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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Oer Rede Sinn

blaue Brille, vom lieben Gott als Zugabe des Lebens und Wahrnehmens mit
in diese Welt gegeben worden sind. Übrigens besteht ein eigentümliches Ab¬
häigigkeitsverhältnis zwischen Raum und Zeit. Eine Änderung im Raume
kann nur in der Zeit erfolgen, beide vereinigt in sich der Begriff der Bewegung.
Das Licht gebraucht von der Sonne bis zur Erde acht Minuten, von den
nächsten Fixsternen Jahre, von den entfernter" Jahrhunderte und von den
fernsten Sternnebeln Jahrtausende. Wir sehen also nicht, was dort gegen¬
wärtig geschieht, sondern was vor Jahren bis Jahrtausenden geschehen ist.
So würde auch ein mit außerordentlicher Schärfe ausgestattetes Auge von
dorther sehen, nicht was auf unserm Planeten gegenwärtig ist, sondern was
sich vor langen Zeiten zugetragen hat. Ein vollkommnes Auge könnte von
einem Punkt im Weltenraum Ereignisse unsers Mittelalters, von einem noch
entferntern solche des Altertums wahrnehmen. Könnte ein solches Wesen an
verschiednen Orten zugleich sein, so würde es Ereignisse der verschiednen Zeiten
gleichzeitig sehen. Könnte es überall, d. h. vom Raume unabhängig sein, so
würde es Gegenwart und Vergangenheit auf einmal vor Augen haben, und
da nach der heutigen Naturwissenschaft die Zukunft notwendige Folge alles
Vergangnen ist, so müßte diesem Wesen auch die ganze Zukunft gegenwärtig
sein. Ein Wesen, das überall ist, bedarf also keiner Zeit, und so kann man
mit den Mitteln einer ganz materialistischen Naturanschauung aus der All¬
gegenwart eines Wesens, d. i. seiner Unabhängigkeit vom Raum, seiue All¬
wissenheit und Ewigkeit beweisen.

Bei der Zusammenfassung dieser Gedankenreihen haben wir den Zweck,
zu dem sie dem Verfasser dienen, die Notwendigkeit einer schärfern Formulirung
der im Leben gebräuchlichen Ausdrücke zu erweisen, nicht jedesmal mehr hervor¬
gehoben. Dies mag in einzelnen, hier und da herausgegriffnen Bemerkungen,
die besonders zutreffend scheinen, geschehen. Zwischen Aberglauben und wissen¬
schaftlicher Leichtgläubigkeit besteht logisch kein Unterschied, zum "Aberglauben"
gehört aber immer, daß ihn "ein andrer" hat; man hat ihn niemals selbst.
Die kriminalistische Wissenschaft, die mit den sogenannten Verbrecherkriterien
operirt, hat, so lange die Zahl der unbestraften Verbrecher nicht ermittelt ist.
nichts weiter bewiesen, als daß Individuen mit niedriger Stirn, abstehenden
Ohren usw. sich leichter sangen lassen. Sehr beachtenswert erscheint mir, was
der Verfasser über den heutigen Parlamentarismus, ebenfalls unter "Aber¬
glauben," sagt. Er meint, in künftigen Jahrhunderten werde man über das,
was man heute parlamentarisches Regime nenne und als den Gipfel der Volks¬
freiheit betrachte, ebenso verächtlich urteilen, wie wir heute über die Hexen¬
prozesse. Er spricht über Majoritütsherrschaft, Parteien und Wahlrechte mit
vieler Einsicht und giebt uns z. B. eine hypothetische Tabelle, nach der es
möglich ist, daß bei allgemeinem Wahlrecht und Wahlkreisen mit je einem Ab¬
geordneten eine kleine Wählerminorität einer Partei eine gewaltige Majorität


Oer Rede Sinn

blaue Brille, vom lieben Gott als Zugabe des Lebens und Wahrnehmens mit
in diese Welt gegeben worden sind. Übrigens besteht ein eigentümliches Ab¬
häigigkeitsverhältnis zwischen Raum und Zeit. Eine Änderung im Raume
kann nur in der Zeit erfolgen, beide vereinigt in sich der Begriff der Bewegung.
Das Licht gebraucht von der Sonne bis zur Erde acht Minuten, von den
nächsten Fixsternen Jahre, von den entfernter» Jahrhunderte und von den
fernsten Sternnebeln Jahrtausende. Wir sehen also nicht, was dort gegen¬
wärtig geschieht, sondern was vor Jahren bis Jahrtausenden geschehen ist.
So würde auch ein mit außerordentlicher Schärfe ausgestattetes Auge von
dorther sehen, nicht was auf unserm Planeten gegenwärtig ist, sondern was
sich vor langen Zeiten zugetragen hat. Ein vollkommnes Auge könnte von
einem Punkt im Weltenraum Ereignisse unsers Mittelalters, von einem noch
entferntern solche des Altertums wahrnehmen. Könnte ein solches Wesen an
verschiednen Orten zugleich sein, so würde es Ereignisse der verschiednen Zeiten
gleichzeitig sehen. Könnte es überall, d. h. vom Raume unabhängig sein, so
würde es Gegenwart und Vergangenheit auf einmal vor Augen haben, und
da nach der heutigen Naturwissenschaft die Zukunft notwendige Folge alles
Vergangnen ist, so müßte diesem Wesen auch die ganze Zukunft gegenwärtig
sein. Ein Wesen, das überall ist, bedarf also keiner Zeit, und so kann man
mit den Mitteln einer ganz materialistischen Naturanschauung aus der All¬
gegenwart eines Wesens, d. i. seiner Unabhängigkeit vom Raum, seiue All¬
wissenheit und Ewigkeit beweisen.

