Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der japanische Farbenholzschuitt

Vielmehr giebt unsre heutige Philosophie die Realität der Außenwelt durchweg
zu und erkennt nur an, daß sich diese Außenwelt in verschiednen Köpfen ver¬
schieden male. Und gerade weil diese subjektive Auffassung eine verschiedne
ist, wird unsre Ästhetik immer wieder zu der Überzeugung kommen, daß nur
das objektiv gegebne ewig gleiche Wesen der Natur das gemeinsame Medium
aller künstlerischen Bestrebungen, der feste Pol in der Erscheinungen Flucht
sein kann, nicht eine beliebige individuelle, zeitlich und örtlich beschränkte Auf¬
fassung dieser objektiven Welt.

Der Verfasser ist freilich andrer Ansicht: in der japanischen Kunst waren
seiner Meinung nach "die Elemente vorgebildet, die in Europa im Ver¬
lauf einer jahrhundertelangen auf den Realismus gerichteten Entwick¬
lung fast ganz verloren gegangen waren. Aus der Charakterlosigkeit der
mit dem Auge des Photographen erfaßten Umrißbilder der Gestalten konnte
nur die Rückkehr zu einer durch dekorative Gesichtspunkte bestimmten Kompo¬
sitionsweise retten." Wird in der japanischen Malerei auch "eine Nachahmung
der Natur, also eine volle Täuschung, eine Illusion, weder erstrebt, noch er¬
reicht, so steht für uns eine solche Kunst doch mindestens ebenso hoch da wie
die der realistischen Periode, in der wir selbst leben; ja wir sehen, daß die
größten Künstler dieser Neuzeit, ein Raffael, ein Michelangelo, ein Lionardo,
wenn sie sich an die höchsten Aufgaben der raumschmückenden Kunst zu wagen
hatten, um der Größe, Klarheit und Eindrucksfähigkeit ihrer Schöpfungen
willen vieles von der ihnen erreichbaren Naturwahrheit aufgaben und sich somit
wiederum dem einfachern Ideal der Vergangenheit näherten, ohne freilich voll¬
kommen die gleiche Wirkung erreichen zu können wie die Alten."

Das heißt also mit andern Worten: der dekorative japanische Farbenholz¬
schnitt entspricht einem ästhetischen Ideal, dem die großen Meister der euro¬
päischen Malerei wohl nachgestrebt haben, dem sie aber nur in ihren monu¬
mentalen Bildern, also z. B. Lionardo in seinem Abendmahl, Michelangelo in
seinen sixtinischen Deckenbildern, Raffael in seineu Stanzenfresken nahe ge¬
kommen sind. In ihren Tafelbildern dagegen -- und die Tafelmalerei kommt
ja in der modernen Malerei fast allein in Betracht -- haben sie sich leider
durch die naturalistische Tendenz von den wahren Zielen der Kunst ablenken
lassen, und in dieser Beziehung muß unsre europäische Kunst eine neue Schule
durchmachen, die Schule des dekorativen japanischen Farbenholzschnitts.

Ich weiß nicht, ob der Verfasser sich die Konsequenzen dieser Auffassung
ganz klar gemacht hat. Wie mir scheint, führen sie mit Notwendigkeit dahin,
daß man die ganze naturalistische Malerei, von den van Eycks bis zu Dürer
und Rembrandt, von Masaccio bis zu Lionardo und Raffael für eine Ver-
irrung, ihr Resultat für einen Rückschritt erklären muß. Denn das, was der
japanische Fnrbenholzschnitt anstrebt, dekorative Flächenwirkung ohne Raum¬
illusion, war ja schon vor diesen Meistern in vollem Maße vorhanden.
Und das, worin sie über ihre Vorgänger hinausgekommen zu sein glaubten,


Der japanische Farbenholzschuitt

Vielmehr giebt unsre heutige Philosophie die Realität der Außenwelt durchweg
zu und erkennt nur an, daß sich diese Außenwelt in verschiednen Köpfen ver¬
schieden male. Und gerade weil diese subjektive Auffassung eine verschiedne
ist, wird unsre Ästhetik immer wieder zu der Überzeugung kommen, daß nur
das objektiv gegebne ewig gleiche Wesen der Natur das gemeinsame Medium
aller künstlerischen Bestrebungen, der feste Pol in der Erscheinungen Flucht
sein kann, nicht eine beliebige individuelle, zeitlich und örtlich beschränkte Auf¬
fassung dieser objektiven Welt.

