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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Gin Neulutheraner

Der Isch Schachefeth hatte, wie er II, 176 mitteilt, im Alter von sech¬
zehn Jahren schon Strauß und Feuerbach verdaut und Schopenhauer und
Hartmann wenigstens mit Heißhunger verschlungen. Da ist es denn kein
Wunder, daß er schon in den zwanziger Jahren seines Lebens vom intellektuellen
Katzenjammer befallen wurde, wie Tolstoi infolge ganz andrer Studien vom
moralischen, und daß die Umkehr zum Glauben unter jenen heftigen Er¬
schütterungen vor sich ging, die ihm als eine Wiedergeburt erschienen. Worin
nun aber diese Wiedergeburt eigentlich besteht, davon kann sich einer, der sie
nicht selbst an sich erfahren hat, nun einmal keine Vorstellung machen. So
viel sieht man auf Seite 235 des ersten Bandes, daß es dazu gehört, ..dem
natürlichen Menschen zu entsagen," was aber doch wohl, da die Wiedergeburt
ein Werk Gottes und unverdiente Gnade sein soll, nicht so zu verstehen ist,
als ob der Mensch nur den Entschluß zu fassen brauchte, und die Entsagung
damit vollzogen wäre. Mag nun aber diese Entsagung durch einen mensch¬
lichen Willensakt oder durch ein von Gott gewirktes Wunder zustande
kommen, jedenfalls kann ich mir nichts andres darunter denken, als die
katholisch-asketische Weltentsagung, was freilich der Wicdergeborne lebhaft be¬
streikn wird, denn er haßt den Katholizismus womöglich noch stärker als den
armen Ritschl und geht in der Ungerechtigkeit gegen ihn so weit, daß er bei
der Prüfung der verschiednen Ansichten von der Rechtfertigung die tridentimsche
einer besondern Berücksichtigung gar nicht wert erachtet; hätte er das siebente
Kapitel gelesen - er scheint zu glauben, daß das Konzil nichts andres als
Anatheme erlassen habe --. so würde er eine gar nicht üble Beschreibung der
Rechtfertigung gefunden haben. die zugleich eine Beschreibung der Wieder¬
geburt ist. aber natürlich, als bloße Beschreibung, dem nichts nützt, der nicht
die Sache an sich erfahren hat. Daß man dem natürlichen Menschen ent¬
sagen müsse, davon steht nichts in dieser Beschreibung; der Lutheraner aber
fordert es. und wenn die Forderung einen Sinn haben foll. so schließt sie
auch den Verzicht auf die Ehe ein, denn die ist und bleibt nun einmal etwas
Natürliches; im Himmel wird nicht gefreit, wie Christus ausdrücklich gesagt hat.

Der Wicdergeborne war erst 31 Jahr alt. als er diese Betrachtungen
und Untersuchungen niederschrieb (II. 173); sollte er noch 20, 30 Jahre leben,
so würde er sich doch vielleicht durch allerlei Lebenserfahrungen veranlaßt
sehen, die schroffe Scheidung zwischen den vermeintlich Wiedergcbornen, den
allein echten Christen, und den übrigen, der i^sha xeräitiovis, fallen zu lassen.
Wiederholt bemerkt er, der Weg zur Sünde gehe durch das Schöne. Aber
geht er nicht auch durch die Gerechtigkeit? Wie viel Millionen Sünden nicht
allein, sondern Verbrechen werden im Namen der Gerechtigkeit, und meistens
w der aufrichtigen Meinung, daß es die Gerechtigkeit Gottes fordere, verübt!
Und wie steht es mit der Liebe? Ich meine nicht die sinnliche, sondern z. B.
die Elternliebe. Wie weit werden die Gewissen, wo es sich darum handelt.


Gin Neulutheraner

Der Isch Schachefeth hatte, wie er II, 176 mitteilt, im Alter von sech¬
zehn Jahren schon Strauß und Feuerbach verdaut und Schopenhauer und
Hartmann wenigstens mit Heißhunger verschlungen. Da ist es denn kein
Wunder, daß er schon in den zwanziger Jahren seines Lebens vom intellektuellen
Katzenjammer befallen wurde, wie Tolstoi infolge ganz andrer Studien vom
moralischen, und daß die Umkehr zum Glauben unter jenen heftigen Er¬
schütterungen vor sich ging, die ihm als eine Wiedergeburt erschienen. Worin
nun aber diese Wiedergeburt eigentlich besteht, davon kann sich einer, der sie
nicht selbst an sich erfahren hat, nun einmal keine Vorstellung machen. So
viel sieht man auf Seite 235 des ersten Bandes, daß es dazu gehört, ..dem
natürlichen Menschen zu entsagen," was aber doch wohl, da die Wiedergeburt
ein Werk Gottes und unverdiente Gnade sein soll, nicht so zu verstehen ist,
als ob der Mensch nur den Entschluß zu fassen brauchte, und die Entsagung
damit vollzogen wäre. Mag nun aber diese Entsagung durch einen mensch¬
lichen Willensakt oder durch ein von Gott gewirktes Wunder zustande
kommen, jedenfalls kann ich mir nichts andres darunter denken, als die
katholisch-asketische Weltentsagung, was freilich der Wicdergeborne lebhaft be¬
streikn wird, denn er haßt den Katholizismus womöglich noch stärker als den
armen Ritschl und geht in der Ungerechtigkeit gegen ihn so weit, daß er bei
der Prüfung der verschiednen Ansichten von der Rechtfertigung die tridentimsche
einer besondern Berücksichtigung gar nicht wert erachtet; hätte er das siebente
Kapitel gelesen - er scheint zu glauben, daß das Konzil nichts andres als
Anatheme erlassen habe —. so würde er eine gar nicht üble Beschreibung der
Rechtfertigung gefunden haben. die zugleich eine Beschreibung der Wieder¬
geburt ist. aber natürlich, als bloße Beschreibung, dem nichts nützt, der nicht
die Sache an sich erfahren hat. Daß man dem natürlichen Menschen ent¬
sagen müsse, davon steht nichts in dieser Beschreibung; der Lutheraner aber
fordert es. und wenn die Forderung einen Sinn haben foll. so schließt sie
auch den Verzicht auf die Ehe ein, denn die ist und bleibt nun einmal etwas
Natürliches; im Himmel wird nicht gefreit, wie Christus ausdrücklich gesagt hat.

