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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Ein Neulutheraner

ihrer nicht teilhaft wird. Und wo bleibt denn bei der orthodoxen Auffassung
die Liebe? Ist ein Herz, dem das unermeßliche Erdenelend noch nicht genügt,
das auch noch gelassen ansetzn kann, wie mit Ausnahme eines Vergleichungs¬
weise winzigen Häufleins die ganze Menschheit, unzählbare Milliarden Seelen,
ewigen Qualen verfällt, und das sich dabei seiner eignen zukünftigen Seligkeit
M freuen vermag, ist ein solches Herz ein christliches Herz zu nennen? Und
ist ein Gott, der diese Einrichtung getroffen hat. die Verwirklichung der höchsten
Gottesidee? Ich kann von der im Neuen Testament als höchste gepriesenen
Tugend sehr wenig in diesen Wiedergebornen finden, die gar nicht an ihre
Mitmenschen, einzig bloß an ihr eignes Seelenheil und an die Ehre Gottes
denken. Diese ausschließliche Sorge für die eigne Seele ist doch nur eine ab¬
sonderliche Form der über die berechtigte Selbstliebe hinausgehenden Selbst¬
sucht (der Isch findet es ganz ungehörig, daß man aus der Selbstliebe, die
doch nur etwas natürliches sei. eine Pflicht gemacht habe; was macht er
denn daraus?), und was die Ehre Gottes anlangt, so meinen wir Welt¬
menschen.' der Allselige und Allmächtige bedürfe unsrer Sorge dafür nicht,
gerade durch den orthodoxen Glauben aber, der Gott zum -- wir wollen das
Wort nicht aussprechen -- des größten Teils des Menschengeschlechts macht,
sei sür diese Ehre recht schlecht gesorgt. Natürlich leugne ich nicht, daß die
Orthodoxen ein Recht haben, sich mit ihrer Auffassung von Gott und Er¬
lösung auf die Schrift zu stützen. Wir stoßen hier eben auf unergründliche
Geheimnisse. Da aber die Christen über diese Geheimnisse ihre eignen Köpfe
figürlich und die ihrer Mitchristen körperlich beinahe zweitausend Jahre
lang und immer vergebens zerbrochen haben, so können wir von ihrer Ent¬
schleierung unmöglich unser Handeln abhängig machen. Wir mit dem Lämplein
unsrer Verminst suchen unsern Weg durch dieses dunkle Leben und warten
ruhig ab. ob es sich am Ende herausstellen wird, daß wir, gleich dem Sohne
in dem Beispiel auf Seite 12 des zweiten Bandes, den Willen des Vaters
getroffen haben werden. Denn Sicherheit kann darüber bei Lebzeiten niemand
erlangen. Das Gewissen sagt uns zwar oft genug, was wir nicht thun sollen,
aber läßt uns, wie Herbart einmal bemerkt, meistens vollständig im Stich,
"w es sich darum handelt, was wir thun sollen, oder ob wir überhaupt etwas
thun sollen. Und beim verbietenden wie beim gebietenden Gewissen bleibt es
immer noch ungewiß, ob es wirklich Gott ist, der verbietet und gebietet, oder
eine menschliche, vielleicht sehr ungöttliche Autorität; der Katholik hat vor
einem Stück Fleisch am Freitag so große, mitunter noch weit größere Angst,
wie vor einer Lieblosigkeit oder Ungerechtigkeit gegen den Nächsten (wie viele
haben denn überhaupt Angst vor einer solchen?), und vor dem "Sanktissnnum'
uicht in die Kniee zu sinken, erscheint ihm als das größte Verbrechen, dem
gläubigen Kalvinisten das Gegenteil als freventlicher Götzendienst.

Wenn man so orthodox ist. daß man so ziemlich das ganze Menschen-


Ein Neulutheraner

ihrer nicht teilhaft wird. Und wo bleibt denn bei der orthodoxen Auffassung
die Liebe? Ist ein Herz, dem das unermeßliche Erdenelend noch nicht genügt,
das auch noch gelassen ansetzn kann, wie mit Ausnahme eines Vergleichungs¬
weise winzigen Häufleins die ganze Menschheit, unzählbare Milliarden Seelen,
ewigen Qualen verfällt, und das sich dabei seiner eignen zukünftigen Seligkeit
M freuen vermag, ist ein solches Herz ein christliches Herz zu nennen? Und
ist ein Gott, der diese Einrichtung getroffen hat. die Verwirklichung der höchsten
Gottesidee? Ich kann von der im Neuen Testament als höchste gepriesenen
Tugend sehr wenig in diesen Wiedergebornen finden, die gar nicht an ihre
Mitmenschen, einzig bloß an ihr eignes Seelenheil und an die Ehre Gottes
denken. Diese ausschließliche Sorge für die eigne Seele ist doch nur eine ab¬
sonderliche Form der über die berechtigte Selbstliebe hinausgehenden Selbst¬
sucht (der Isch findet es ganz ungehörig, daß man aus der Selbstliebe, die
doch nur etwas natürliches sei. eine Pflicht gemacht habe; was macht er
denn daraus?), und was die Ehre Gottes anlangt, so meinen wir Welt¬
menschen.' der Allselige und Allmächtige bedürfe unsrer Sorge dafür nicht,
gerade durch den orthodoxen Glauben aber, der Gott zum — wir wollen das
Wort nicht aussprechen — des größten Teils des Menschengeschlechts macht,
sei sür diese Ehre recht schlecht gesorgt. Natürlich leugne ich nicht, daß die
Orthodoxen ein Recht haben, sich mit ihrer Auffassung von Gott und Er¬
lösung auf die Schrift zu stützen. Wir stoßen hier eben auf unergründliche
Geheimnisse. Da aber die Christen über diese Geheimnisse ihre eignen Köpfe
figürlich und die ihrer Mitchristen körperlich beinahe zweitausend Jahre
lang und immer vergebens zerbrochen haben, so können wir von ihrer Ent¬
schleierung unmöglich unser Handeln abhängig machen. Wir mit dem Lämplein
unsrer Verminst suchen unsern Weg durch dieses dunkle Leben und warten
ruhig ab. ob es sich am Ende herausstellen wird, daß wir, gleich dem Sohne
in dem Beispiel auf Seite 12 des zweiten Bandes, den Willen des Vaters
getroffen haben werden. Denn Sicherheit kann darüber bei Lebzeiten niemand
erlangen. Das Gewissen sagt uns zwar oft genug, was wir nicht thun sollen,
aber läßt uns, wie Herbart einmal bemerkt, meistens vollständig im Stich,
"w es sich darum handelt, was wir thun sollen, oder ob wir überhaupt etwas
thun sollen. Und beim verbietenden wie beim gebietenden Gewissen bleibt es
immer noch ungewiß, ob es wirklich Gott ist, der verbietet und gebietet, oder
eine menschliche, vielleicht sehr ungöttliche Autorität; der Katholik hat vor
einem Stück Fleisch am Freitag so große, mitunter noch weit größere Angst,
wie vor einer Lieblosigkeit oder Ungerechtigkeit gegen den Nächsten (wie viele
haben denn überhaupt Angst vor einer solchen?), und vor dem „Sanktissnnum'
uicht in die Kniee zu sinken, erscheint ihm als das größte Verbrechen, dem
gläubigen Kalvinisten das Gegenteil als freventlicher Götzendienst.