Der Verfasser ist freilich andrer Ansicht: in der japanischen Kunst waren
seiner Meinung nach „die Elemente vorgebildet, die in Europa im Ver¬
lauf einer jahrhundertelangen auf den Realismus gerichteten Entwick¬
lung fast ganz verloren gegangen waren. Aus der Charakterlosigkeit der
mit dem Auge des Photographen erfaßten Umrißbilder der Gestalten konnte
nur die Rückkehr zu einer durch dekorative Gesichtspunkte bestimmten Kompo¬
sitionsweise retten." Wird in der japanischen Malerei auch „eine Nachahmung
der Natur, also eine volle Täuschung, eine Illusion, weder erstrebt, noch er¬
reicht, so steht für uns eine solche Kunst doch mindestens ebenso hoch da wie
die der realistischen Periode, in der wir selbst leben; ja wir sehen, daß die
größten Künstler dieser Neuzeit, ein Raffael, ein Michelangelo, ein Lionardo,
wenn sie sich an die höchsten Aufgaben der raumschmückenden Kunst zu wagen
hatten, um der Größe, Klarheit und Eindrucksfähigkeit ihrer Schöpfungen
willen vieles von der ihnen erreichbaren Naturwahrheit aufgaben und sich somit
wiederum dem einfachern Ideal der Vergangenheit näherten, ohne freilich voll¬
kommen die gleiche Wirkung erreichen zu können wie die Alten."

Das heißt also mit andern Worten: der dekorative japanische Farbenholz¬
schnitt entspricht einem ästhetischen Ideal, dem die großen Meister der euro¬
päischen Malerei wohl nachgestrebt haben, dem sie aber nur in ihren monu¬
mentalen Bildern, also z. B. Lionardo in seinem Abendmahl, Michelangelo in
seinen sixtinischen Deckenbildern, Raffael in seineu Stanzenfresken nahe ge¬
kommen sind. In ihren Tafelbildern dagegen — und die Tafelmalerei kommt
ja in der modernen Malerei fast allein in Betracht — haben sie sich leider
durch die naturalistische Tendenz von den wahren Zielen der Kunst ablenken
lassen, und in dieser Beziehung muß unsre europäische Kunst eine neue Schule
durchmachen, die Schule des dekorativen japanischen Farbenholzschnitts.

