätze erscheinen, sind unserm Publikum höchst gleichgiltig, oder


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[0121] Maßgebliches und Unmaßgebliches Polizeidiener oder Schutzleute in den Mittel- und Kleinstädter entsprechen weder ein Zahl noch an Tüchtigkeit dem Bedürfnis. Sie sind selbst bei unbedeutenden Auflaufen fast immer in der kläglichsten Lage. Sowohl die Vermehrung als die bessere Bezahlung und bessere Schulung des Polizeipersonals ist ernstlich zu ver¬ langen. Der Staat hat dabei selbst und unmittelbar das Heft in der Hand zu behalten, die vielgerühmte Selbstverwaltung ist in England auf diesem Gebiete längst bankerott geworden, und bei uns ist sie von vornherein bankerott gewesen. Es wäre im höchsten Grade zu beklagen, wenn man in Preußen glauben sollte, diese Schwäche der polizeilichen Einrichtungen durch schärferes Schießen und Hauen wett machen zu können. Wenn man annähme, der moralische Eindruck, den der Erlaß auf das Volk mache, wäre insofern von präventivem Wert, als nun der Janhagel sich Hüten würde, sich der Aufforderung, auseinander zu gehen, zu widersetzen, so wären das sehr unpraktische Illusionen. Abgesehen davon, daß das Auseinandergehen meist sehr viel leichter verlangt als selbst beim besten Willen gemacht ist — ein Um¬ stand, der die Schreckschüsse der einschreitenden Polizei häufig nahe legt —, so denkt die leichtsinnige, erregte und neugierige Masse, die bei diesen Affairen haupt¬ sächlich in Betracht kommt, an den „Erlaß" überhaupt uicht. Vielleicht könnten eine Reihe sehr blutig ablaufender Tumulte Eindruck machen, und es fehlt ja nicht an gedankenlosen oder schlechten Leuten, die den Wunsch nach solchen auch für ein Zeichen konservativer Gesinnung halten. Wer aber nicht gedankenlos redet und nicht schlecht ist. der wird diese Pädagogik nicht gut heißen. Will man Eindruck machen und unnötiges Blutvergießen vermeiden, so sorge man für die rechtzeitige Bereitschaft möglichst reichlicher tüchtiger Polizeimannschaften und für den intensivsten Aufklaruugsdienst, d. h. die sorgfältigste Überwachung aller Vorkommnisse und Ver¬ anstaltungen, die zu Tumulten Veranlassung geben können, durch zuverlässige achtungswürdige Beamte. Die Sünden der preußischen Polizeiverwaltung geben dem Minister wahrhaftig Grund genug zum praktischen Eingreifen. Mit „Erlassen" 'se wenig gethan, wenn die hohen „Chefs" sich nicht mehr um den praktischen Dienst tief unten, auf den alles ankommt, kümmern. Und selbst wenn — was sehr unwahrscheinlich ist — der Erlaß die Wirkung der durch ihn angeblich verbotnen Schreckschüsse haben sollte, so wäre die traurige "ber ganz sichere Nebenwirkung immer noch tief zu beklagen, daß er viele Tausend gebildeter, patriotischer Männer in Deutschland unnötig vor den Kopf stößt und noch viel mehr ganz brave aber leichtgläubige Arbeiter mißtrauisch macht und der ^ozialdemokratie ins Garn treibt. Bücher über Frankreich. Obwohl wir im allgemeinen über das Leben unsrer westlichen Nachbarn besser unterrichtet sind, als sie über uns, so fehlt unsrer Kenntnis über sie doch selbstverständlich noch sehr vieles, und Bücher, die mit der Absicht auftreten, hier eine Lücke auszufüllen, find von vornherein unsrer Be¬ achtung wert. ...>. ^ Die Entwicklung der französischen Litteratur seit 1350 von Krich Meyer (Gotha, Perthes) ist ein solches Buch. Der Verfasser weist darauf hin. va,z steh die Franzosen viel mehr um. das Treiben ihrer Schriftsteller bekümmern und wchhafter über das Verhältnis der Tageslitteratur zu deu Erscheinungen der Ver¬ gangenheit nachdenken, als wir es in Bezug auf unsre Litteratur zu thun pflegen ihnen ist ja auch das Interesse an der Sprache als Form viel großer, und °/e Fragen des Klassizismus und der Romantik, worüber alljährlich in der Rsvuo cieux Nonäss Aufsätze erscheinen, sind unserm Publikum höchst gleichgiltig, oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/121>, abgerufen am 12.12.2024.