Wenn man so orthodox ist. daß man so ziemlich das ganze Menschen-


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[0107] Ein Neulutheraner ihrer nicht teilhaft wird. Und wo bleibt denn bei der orthodoxen Auffassung die Liebe? Ist ein Herz, dem das unermeßliche Erdenelend noch nicht genügt, das auch noch gelassen ansetzn kann, wie mit Ausnahme eines Vergleichungs¬ weise winzigen Häufleins die ganze Menschheit, unzählbare Milliarden Seelen, ewigen Qualen verfällt, und das sich dabei seiner eignen zukünftigen Seligkeit M freuen vermag, ist ein solches Herz ein christliches Herz zu nennen? Und ist ein Gott, der diese Einrichtung getroffen hat. die Verwirklichung der höchsten Gottesidee? Ich kann von der im Neuen Testament als höchste gepriesenen Tugend sehr wenig in diesen Wiedergebornen finden, die gar nicht an ihre Mitmenschen, einzig bloß an ihr eignes Seelenheil und an die Ehre Gottes denken. Diese ausschließliche Sorge für die eigne Seele ist doch nur eine ab¬ sonderliche Form der über die berechtigte Selbstliebe hinausgehenden Selbst¬ sucht (der Isch findet es ganz ungehörig, daß man aus der Selbstliebe, die doch nur etwas natürliches sei. eine Pflicht gemacht habe; was macht er denn daraus?), und was die Ehre Gottes anlangt, so meinen wir Welt¬ menschen.' der Allselige und Allmächtige bedürfe unsrer Sorge dafür nicht, gerade durch den orthodoxen Glauben aber, der Gott zum — wir wollen das Wort nicht aussprechen — des größten Teils des Menschengeschlechts macht, sei sür diese Ehre recht schlecht gesorgt. Natürlich leugne ich nicht, daß die Orthodoxen ein Recht haben, sich mit ihrer Auffassung von Gott und Er¬ lösung auf die Schrift zu stützen. Wir stoßen hier eben auf unergründliche Geheimnisse. Da aber die Christen über diese Geheimnisse ihre eignen Köpfe figürlich und die ihrer Mitchristen körperlich beinahe zweitausend Jahre lang und immer vergebens zerbrochen haben, so können wir von ihrer Ent¬ schleierung unmöglich unser Handeln abhängig machen. Wir mit dem Lämplein unsrer Verminst suchen unsern Weg durch dieses dunkle Leben und warten ruhig ab. ob es sich am Ende herausstellen wird, daß wir, gleich dem Sohne in dem Beispiel auf Seite 12 des zweiten Bandes, den Willen des Vaters getroffen haben werden. Denn Sicherheit kann darüber bei Lebzeiten niemand erlangen. Das Gewissen sagt uns zwar oft genug, was wir nicht thun sollen, aber läßt uns, wie Herbart einmal bemerkt, meistens vollständig im Stich, "w es sich darum handelt, was wir thun sollen, oder ob wir überhaupt etwas thun sollen. Und beim verbietenden wie beim gebietenden Gewissen bleibt es immer noch ungewiß, ob es wirklich Gott ist, der verbietet und gebietet, oder eine menschliche, vielleicht sehr ungöttliche Autorität; der Katholik hat vor einem Stück Fleisch am Freitag so große, mitunter noch weit größere Angst, wie vor einer Lieblosigkeit oder Ungerechtigkeit gegen den Nächsten (wie viele haben denn überhaupt Angst vor einer solchen?), und vor dem „Sanktissnnum' uicht in die Kniee zu sinken, erscheint ihm als das größte Verbrechen, dem gläubigen Kalvinisten das Gegenteil als freventlicher Götzendienst. Wenn man so orthodox ist. daß man so ziemlich das ganze Menschen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/107>, abgerufen am 24.07.2024.