Ich weiß nicht, ob der Verfasser sich die Konsequenzen dieser Auffassung
ganz klar gemacht hat. Wie mir scheint, führen sie mit Notwendigkeit dahin,
daß man die ganze naturalistische Malerei, von den van Eycks bis zu Dürer
und Rembrandt, von Masaccio bis zu Lionardo und Raffael für eine Ver-
irrung, ihr Resultat für einen Rückschritt erklären muß. Denn das, was der
japanische Fnrbenholzschnitt anstrebt, dekorative Flächenwirkung ohne Raum¬
illusion, war ja schon vor diesen Meistern in vollem Maße vorhanden.
Und das, worin sie über ihre Vorgänger hinausgekommen zu sein glaubten,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0099" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228401"/>
          <fw type="header" place="top"> Der japanische Farbenholzschuitt</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_306" prev="#ID_305"> Vielmehr giebt unsre heutige Philosophie die Realität der Außenwelt durchweg<lb/>
zu und erkennt nur an, daß sich diese Außenwelt in verschiednen Köpfen ver¬<lb/>
schieden male. Und gerade weil diese subjektive Auffassung eine verschiedne<lb/>
ist, wird unsre Ästhetik immer wieder zu der Überzeugung kommen, daß nur<lb/>
das objektiv gegebne ewig gleiche Wesen der Natur das gemeinsame Medium<lb/>
aller künstlerischen Bestrebungen, der feste Pol in der Erscheinungen Flucht<lb/>
sein kann, nicht eine beliebige individuelle, zeitlich und örtlich beschränkte Auf¬<lb/>
fassung dieser objektiven Welt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_307"> Der Verfasser ist freilich andrer Ansicht: in der japanischen Kunst waren<lb/>
seiner Meinung nach &#x201E;die Elemente vorgebildet, die in Europa im Ver¬<lb/>
lauf einer jahrhundertelangen auf den Realismus gerichteten Entwick¬<lb/>
lung fast ganz verloren gegangen waren. Aus der Charakterlosigkeit der<lb/>
mit dem Auge des Photographen erfaßten Umrißbilder der Gestalten konnte<lb/>
nur die Rückkehr zu einer durch dekorative Gesichtspunkte bestimmten Kompo¬<lb/>
sitionsweise retten." Wird in der japanischen Malerei auch &#x201E;eine Nachahmung<lb/>
der Natur, also eine volle Täuschung, eine Illusion, weder erstrebt, noch er¬<lb/>
reicht, so steht für uns eine solche Kunst doch mindestens ebenso hoch da wie<lb/>
die der realistischen Periode, in der wir selbst leben; ja wir sehen, daß die<lb/>
größten Künstler dieser Neuzeit, ein Raffael, ein Michelangelo, ein Lionardo,<lb/>
wenn sie sich an die höchsten Aufgaben der raumschmückenden Kunst zu wagen<lb/>
hatten, um der Größe, Klarheit und Eindrucksfähigkeit ihrer Schöpfungen<lb/>
willen vieles von der ihnen erreichbaren Naturwahrheit aufgaben und sich somit<lb/>
wiederum dem einfachern Ideal der Vergangenheit näherten, ohne freilich voll¬<lb/>
kommen die gleiche Wirkung erreichen zu können wie die Alten."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_308"> Das heißt also mit andern Worten: der dekorative japanische Farbenholz¬<lb/>
schnitt entspricht einem ästhetischen Ideal, dem die großen Meister der euro¬<lb/>
päischen Malerei wohl nachgestrebt haben, dem sie aber nur in ihren monu¬<lb/>
mentalen Bildern, also z. B. Lionardo in seinem Abendmahl, Michelangelo in<lb/>
seinen sixtinischen Deckenbildern, Raffael in seineu Stanzenfresken nahe ge¬<lb/>
kommen sind. In ihren Tafelbildern dagegen &#x2014; und die Tafelmalerei kommt<lb/>
ja in der modernen Malerei fast allein in Betracht &#x2014; haben sie sich leider<lb/>
durch die naturalistische Tendenz von den wahren Zielen der Kunst ablenken<lb/>
lassen, und in dieser Beziehung muß unsre europäische Kunst eine neue Schule<lb/>
durchmachen, die Schule des dekorativen japanischen Farbenholzschnitts.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_309" next="#ID_310"> Ich weiß nicht, ob der Verfasser sich die Konsequenzen dieser Auffassung<lb/>