Bei der Zusammenfassung dieser Gedankenreihen haben wir den Zweck,
zu dem sie dem Verfasser dienen, die Notwendigkeit einer schärfern Formulirung
der im Leben gebräuchlichen Ausdrücke zu erweisen, nicht jedesmal mehr hervor¬
gehoben. Dies mag in einzelnen, hier und da herausgegriffnen Bemerkungen,
die besonders zutreffend scheinen, geschehen. Zwischen Aberglauben und wissen¬
schaftlicher Leichtgläubigkeit besteht logisch kein Unterschied, zum „Aberglauben"
gehört aber immer, daß ihn „ein andrer" hat; man hat ihn niemals selbst.
Die kriminalistische Wissenschaft, die mit den sogenannten Verbrecherkriterien
operirt, hat, so lange die Zahl der unbestraften Verbrecher nicht ermittelt ist.
nichts weiter bewiesen, als daß Individuen mit niedriger Stirn, abstehenden
Ohren usw. sich leichter sangen lassen. Sehr beachtenswert erscheint mir, was
der Verfasser über den heutigen Parlamentarismus, ebenfalls unter „Aber¬
glauben," sagt. Er meint, in künftigen Jahrhunderten werde man über das,
was man heute parlamentarisches Regime nenne und als den Gipfel der Volks¬
freiheit betrachte, ebenso verächtlich urteilen, wie wir heute über die Hexen¬
prozesse. Er spricht über Majoritütsherrschaft, Parteien und Wahlrechte mit
vieler Einsicht und giebt uns z. B. eine hypothetische Tabelle, nach der es
möglich ist, daß bei allgemeinem Wahlrecht und Wahlkreisen mit je einem Ab¬
geordneten eine kleine Wählerminorität einer Partei eine gewaltige Majorität


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[0114] Oer Rede Sinn blaue Brille, vom lieben Gott als Zugabe des Lebens und Wahrnehmens mit in diese Welt gegeben worden sind. Übrigens besteht ein eigentümliches Ab¬ häigigkeitsverhältnis zwischen Raum und Zeit. Eine Änderung im Raume kann nur in der Zeit erfolgen, beide vereinigt in sich der Begriff der Bewegung. Das Licht gebraucht von der Sonne bis zur Erde acht Minuten, von den nächsten Fixsternen Jahre, von den entfernter» Jahrhunderte und von den fernsten Sternnebeln Jahrtausende. Wir sehen also nicht, was dort gegen¬ wärtig geschieht, sondern was vor Jahren bis Jahrtausenden geschehen ist. So würde auch ein mit außerordentlicher Schärfe ausgestattetes Auge von dorther sehen, nicht was auf unserm Planeten gegenwärtig ist, sondern was sich vor langen Zeiten zugetragen hat. Ein vollkommnes Auge könnte von einem Punkt im Weltenraum Ereignisse unsers Mittelalters, von einem noch entferntern solche des Altertums wahrnehmen. Könnte ein solches Wesen an verschiednen Orten zugleich sein, so würde es Ereignisse der verschiednen Zeiten gleichzeitig sehen. Könnte es überall, d. h. vom Raume unabhängig sein, so würde es Gegenwart und Vergangenheit auf einmal vor Augen haben, und da nach der heutigen Naturwissenschaft die Zukunft notwendige Folge alles Vergangnen ist, so müßte diesem Wesen auch die ganze Zukunft gegenwärtig sein. Ein Wesen, das überall ist, bedarf also keiner Zeit, und so kann man mit den Mitteln einer ganz materialistischen Naturanschauung aus der All¬ gegenwart eines Wesens, d. i. seiner Unabhängigkeit vom Raum, seiue All¬ wissenheit und Ewigkeit beweisen. Bei der Zusammenfassung dieser Gedankenreihen haben wir den Zweck, zu dem sie dem Verfasser dienen, die Notwendigkeit einer schärfern Formulirung der im Leben gebräuchlichen Ausdrücke zu erweisen, nicht jedesmal mehr hervor¬ gehoben. Dies mag in einzelnen, hier und da herausgegriffnen Bemerkungen, die besonders zutreffend scheinen, geschehen. Zwischen Aberglauben und wissen¬ schaftlicher Leichtgläubigkeit besteht logisch kein Unterschied, zum „Aberglauben" gehört aber immer, daß ihn „ein andrer" hat; man hat ihn niemals selbst. Die kriminalistische Wissenschaft, die mit den sogenannten Verbrecherkriterien operirt, hat, so lange die Zahl der unbestraften Verbrecher nicht ermittelt ist. nichts weiter bewiesen, als daß Individuen mit niedriger Stirn, abstehenden Ohren usw. sich leichter sangen lassen. Sehr beachtenswert erscheint mir, was der Verfasser über den heutigen Parlamentarismus, ebenfalls unter „Aber¬ glauben," sagt. Er meint, in künftigen Jahrhunderten werde man über das, was man heute parlamentarisches Regime nenne und als den Gipfel der Volks¬ freiheit betrachte, ebenso verächtlich urteilen, wie wir heute über die Hexen¬ prozesse. Er spricht über Majoritütsherrschaft, Parteien und Wahlrechte mit vieler Einsicht und giebt uns z. B. eine hypothetische Tabelle, nach der es möglich ist, daß bei allgemeinem Wahlrecht und Wahlkreisen mit je einem Ab¬ geordneten eine kleine Wählerminorität einer Partei eine gewaltige Majorität

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/114>, abgerufen am 12.12.2024.