Der Wicdergeborne war erst 31 Jahr alt. als er diese Betrachtungen
und Untersuchungen niederschrieb (II. 173); sollte er noch 20, 30 Jahre leben,
so würde er sich doch vielleicht durch allerlei Lebenserfahrungen veranlaßt
sehen, die schroffe Scheidung zwischen den vermeintlich Wiedergcbornen, den
allein echten Christen, und den übrigen, der i^sha xeräitiovis, fallen zu lassen.
Wiederholt bemerkt er, der Weg zur Sünde gehe durch das Schöne. Aber
geht er nicht auch durch die Gerechtigkeit? Wie viel Millionen Sünden nicht
allein, sondern Verbrechen werden im Namen der Gerechtigkeit, und meistens
w der aufrichtigen Meinung, daß es die Gerechtigkeit Gottes fordere, verübt!
Und wie steht es mit der Liebe? Ich meine nicht die sinnliche, sondern z. B.
die Elternliebe. Wie weit werden die Gewissen, wo es sich darum handelt.


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[0105] Gin Neulutheraner Der Isch Schachefeth hatte, wie er II, 176 mitteilt, im Alter von sech¬ zehn Jahren schon Strauß und Feuerbach verdaut und Schopenhauer und Hartmann wenigstens mit Heißhunger verschlungen. Da ist es denn kein Wunder, daß er schon in den zwanziger Jahren seines Lebens vom intellektuellen Katzenjammer befallen wurde, wie Tolstoi infolge ganz andrer Studien vom moralischen, und daß die Umkehr zum Glauben unter jenen heftigen Er¬ schütterungen vor sich ging, die ihm als eine Wiedergeburt erschienen. Worin nun aber diese Wiedergeburt eigentlich besteht, davon kann sich einer, der sie nicht selbst an sich erfahren hat, nun einmal keine Vorstellung machen. So viel sieht man auf Seite 235 des ersten Bandes, daß es dazu gehört, ..dem natürlichen Menschen zu entsagen," was aber doch wohl, da die Wiedergeburt ein Werk Gottes und unverdiente Gnade sein soll, nicht so zu verstehen ist, als ob der Mensch nur den Entschluß zu fassen brauchte, und die Entsagung damit vollzogen wäre. Mag nun aber diese Entsagung durch einen mensch¬ lichen Willensakt oder durch ein von Gott gewirktes Wunder zustande kommen, jedenfalls kann ich mir nichts andres darunter denken, als die katholisch-asketische Weltentsagung, was freilich der Wicdergeborne lebhaft be¬ streikn wird, denn er haßt den Katholizismus womöglich noch stärker als den armen Ritschl und geht in der Ungerechtigkeit gegen ihn so weit, daß er bei der Prüfung der verschiednen Ansichten von der Rechtfertigung die tridentimsche einer besondern Berücksichtigung gar nicht wert erachtet; hätte er das siebente Kapitel gelesen - er scheint zu glauben, daß das Konzil nichts andres als Anatheme erlassen habe —. so würde er eine gar nicht üble Beschreibung der Rechtfertigung gefunden haben. die zugleich eine Beschreibung der Wieder¬ geburt ist. aber natürlich, als bloße Beschreibung, dem nichts nützt, der nicht die Sache an sich erfahren hat. Daß man dem natürlichen Menschen ent¬ sagen müsse, davon steht nichts in dieser Beschreibung; der Lutheraner aber fordert es. und wenn die Forderung einen Sinn haben foll. so schließt sie auch den Verzicht auf die Ehe ein, denn die ist und bleibt nun einmal etwas Natürliches; im Himmel wird nicht gefreit, wie Christus ausdrücklich gesagt hat. Der Wicdergeborne war erst 31 Jahr alt. als er diese Betrachtungen und Untersuchungen niederschrieb (II. 173); sollte er noch 20, 30 Jahre leben, so würde er sich doch vielleicht durch allerlei Lebenserfahrungen veranlaßt sehen, die schroffe Scheidung zwischen den vermeintlich Wiedergcbornen, den allein echten Christen, und den übrigen, der i^sha xeräitiovis, fallen zu lassen. Wiederholt bemerkt er, der Weg zur Sünde gehe durch das Schöne. Aber geht er nicht auch durch die Gerechtigkeit? Wie viel Millionen Sünden nicht allein, sondern Verbrechen werden im Namen der Gerechtigkeit, und meistens w der aufrichtigen Meinung, daß es die Gerechtigkeit Gottes fordere, verübt! Und wie steht es mit der Liebe? Ich meine nicht die sinnliche, sondern z. B. die Elternliebe. Wie weit werden die Gewissen, wo es sich darum handelt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/105>, abgerufen am 24.07.2024.