ganz klar gemacht hat. Wie mir scheint, führen sie mit Notwendigkeit dahin,<lb/>
daß man die ganze naturalistische Malerei, von den van Eycks bis zu Dürer<lb/>
und Rembrandt, von Masaccio bis zu Lionardo und Raffael für eine Ver-<lb/>
irrung, ihr Resultat für einen Rückschritt erklären muß. Denn das, was der<lb/>
japanische Fnrbenholzschnitt anstrebt, dekorative Flächenwirkung ohne Raum¬<lb/>
illusion, war ja schon vor diesen Meistern in vollem Maße vorhanden.<lb/>
Und das, worin sie über ihre Vorgänger hinausgekommen zu sein glaubten,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0099] Der japanische Farbenholzschuitt Vielmehr giebt unsre heutige Philosophie die Realität der Außenwelt durchweg zu und erkennt nur an, daß sich diese Außenwelt in verschiednen Köpfen ver¬ schieden male. Und gerade weil diese subjektive Auffassung eine verschiedne ist, wird unsre Ästhetik immer wieder zu der Überzeugung kommen, daß nur das objektiv gegebne ewig gleiche Wesen der Natur das gemeinsame Medium aller künstlerischen Bestrebungen, der feste Pol in der Erscheinungen Flucht sein kann, nicht eine beliebige individuelle, zeitlich und örtlich beschränkte Auf¬ fassung dieser objektiven Welt. Der Verfasser ist freilich andrer Ansicht: in der japanischen Kunst waren seiner Meinung nach „die Elemente vorgebildet, die in Europa im Ver¬ lauf einer jahrhundertelangen auf den Realismus gerichteten Entwick¬ lung fast ganz verloren gegangen waren. Aus der Charakterlosigkeit der mit dem Auge des Photographen erfaßten Umrißbilder der Gestalten konnte nur die Rückkehr zu einer durch dekorative Gesichtspunkte bestimmten Kompo¬ sitionsweise retten." Wird in der japanischen Malerei auch „eine Nachahmung der Natur, also eine volle Täuschung, eine Illusion, weder erstrebt, noch er¬ reicht, so steht für uns eine solche Kunst doch mindestens ebenso hoch da wie die der realistischen Periode, in der wir selbst leben; ja wir sehen, daß die größten Künstler dieser Neuzeit, ein Raffael, ein Michelangelo, ein Lionardo, wenn sie sich an die höchsten Aufgaben der raumschmückenden Kunst zu wagen hatten, um der Größe, Klarheit und Eindrucksfähigkeit ihrer Schöpfungen willen vieles von der ihnen erreichbaren Naturwahrheit aufgaben und sich somit wiederum dem einfachern Ideal der Vergangenheit näherten, ohne freilich voll¬ kommen die gleiche Wirkung erreichen zu können wie die Alten." Das heißt also mit andern Worten: der dekorative japanische Farbenholz¬ schnitt entspricht einem ästhetischen Ideal, dem die großen Meister der euro¬ päischen Malerei wohl nachgestrebt haben, dem sie aber nur in ihren monu¬ mentalen Bildern, also z. B. Lionardo in seinem Abendmahl, Michelangelo in seinen sixtinischen Deckenbildern, Raffael in seineu Stanzenfresken nahe ge¬ kommen sind. In ihren Tafelbildern dagegen — und die Tafelmalerei kommt ja in der modernen Malerei fast allein in Betracht — haben sie sich leider durch die naturalistische Tendenz von den wahren Zielen der Kunst ablenken lassen, und in dieser Beziehung muß unsre europäische Kunst eine neue Schule durchmachen, die Schule des dekorativen japanischen Farbenholzschnitts. Ich weiß nicht, ob der Verfasser sich die Konsequenzen dieser Auffassung ganz klar gemacht hat. Wie mir scheint, führen sie mit Notwendigkeit dahin, daß man die ganze naturalistische Malerei, von den van Eycks bis zu Dürer und Rembrandt, von Masaccio bis zu Lionardo und Raffael für eine Ver- irrung, ihr Resultat für einen Rückschritt erklären muß. Denn das, was der japanische Fnrbenholzschnitt anstrebt, dekorative Flächenwirkung ohne Raum¬ illusion, war ja schon vor diesen Meistern in vollem Maße vorhanden. Und das, worin sie über ihre Vorgänger hinausgekommen zu sein glaubten,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/99
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/99>, abgerufen am 01.09.2024.